Vom Umgang mit antiken Finsternisberichten ohne die Prämisse der traditionellen Mittelalterchronologie
von Jan Beaufort
Im Gästebuch der Seite Radikalkritik von Hermann Detering führt der Leser Dr. Wirth gegen die Fantomzeitthese ein Argument von Franz Krojer ins Feld. Weil das Gästebuch einer Webseite, die ganz anderen Themen gewidmet ist, für die hier zu führende Diskussion nicht der geeignete Ort ist, beantworte ich den Einwand an dieser Stelle.
Wirth schreibt:
ad Dr. Beaufort: Ohne mich in die ganze Problematik allzu tief einlassen zu wollen, stelle ich doch fest, daß die von Ihnen verlinkte Beantwortung (recte: der Versuch der Wiederlegung) von Krojers Thesen sich zwar auf sein Werk “Die Präzision der Präzession” bezieht (auf das ich mich meinerseits nicht bezogen habe), dafür aber auf einen sehr entscheidenden Passus des von mir zitierten Textes nicht eingeht, den ich kurz zitieren möchte: “Auch die von Theon von Alexandria überlieferte Sonnenfinsternis vom 16. Juni 364 n. Chr. ist zu detailliert beschrieben, als dass sie beliebig verschoben werden könnte. (Steele, Seite 103 f.) Theon berichtet, dass der Beginn und das Ende der Finsternis zwischen 14,83h und 16,50h lagen, die Finsternis somit 1,67h dauerte, während heutige Rückrechnungen zeigen, dass die Finsternis zwischen 15,25h und und 16,99h stattfand, also 1,74h dauerte. Die Kontaktzeiten zwischen “beobachtet” und “berechnet” differieren zwar um ca. eine halbe Stunde und könnten auf “falsch kalibrierte Uhren” zurückzuführen sein, aber die Zeitdifferenzen differieren nur um 1,74h-1,67h=0,07h bzw. 4 Minuten, was selbst eine spätere Berechnung, sofern sie nicht aus dem 20. Jahrhundert stammte, ausschließt.” Ich bin nun selbst keineswegs Astronom, aber soweit kenne ich mich mit den Gesetzen der Naturwissenschaften doch aus, daß ich dieses Argument als prinzipiell durchaus schlüssig bzw. ebenso schlüssig widerlegbar ansehe. Nun, die eindeutige Widerlegung, so sie möglich ist, wird nicht auf sich warten lassen, denke ich …
Zu diesem Einwand ist viel zu sagen. Da er ein sozusagen „typisches” Bedenken gegen Illig formuliert, das heißt einer Argumentationsstrategie folgt, die häufig von Fantomzeitskeptikern gewählt wird, soll er hier generell und exemplarisch beantwortet werden, weshalb die Antwort etwas länger ausfällt:
1. Zunächst einmal fällt auf, dass Dr. Wirth von “Widerlegungen” spricht, die “schlüssig” und “eindeutig” sein sollen, weil wir uns im Bereich der Astronomie bewegen, wo die “Gesetze der Naturwissenschaften” gelten. Wirth übernimmt damit die Sprache von Franz Krojer, der seinen oben zitierten Beitrag “Wie man mit Finsternissen Illig einfach widerlegt” getitelt hatte. Dazu ist allgemein zu bemerken, dass sich eine Diskussion über Theon von Alexandria nicht an erster Stelle im naturwissenschaftlichen, sondern im historischen Bereich bewegt. Theon war ein antiker Astronom und Mathematiker und lebte von ca. 335 bis ca. 405. Er gilt als letzter bekannter Bibliothekar der Bibliothek von Alexandria. Er schrieb unter anderem zwei (teilweise erhaltene) Kommentare zu Ptolemäus’ Almagest. Vom früheren der beiden Kommentare stammt die älteste Handschrift aus dem 9. Jahrhundert (O’Connor/Robertson). Über sein Leben wissen wir ein wenig durch die Suda, ein umfangreiches, im 10. Jahrhundert verfasstes byzantinisches Lexikon. Es geht hier also um eine Frage der historischen Astronomie. Das bedeutet nicht, dass keine “schlüssigen” Bestätigungen oder Widerlegungen möglich wären. “Eindeutig” ist im Bereich der Geschichtswissenschaft aber kaum etwas, historische Ereignisse und Gegebenheiten sind gewöhnlich aus mehreren Perspektiven deutbar.
2. Weiter ist festzuhalten, dass von einer “Widerlegung” der Illig-These erst dann die Rede sein kann, wenn alternative Deutungen, die den betreffenden Sachverhalt in Einklang mit der Fantomzeitthese bringen würden, ausgeschlossen werden können. Eine Alternative im speziellen Fall der Theon-Finsternis wäre etwa die Möglichkeit, dass 297 Jahre nach der von Theon beobachteten Sonnenfinsternis ebenfalls eine passende Sonnenfinsternis stattgefunden hat. Eine andere Möglichkeit wäre eine vom Erfinder der Fantomzeit vorgenommene Umdatierung der Person des Theon um 297 Jahre. (Siehe unten Punkt 8. In einer ersten Erwiderung auf Wirth im Detering-Gästebuch hatte ich auf den ZS-Beitrag Das Scheitern der Archäoastronomie hingewiesen. Dort greife ich Krojers – von ihm selbst ohne Begründung zurückgewiesene – Idee auf, dass Ptolemäus drei Jahrhunderte früher gelebt haben könnte und erst vom Urheber der Fantomzeit ins zweite nachchristliche Jahrhundert datiert worden wäre. Dasselbe ist aber für Theon bzw. für den Almagest-Kommentar des Theon denkbar.) Ebenso wäre sicher zu stellen, dass Theons Werk über den Almagest nicht – wie der Almagest selbst – nachfantomzeitlich überarbeitet wurde. (Schließlich sind alle antiken griechischen Handschriften durch die Mühle des so genannten Metacharakterismos gegangen: der großen Umschreibe-Aktion von Majuskeln auf Minuskeln, die unter Konstantin VII. Porphyrogennetos zum Abschluss gebracht wurde, vgl. die FAQ, Frage 17.) Nur deshalb, weil Theons Sonnenfinsternis in ungefährer Übereinstimmung mit der langen Mittelalterchronologie ist, ist sie also noch lange keine “Widerlegung” der Fantomzeitthese.
3. Generell ist zum Thema “Widerlegung” zu sagen, dass nicht jeder Sachverhalt, der mit der überlieferten Chronologie harmoniert, automatisch die Illig-These widerlegt. Das ist zwar eigentlich selbstverständlich, bleibt aber nicht selten unbeachtet und sei hier deshalb eigens betont. So sind zum Beispiel archäologische Funde, die in die Fantomzeit datiert werden, zwar im Einklang mit der langen Mittelalterchronologie. Aber zu einer “Widerlegung” Illigs reicht es erst, wenn gezeigt wird, dass sie nicht anders datiert werden können. Karolingische Artefakte sind erst dann zwingend karolingisch, wenn bewiesen ist, dass sie weder römisch noch ottonisch bzw. romanisch sein können. Solange dieser Beweis nicht geführt worden ist, kann der Gegenstand nachträglich und irrtümlich in die Fantomzeit datiert worden sein, mit anderen Worten: Es könnte sich um eine so genannte Karolingisierung handeln. Zu bedenken ist dabei, dass die Fundamente des überlieferten chronologischen Gebäudes seit Joseph Justus Scaliger (gest. 1609) und Dionysius Petavius (gest. 1652) nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt worden sind. Die empirischen Befunde aus sämtlichen Bereichen der historischen Hilfswissenschaften wurden also vor dem unhinterfragten Hintergrund dieser Chronologie gedeutet und begrifflich eingeordnet. Gibt es begründete Zweifel an der Scaliger-Petavius-Chronologie, ist von vorne anzufangen und die wissenschaftliche Arbeit von fast vier Jahrhunderten einer radikalen Prüfung zu unterziehen.
4. Zurück zu Theon und zur Übereinstimmung der von ihm angegebenen Uhrzeit der Sonnenfinsternis mit einer astronomischen Retrokalkulation, die Krojer in John M. Steeles Observations and Predictions of Eclipse Times by Early Astronomers gefunden hat. Man müsste sich diese Berechnung genauer anschauen (was Krojer nicht tut), um daraus Schlüsse ziehen zu können, denn astronomische Kalkulationen laufen über zahlreiche Parameter, die von unterschiedlichen Forschern unterschiedlich angesetzt werden. Problematisch bei der Berechnung der Uhrzeit in weiter zurückliegenden Zeiten ist auf jeden Fall die Veränderlichkeit von Delta-T, das heißt jenes Faktors, mit dem die so genannte Weltzeit (Universal Time = UT, auch Greenwich Mean Time) von der idealen, nicht durch Unregelmäßigkeiten der Erdrotation gestörten so genannten Terrestrial Dynamical Time (TDT, früher Ephemeridenzeit) abweicht. Die UT misst sich am Sonnentag, die TDT am Sonnenjahr. Weil Astronomen vermuten, dass sich die Erdrotation aufgrund von Gezeitenreibung allmählich verlangsamt, die Tage und Nächte über die Jahrhunderte also länger werden, muss bei astronomischen Rückrechnungen Delta-T berücksichtigt werden. Nun ist die Ephemeridenzeit erst 1960 verbindlich definiert worden, Delta-T wird also erst ab dieser Zeit jährlich festgestellt. Für frühere Zeiten muss Delta-T aus den entsprechenden Berichten und Aufzeichnungen erschlossen werden. Die hier wiedergegebene Tabelle mit historischen Werten von Delta-T, auf die unten noch zurück zu kommen ist, findet sich auf der von Fred Espenak versorgten NASA-Seite Historical Values of Delta-T.
Values of ΔT Derived from Historical Records | ||
Year | ΔT (seconds) |
Standard Error (seconds) |
-500 | 17190 | 430 |
-400 | 15530 | 390 |
-300 | 14080 | 360 |
-200 | 12790 | 330 |
-100 | 11640 | 290 |
0 | 10580 | 260 |
100 | 9600 | 240 |
200 | 8640 | 210 |
300 | 7680 | 180 |
400 | 6700 | 160 |
500 | 5710 | 140 |
600 | 4740 | 120 |
700 | 3810 | 100 |
800 | 2960 | 80 |
900 | 2200 | 70 |
1000 | 1570 | 55 |
1100 | 1090 | 40 |
1200 | 740 | 30 |
1300 | 490 | 20 |
1400 | 320 | 20 |
1500 | 200 | 20 |
1600 | 120 | 20 |
1700 | 9 | 5 |
1750 | 13 | 2 |
1800 | 14 | 1 |
1850 | 7 | <1 |
1900 | -3 | <1 |
1950 | 29 | <0.1 |
Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, dass Delta-T zur Zeit Theons schon ca. zwei Stunden (= 7200 Sekunden) betrug. Krojers Angaben machen nicht klar, welchen Wert für Delta-T sein Gewährsmann Steele eingesetzt hat.
5. Eins der vielen Probleme bei der Ermittlung von Delta-T ist das Fehlen von Himmelsbeobachtungen vor Beginn des Teleskop-Zeitalters um 1600, die halbwegs heutigen Standards entsprechen. Ein weiteres, für uns gewichtigeres Problem ist, dass Delta-T für länger zurück liegende historische Zeiten aus damals beobachteten Sonnen- und Mondfinsternissen erschlossen werden muss. Die korrekte Identifizierung jener Finsternisse ist aber streng genommen nur möglich, wenn Delta-T bereits bekannt ist (denn Delta-T beeinflusst nicht nur die Uhrzeit, sondern auch den Längengrad, also den Ort, an dem die jeweilige Finsternis zu beobachten ist). Zum Beispiel gibt es viele erfundenen Finsternisse (antike Biographien großer Persönlichkeiten wurden gerne mit fingierten Finsternisberichten geschmückt) und ist die Entscheidung darüber, ob eine Finsternis real war oder nicht, von der Übereinstimmung mit heutiger Retrokalkulation abhängig. Auch sind zahlreiche Finsternisberichte nur dadurch überhaupt datierbar, dass sie mit modernen Rückrechnungen abgeglichen werden. Es ist deutlich, dass hier überall die Gefahr eines Zirkelschlusses droht. Diese Gefahr wird umso größer, je unsicherer die Chronologie ist, die den Rückrechnungen zugrunde liegt. Der Astronom F. Richard Stephenson, der die bis jetzt gründlichste Studie über den historischen Verlauf von Delta-T vorgelegt hat (Historical Eclipses and Earth Rotation, Cambridge 1997), sieht zwar das Problem der Zirkelschlüsse, stellt aber nicht die überlieferte Chronologie in Frage und erkennt somit nicht die ganze Tragweite des Problems.
6. Die Delta-T-Werte der obigen Tabelle sind den Forschungen von Stephenson entnommen. Sie zeigen eine Merkwürdigkeit, die hier kurz anzusprechen ist. Die Veränderung von Delta-T verläuft unregelmäßig: Zwischen den Jahren 1600 und 1500 vergrößert sich – von heute aus rückblickend – Delta-T um 80 Sekunden, dann sind es der Reihe nach 120, 170, 250, 350 und 480 Sekunden und schließlich beträgt die Veränderung von Delta-T zwischen den Jahren 1000 und 900 nicht weniger als 630 Sekunden. Jedes Jahrhundert hat Delta-T also um Beträge zugenommen, die selbst zusehends größer werden. Vom Jahr 900 an rückwärts beginnt sich diese Zunahme langsam abzuflachen, vom Jahr 700 an rückwärts folgen sogar sieben Jahrhunderte, in denen die Veränderung von Delta-T sich annähernd gleich bleibt: Jedes Jahrhundert nimmt Delta-T um einen Betrag von ca. 960 Sekunden zu. Danach wird die Veränderung von Delta-T wieder regelmäßig größer. Statt einer Parabel mit einer regelmäßig wachsenden Veränderung von Delta-T sehen wir also eine Kurve, die zwischen den Jahren 700 und 0 praktisch gerade verläuft. Stephenson zeigt in den Grafiken 14.1 und 14.2 auf Seite 504 von Historical Eclipses den Verlauf der erwarteten Parabel und die Abweichung der tatsächlich gemessenen Werte. Figur 14.7 auf Seite 514 visualisiert die Konsequenz dieser Abweichung für die anzunehmende Veränderung der Erdrotation bzw. der Tageslänge (LOD, Length of Day) im Laufe der Zeit. Wenn die Werte für Delta-T stimmen sollten, hätte sich die Tageslänge zwischen den Jahren 0 und 700 überhaupt nicht verändert! Die Verlangsamung der Erdrotation hätte sieben Jahrhunderte lang ausgesetzt. Ein solches Ergebnis (so wie auch ein weiterer, unter Punkt 7 zu besprechender Umstand) lässt an der chronologischen Einordnung der antiken Finsternisse zweifeln. Stephenson tut das nicht, sondern sucht nach anderen Ursachen für die gefundene Anomalie. Wie die Grafik zeigt, laufen die Gerade der aufgrund von Gezeitenreibung (Tidal friction) zu erwartenden Werte und die Gerade der Mittelwerte aus den Beobachtungen (Average) schon im Mittelalter um 300 Jahre auseinander.
7. Wie steht es um die Überlieferung der Theon-Finsternis? Stephenson schreibt (ebd. S. 335), dass die Theon-Finsternis die einzige Sonnenfinsternis des antiken Europa ist, bei der Beginn und Ende der Finsternis genau aufgezeichnet wurden. Bis zum 14. Jahrhundert (!) gibt es keine weiteren Beispiele („Careful timings of the contacts for only a single solar eclipse – dating from AD 364 – are extant from ancient Europe, and indeed there are no further examples from this part of the world until as late as the fourteenth century”). Gut zu sehen ist das in Grafik 14.2 (Historical Eclipses, S. 504), die zeigt, dass es zwischen den Jahren 0 und 800 neben einigen verwertbaren griechischen Mondfinsternissen nur noch chinesische Beobachtungen gibt. (Auch an der Verlässlichkeit der chinesischen Chronologie zweifelt Stephenson nicht. Dabei steht sie auf tönernen Füßen – vgl. die Literatur über China in Andreas Ottes Auflistung Fantomzeit weltweit.) Diese Sonderstellung der Theon-Finsternis macht natürlich hellhörig. Wenn dann zugleich viel darauf hinweist, dass die Chronologie im Argen liegt und bedeutend zu kürzen wäre, ist an eine Verschiebung der Finsternisbeobachtungen vor Theon um mehrere Jahrhunderte zu denken. Nicht auszuschließen ist, dass eine solche Verschiebung am Ende zur Übereinstimmung zwischen erwarteter und resultierender Delta-T-Kurve führen könnte.
8. Eine mögliche Lösung der Probleme, vor die uns die Theon-Finsternis stellt, wäre die Annahme, dass die Mittelalterchronologie zwar künstlich verlängert worden ist, aber Theons Finsternis dort belassen wurde, wo sie schon vorher war, also im jetzigen Jahr 364 bzw. im Jahr 1586 BP (wobei als Nullpunkt der Before Present-Zählung das Jahr 1950 angenommen wird). Vergleichbares könnte mit dem Almagest passiert sein (siehe oben Punkt 1). Vor der künstlichen Zeitverlängerung, die etwa die Caesar-Augustus-Epoche um 297 Jahre rückwärts verschoben hat, war die Sonnenfinsternis also ins Jahr 53 nach dem Tod von Kaiser Augustus zu datieren. Das passt auch besser zur heute üblichen Auffassung über das Ende der Bibliothek von Alexandria. Diese wurde im Jahr 272 u. Z. bei Kämpfen zwischen Kaiser Aurelian und Zenobia von Palmyra endgültig zerstört (vgl. etwa den Exkurs über die Bibliothek auf der Homepage der UB Bern). Ein Theon von Alexandria kann also nicht 100 Jahre später noch Bibliothekar ebendieser Bibliothek gewesen sein. Dazu kommt, dass die Suda einen Theon von Alexandria kennt, der Zeitgenosse von Kaiser Augustus war und einen naturphilosophischen Kommentar verfasst hat. Ohnehin wissen wir über Theons Leben nur etwas durch die Suda. Schließlich ist zu bedenken, dass Theons Erzählung dem Stil der Finsternisberichte im Almagest folgt (vgl. Stephenson, S. 364: „This account follows very much the style of the eclipse records in the Almagest itself”). Nun ist der Almagest allem Anschein nach im 10. Jahrhundert stark überarbeitet und den Gegebenheiten der verlängerten Mittelalterchronologie angepasst worden (vgl. Beaufort (2001) und Illig/Beaufort/Heinsohn (2003)). Mit Theons Werk könnte eine entsprechende Manipulation vorgenommen worden sein. Wer solche Manipulationen für unwahrscheinlich hält, sollte sich näher mit dem Phänomen des exzessiv betriebenen mittelalterlichen Fälschens befassen (siehe FAQ, Frage 30 und passim). Eine Vermutung über das Motiv zur Erfindung der mittelalterlichen Fantomzeit habe ich im Beitrag Wer erfindet historische Zeit? formuliert.
Fazit
Insgesamt sieht die Argumentationslage in Bezug auf Theons Sonnenfinsternis demnach so aus, dass diese zwar nach aktuellen Rückrechnungen gut zur traditionellen Mittelalterchronologie passt. Werden aber die Probleme, mit denen jene Berechnungen behaftet sind, mitberücksichtigt, ist nach anderen Lösungen zu suchen. Eine mit der Fantomzeitthese kompatible Alternative wurde unter Punkt 8 vorgestellt. Sie beweist, dass die Illig-These durch die Sonnenfinsternis von Theon keineswegs widerlegt wird. Im Gegenteil öffnet die Fantomzeitthese einen Weg zur Lösung der genannten Probleme (insbesondere des seltsamen Verlaufs von Stephensons LOD-Kurve). Nimmt man die vielen anderen Bereiche hinzu, in denen sich die Illig-These inzwischen bewährt hat, spricht momentan mehr für die hier vorgeschlagene Lösung als für die traditionelle Chronologie.
Literatur
Beaufort, Jan (2001): Die Fälschung des Almagest. Versuch einer Ehrenrettung des Claudius Ptolemäus. In: ZS 4/2001, 590-615 u. 1/2002, 32-48
Beaufort, Jan (2007): Wer erfindet historische Zeit? In: ZS 2/2007, 317-332
Beaufort, Jan (2009): Dreißig Fragen zur Fantomzeittheorie
Detering, Hermann (2009): Radikalkritik. Beiträge zur radikalen Kritik der frühchristlichen Geschichte. Gästebuch
Espenak, Fred (2004): NASA Eclipse Website. Historical Values of Delta-T
Illig, Heribert (2000): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden. München
Illig, Heribert / Beaufort, Jan / Heinsohn, Gunnar (2003): Das Scheitern der Archäoastronomie. In: ZS 3/2003, 478-517
Krojer, Franz (2004): Wie man mit Finsternissen Illig einfach widerlegt
Krojer, Franz (2003): Die Präzision der Präzession. Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht. Mit einem Beitrag von Thomas Schmidt. München
Kunitzsch, Paul (1974): Der Almagest. Die Syntaxis Mathematica des Claudius Ptolemäus in arabisch-lateinischer Überlieferung. Wiesbaden
Kunitzsch, Paul (1975): Ibn as-Salah: Zur Kritik der Koordinatenüberlieferung im Sternkatalog des Almagest. Göttingen
O’Connor, J. J. / Robertson, E. F. (1999): Theon of Alexandria
Otte, Andreas (2008): Fantomzeit weltweit
Stephenson, F. Richard (1997): Historical Eclipses and Earth Rotation. Cambridge
Universitätsbibliothek Bern (2007): Exkurs: Die Bibliothek von Alexandria (Museion)
Whitehead, David u. a. (Hg.) (2009): Suda On Line: Byzantine Lexicography
mich würde interessieren, in welchen bereichen sich illigs these bisher bewährt hat.
Im Szientologen-Lexikon Eso-Watch ist zu lesen:
In der szientologischen Weltsicht ist Illigs These ein so genanntes “irrationales Überzeugungssystem” (EsoWatch, Hauptseite).
Wer die Welt aus dieser ein wenig eingeschränkten Perspektive sieht, wird selbstverständlich nicht der Meinung sein, dass sich Illigs These in welchem Bereich auch immer bewährt hätte.
Wer sich hingegen von den Szientologen nicht einfangen lässt, könnte mit den Vertretern der Illig-These zur Überzeugung gelangen, dass die These eine elegante Lösung für sämtliche Bereiche anbietet, in denen das “dunkle” Frühmittelalter die Forschung mit Fund- und Überlieferungslücken nervt und zu extrem widersprüchlichen Deutungen Anlass gibt. Dazu gehören etwa die Archäologie, die Kunstgeschichte, die Architekturgeschichte, die Stadt- und Siedlungsgeschichte, die Musikgeschichte, die Technikgeschichte und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Weiter die Geschichte einzelner Länder und Regionen, wie sie im oben zitierten Beitrag Phantomzeit weltweit von Andreas Otte aufgezählt werden.
Davon abgesehen hat die Fantomzeitthese einen geradezu atemberaubenden heuristischen Wert. In welchem Bereich auch immer man die Frühmittelhistorie im Lichte der These unter die Lupe nimmt, finden sich bisher nicht oder kaum beachtete Lücken und Widersprüche. Ein schönes Beispiel bringt Gunnar Heinsohn in seinem neuen ZS-Artikel Italien bis zum Stiefelabsatz: Das Salento ohne Frühmittelalter.
Die Antwort ist mir dann doch ein wenig zu pauschal. Die Überlieferungslücken sind in meinen Augen zum einen gar nicht so groß, und zum anderen auch in hinsicht auf illigs these völlig irrelevant, da jede überlieferung schließlich zufällig erfolgt (so habe ich es jedenfalls vor vielen jahren mal gelernt, und mir erscheint dies bis heute nur zu logisch), so daß eine dünne fundlage keinen anlaß gibt, am gültigen geschichtsbild zu zweifeln. Deshalb sind alle argumentationen, die auf der im illigschen sinne häufigkeit von funden basieren hinfällig. Deshalb kenne ich auch keinen historiker, der durch „fundlücken“ und „widersprüchliche“ überlieferungen genervt wäre.
Außerdem braucht die FZT selber jede menge bisher unbelegbare hypothesen, um überhaupt sinnvoll sein zu können. Angefangen bei der umdatierung von archäologischen funden und mittelalterlichen handschriften, einer unmenge an fälschungen, einigen tausend geheimisträgern, mehr oder weniger böswilligen fälschungsaktionen, die man byzantinischen und römischen Kaisern unterstellen muß, bis hin zu biographischen verdoppelungen, die alle samt nicht einmal im ansatz bewiesen werden können. So viele probleme löst die FZT meiner meinung nach also gar nicht, da sie selber jede menge davon produziert.
Redlicher weise kann man also nur davon sprechen, daß die FZT ein interessantes kleines gedankenspiel ist. Eine these wird sie nur dann, wenn man einen wust von vorhypothesen und prämissen auffährt.
Dr. Wirth hat inzwischen im Gästebuch von Radikalkritik auf meinen Beitrag geantwortet:
Dazu sei vorab gesagt, dass ich Wirth selbstverständlich nicht “bös'” bin. Im Gegenteil ist jedes ehrlich gemeinte Bedenken eine willkommene Gelegenheit, die eigene Position zu überprüfen. (Wir Fantomzeitler sehen uns nicht selten Reaktionen ganz anderer Art ausgesetzt. Da wird es dann schon schwieriger, gelassen zu bleiben …)
Im Folgenden konzentriere ich mich auf die zweite von Wirth angesprochene Möglichkeit, weil ich sie für die wahrscheinlichere halte. Allerdings bin ich der Ansicht, dass die Berechnung antiker Finsternisse bei weitem nicht so einfach ist, wie Wirth meint. Vor allem die Mondbewegung ist extrem schwer auszurechnen – siehe z. B. Illig/Reinhard, Zwischen Erde und Mond. Zahlen- und Messprobleme, in ZS 3/07, 767-779. Weiter sind neuere Entwicklungen in der Astronomie zu beachten, die gegenwärtige Rückrechnungen schon bald obsolet machen könnten: siehe für weiterführende Links den Beitrag SoFis im elektrischen Universum.
Aber jetzt zum Hauptpunkt meiner Erwiderung. Dass ich die zweite von Wirth genannte Möglichkeit vorziehe, hatte ich schon im obigen Beitrag geschrieben (siehe dort den Punkt 8). Ich möchte Dr. Wirth einmal zurück fragen, woher wir denn seiner Meinung nach heute so genau wissen, in welchem Jahr Theon von Alexandrien seine Sonnenfinsternis beobachtet hat? Das ist eine Frage, die wenig mit Astronomie und alles mit historischer Überlieferung zu tun hat. So weit ich sehe, sind wir für eine Antwort auf zwei Quellen angewiesen: auf die Beschreibung der Sonnenfinsternis durch Theon, die das 1112. Jahr des Nabonassar nennt (Stephenson, S. 364), und auf die Suda, die erst im 10. Jahrhundert verfasst wurde. Die Suda wird die Sekundärquelle sein; sie wird die Jahresangabe des Theon auf die lange Chronologie umgerechnet haben. Entsprechend musste Theon von Alexandria – wie im obigen Beitrag erläutert – ins 4. Jahrhundert datiert werden. Dass er dort nicht hingehört, weil seine Bibliothek schon 100 Jahre früher endgültig in Flammen aufging, erwähnte ich bereits. Dass die Suda einen Theon von Alexandrien kennt, der drei Jahrhunderte früher lebte, schrieb ich ebenfalls.
Auf einen weiteren Widerspruch in der Suda weisen John O’Connor und Edmund Robertson auf dieser Seite hin: Die Suda nennt den Geometer Pappus von Alexandria einen Zeitgenossen des Theon. Theon selbst datiert Pappus aber ein Jahrhundert früher in die Zeit des Diokletian. Die Autoren zu diesem Widerspruch: “Clearly both of these cannot be correct …”. Da nun wiederum Pappus eine Sonnenfinsternis beobachtet hat, die sich nach heutiger Rückrechnung am 18. Oktober 320 ereignet haben soll, meinen O’Connors und Robertson, dass weder die Suda noch Theon Recht haben und dass Pappus um das Jahr 320 geschrieben haben muss!
Hier liegt also ein klarer Widerspruch zwischen heutiger Rückrechnung und den antiken Quellen vor. O’Connor und Robertson lösen dieses Problem, indem sie die Angaben der alten Quellen schlicht für falsch erklären und weiter keinen Gedanken mehr daran verschwenden, wie die nun wirklich sehr groben Fehler zustande gekommen sein könnten. Es ist deutlich, dass die Fantomzeittheorie zu diesen Vorgängen sehr viel mehr zu sagen hat.
Für Dr. Wirth ist es nicht vorstellbar, dass die Suda im Rahmen oder auf der Grundlage einer absichtlichen Zeitfälschungsaktion entstanden sein könnte. Man müsste also, um hier in der Diskussion weiter zu kommen, über die Bedingungen reden, unter denen im Byzanz des 10. Jahrhunderts Geschichte geschrieben und Lexika verfasst wurden. Das aber ist eine genuin historische Aufgabe, die sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht mehr lösen lässt.
Die Frage war ja auch sehr allgemein gestellt! Wir können beliebig ins Einzelne gehen.
Mich würde interessieren, von wem die Theorie stammt, dass jede Überlieferung zufällig sei. (Ich erinnere mich vage, das auch einmal gelernt zu haben …) So ohne weiteres will sie mir noch nicht einleuchten.
Ich kenne sogar einige Historiker, die zu Illig-Anhängern geworden sind …
Es gibt wohl mehrere Möglichkeiten, Geschichtswissenschaft zu betreiben. Wer es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Tradition zu bewahren, wird deren Widersprüche großzügig übergehen. Wer eher an Rekonstruktionen interessiert ist, wird in den Widersprüchen nützliche Hinweise sehen. (Ein gutes Beispiel findet sich in der obigen Antwort an Dr. Wirth in Kommentar 4.)
Die “Unmenge von Fälschungen” sind aber nicht von Illig erfunden worden. Vielmehr hat Illig eine schöne Erklärung für dieses Phänomen. Die gerade Ihnen als Historiker nur allzu bekannten mittelalterlichen “Fälschungen über Fälschungen” (Horst Fuhrmann) setzen zu ihrer Entstehung in der Tat auch “einige tausend Geheimisträger” und “mehr oder weniger böswillige Fälschungsaktionen” voraus. Illig bewegt sich hier doch ganz im Rahmen bisheriger Mediävistik. Weiter wurde die “Umdatierung von Handschriften” im Sinne von rückdatierter Pseudepigraphie im Mittelalter selbst massenhaft betrieben. Wir Fantomzeitler machen das alles bei unseren Versuchen, richtig zu datieren, nur rückgängig.
Die Fantomzeitthese geht über das im Bereich Fälschungen und Pseudepigraphien längst Bekannte nur vergleichsweise wenig hinaus: Arno Borst hat ja gemeint, dass es sich um ca. 7000 karolingische Handschriften handelt. Und was die fälschenden Kaiser angeht: Zumindest der Byzantiner Konstantin VII. hatte sich offenbar ausgezeichnete Möglichkeiten geschaffen, Geschichte in seinem Sinn umzuschreiben.
Sub specie aeternitatis handelt es sich bei der Fantomzeitthese natürlich ebenso um ein interessantes kleines Gedankenspiel wie bei der Mediävistik oder der Wissenschaft überhaupt. Nehmen wir in der Wissenschaft einen bestimmten Bereich etwas genauer unter die Lupe, erscheint er allerdings entsprechend vergrößert. Die spannende Frage bleibt doch, ob sich irgendwann irgendwie klären lässt, welche Mittelalterchronologie die richtige ist: die traditionelle lange oder die Illigsche kurze.
Die Fantomzeitthese formulierte ursprünglich nur einen Verdacht. Es waren die sehr bald überall entdeckten Bestätigungen und eine bis jetzt ausgebliebene stringente Widerlegung, die dazu ermutigten, dem Verdacht weiterhin nachzugehen. Siehe zur Entstehung der These etwa den Beitrag de.wikipedia.org: Erfundenes Mittelalter.
Daß die Überlieferung zufällig erfolgt, halte ich nur für logisch. Nichts kann aus eigener Absicht überliefert werden. Selbst bei Gegenständen (z.Bsp. Denkmäler, Grabsteine, Epitaphen ect.) oder Texten (Chroniken, Verbrüderungsbücher, Nekrologien, Viten, Briefsammlungen, Kopialbücher u.v.m.) die mit der Absicht der Tradierung von Geschichte entstanden, werden aber dennoch nur dann auch wirklich überliefert (oder besser: erhalten), wenn der Zufall das will. Gebäude werden zufällig nicht zerstört, Chroniken verbrennen nur zufällig nicht in Klosterbränden, Urkunden werden nur zufällig nicht vernichtet, nachdem sie nicht mehr aktuell und brauchbar waren, oder zum polstern von Buchrücken verwendet. (Ein Schicksal, das vielen Urkunden wiederfuhr, was für uns heute aber ein Vorteil ist, denn auf diese Weise wurden sie unabsichtlich und zufällig doch überliefert, und kommen bei der Restaurierung so manchen alten Kodexes wieder ans Tageslicht!). Auch die Überreste werden nur zufällig gefunden. Selbst wenn man Stellen kennt, an denen man Überreste vermutet (etwa in Kalkriese), ist deren Auffindung jedoch ebenfalls sehr vom Zufall abhängig. Ganz zu schweigen von den Orten, wo nichts konkretes vermutet wird. Die Tatsache, daß etwas bis jetzt nicht gefunden wurde, beweist also nicht, daß es dieses etwas nicht gegeben haben könne.
Und darum ist Illigs Argumentation mit der von ihm festgestellten „Fundleere“ schlicht nicht stichhaltig, sondern völlig unsinnig. Und die FZT Verliert damit m.E. einen großen Teil des Bodens, auf dem sie steht.
Theoretisch hat dies offensichtlich mal Arnold Esch beschrieben. (Historische Zeitschrift, 1985. Ich selbst kenne den zwar nicht, hab ihn aber in der Versionsgeschichte des Wikipedia Artikels gefunden.)
Weiterhin glaube ich nicht, daß die Geschichtswissenschaft ihre Aufgabe darin sieht, allein Traditionen zu bewahren. Dazu hat es schon zuviele Paradigmenwechsel gegeben und auch bekannte Quellen werden immer wieder neu interpretiert. Das Aß der Fortschrittlichkeit, welches die Chronologiekritik gern gegen die Wissenschaft zückt, sticht folglich nicht.
Daß Illig die Fälschungen nicht erfunden hat, ist klar, niemand hat das behauptet. Allerdings ist es nicht ganz korrekt, wenn man der Wissenschaft vorwirft, sie würde diese Tatsache der massenhaften Fälschungen nicht eroieren. Hingegen finde ich den Einwand, den ich im Wiki gefunden habe, wonach viele gefälschte Urkunden einen authentischen Kern haben, man den Begriff der „Fälschung“ als differenzierter betrachten muß, recht einleuchtend, da mir selber ein solcher Fall neulich in Osnabrück begegnete. (Im Forum hab ich davon geschrieben). Und daß Konstantin sich vielleicht die Möglichkeit geschaffen hat, Geschichte umzuschreiben, belegt nicht, daß die FZT stichhaltig wäre. Es wäre bestenfalls ein Indiz dafür, daß es nicht völlig unmöglich gewesen wäre, dem dann aber immer noch eine Menge von weiteren Einwänden gegenüber steht.
Daß mit dem Gedankenspiel nehmen Sie mir bitte nicht übel, aber mehr kann ich in Illigs These nun einmal nicht sehen. Und einen gewichtigen Unterschied zu der gültigen Chronologie sehe ich schon: Es gibt keinen positiven Beleg für Illigs These. Ich mache gleich die Einschränkung, daß auch der vielleicht nur noch nicht gefunden wurde. Doch hier geht es um Wahrscheinlichkeiten, und solange der nicht gefunden wird, stehen die vielen Positivbelege für die gültige Chronologie im Raum. Und die legen die Existenz des großen Karls und seiner Zeitgenossen nahe. Und die Existenz dieser Positivbelege wird nicht einmal Heribert Illig leugnen.
Und auch, wenn es eine endgültige Widerlegung der These nicht gibt (ich frage mich auch, wie der aussehen sollte, schließlich arbeitet die Geschichtswissenschaft nicht positivistisch, sondern auf der Basis von Vermutungen und Interpretationen), so finde ich die auf der Wikipedia vorgebrachten Einwände recht schwerwiegend.
Wie gesagt: es bleibt ein Gedankenspiel ……..
Zu Laitein1, Kommentar 6:
Danke für den Hinweis auf Arnold Esch und die Begriffe Überlieferungschance und Überlieferungszufall. Die auf fantomzeit.de gelegentlich formulierte Wikipedia-Kritik soll natürlich nicht vergessen machen, dass das Lexikon oft genug außerordentlich brauchbar ist. Wichtig die Warnung von Esch vor “unreflektierten statistischen Auswertungen und ahistorischen quantitativen Modellen”.
Ob allerdings römische Rechtskultur in den keltisch-germanisch besiedelten Gebieten bruchlos weiter bestand und im juristischen Bereich mehr verschriftlicht wurde als Eigentums-/Besitzurkunden (wie aus Eschs These hervor zu gehen scheint)? Sie schrieben ja schon im Forum, dass das mittelalterliche Recht eher Gewohnheitsrecht war. Wenn irgendwo Kontinuität von schriftlichen Rechtsformen, dann am ehesten in Italien – wie auch der Artikel Überlieferungschance nahe legt. Dagegen war das Urkundenwesen im oströmischen Reich bzw. in Byzanz allem Anschein nach hoch entwickelt. Dass gerade die Kirche sich des Mittels der urkundlichen Bezeugung von Besitz/Eigentum bediente, dürfte wohl kein (Überlieferungs-)Zufall sein.
Ich wollte übrigens nicht behauptet haben, dass es der Geschichtswissenschaft nur darum ginge, Traditionen zu bewahren. Die Unterscheidung von Traditionsbewahrung und Rekonstruktion verläuft m. A. n. quer durch die Geschichtswissenschaft. Es sind zwei wichtige Aufgaben, die sich allerdings manchmal gegenseitig ein bisschen im Wege stehen. Auch dass Historiker das Fälschungsthema ignorieren würden, habe ich nicht gesagt: ganz im Gegenteil! Ich denke zum Beispiel an alte Bekannte wie Klaus Arnold oder Karl Brandi. Illig greift hier nur auf Erkenntnisse zurück, die andere erarbeitet haben (wie ich auch schrieb). Es war ja der große Fälschungskongress der MGH im Jahr 1986, der zum Auslöser für die Entwicklung der Illig-These wurde.
Mit dem “interessanten kleinen Gedankenspiel” schließlich kann ich gut leben. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Ein Kollege, der sich intensiv mit der Philosophie des Mittelalters befasst, hat sie zwischenzeitlich mal gewechselt: Anfänglich meinte er mir gegenüber, wenn Illig Recht hätte, dann hätten wir mit Konstantin VII. Porphyrogennetos den deus malignus des René Descartes gefunden. Ein Jahr später meinte er dann allerdings, die Fantomzeitthese sei philosophisch irrelevant, es handle sich letztendlich nur um eine empirische Frage.
“welche Mittelalterchronologie die richtige ist:
die traditionelle lange oder die Illigsche kurze”
An dieser Stelle sei der höfliche Hinweis erlaubt,
dass es in Deutschland Forscher gibt
(die bei “Illigs” gern ausgeblendet werden), die die “Phantomzeitthese” für inkonsequent und unzureichend halten.
Als dritte Möglichkeit sollten auch Freunde der Phantomzeitthese
die der weiteren Verkürzung der christlichen Ära in Betracht ziehen.
Danke für den Hinweis. Allerdings steht dem unserer Meinung zwar nicht die Urkundenfrage entgegen (Fälschungen gab und gibt es auch aus und für andere Zeiten), wohl aber die Archäologie, siehe z.B. den Beitrag Stratigraphische Kontrolle von Zeitkürzungen.
Mit Fomenko hat mein Einwand wenig zu tun.
Ich habe Fomenkos Werke nie gelesen.
Bei ehrlicher Betrachtung reicht der archäologische Befund in den nichtrömischen Städten nördlich der Alpen ebenso wie der Bestand der Verwaltungsakten nirgends weiter als ins 15. Jahrhundert (wenn überhaupt), obwohl der Urkundenbefund bis ins 12 oder gar 10. Jahrhundert geht.
Ich wüsste gern einen oder mehrere archäologische Befunde, der/die ernsthaft gegen die Annahme sprechen würde/n, dass die spätrömischen Jahrhunderte (2.-5.) mit dem 13.- 15. Jahrhundert zusammenfallen.
Der Westbau von St. Georg in Köln kann doch problemlos an den Anfang des 16. Jahrhunderts gesetzt werden, da hat die Wasserleitung mehrere 100 Jahre, um den Sinter anzusetzen.
Ich sehe aber gewichtige Gründe, die für die Annahme sprechen, dass die spätrömischen Jahrhunderte mit dem 13.- 15. Jahrhundert zusammenfallen.
Insbesondere ist hier die allgegenwärtige – gleichwohl wissenschaftlich unaufbereitete – Baustruktur der Städte zu nennen, die nicht nur in krassester Weise dem 1. Kapitel des Briefs an die Römer widerspricht, sondern deren Ideengehalt klarer Ausdruck spätrömischen synkretistischen Denkens ist.
Ich habe das hier mal am 08.02.2008 am Beispiel der Stadt Danzig gezeigt: die kritische Auseinandersetzung der Phantomzeitanhänger blieb aber aus.
Das könnte ein Fehler sein.
@haj:
Auf Ihren Vorschlag antworte ich im Forum im neuen Thread Gar kein Mittelalter?
im Forum im neuen Thread “Gar kein Mittelalter?”
– nun, dort wird er schmoren, bis zum seligen Vergessen…
Man wird sehen, warum sollte der Ansatz nicht von irgendjemandem aufgegriffen werden? Allerdings erscheint er relativ ungewöhnlich, die meisten Leser werden Schwierigkeiten haben, ihn einzuordnen. Ich vermute, dass das der Grund für die bisherige Zurückhaltung bei der Beantwortung ist.
[…] Zeit unabhängig von den Störungen durch die unstete Erdrotation zu messen (siehe auch den Beitrag Eine Sonnenfinsternis des Theon von Alexandria, Punkt 4). AKPC_IDS += "2453,"; Dieser Beitrag wurde eingestellt unter Fundsachen, […]
Winziges Problem…
“the 1112th year from the reign of Nabonassar”
NICHT AD 364, sondern 365 AD…
@TURUL:
Wohl kaum! Zwar beginnt die Ära Nabonassar im Jahre 747 v. Chr. am 26. Februar. Aber Ptolemäus rechnete wohl noch mit alten ägyptischen Jahren von 365 Tagen ohne Schaltjahr (vgl. FAQ, Frage 3). Das 1112. Jahr der Ära Nabonassar ist demnach das Jahr 364 AD.
Ähnlich verhält es sich bei dieser von Pappus beobachteten Finsternis: “However, a real date comes from the dating of a solar eclipse mentioned by Pappus himself, when in his commentary on the Almagest he calculates ‘the place and time of conjunction which gave rise to the eclipse in Tybi in 1068 after Nabonassar’. This works out as October 18, 320 AD, and so we can finally say that Pappus flourished c. 320 AD.” (Wikipedia)
[…] mit einem Delta-T, das der langen Mittelalterchronologie zuliebe einen unerklärten Sprung macht (Beaufort). Aber der Zeitfluss ist nun mal kein wirklicher Fluss, der sich immer wieder nachmessen lässt. […]
[…] Beaufort, Jan: Eine Sonnenfinsternis Theons von Alexandria. Vom Umgang mit antiken Finsternisberichten […]
[…] (2009): Eine Sonnenfinsternis des Theon von Alexandria; eingestellt am 4.10. auf […]