von Martin Ebner (erschienen am 7. Juli 2000 im “Letzebuerger Land”)
Wir leben nicht im Jahr 2000, sondern erst im Jahr 1703, meint der Historiker Heribert Illig: Das frühe Mittelalter habe es nie gegeben, Karl der Große sei nur eine nette Legende. Die Mediävisten tun sich mit dieser Provokation erstaunlich schwer.
An Karl dem Großen führt dieses Jahr kein Weg vorbei: Von York bis Barcelona wird sein 1200-jähriges Krönungsjubiläum mit Ausstellungen, Briefmarken und Büchern gefeiert. Im prächtigen Krönungssaal des gotischen Aachener Rathauses wurde aus diesem Anlass die Schau “Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos” eröffnet. In den Jubel wollen jedoch nicht alle einstimmen: “Ausgerechnet ein Kaiser, der in 46 Regierungsjahren 44 Kriege geführt und Europa mit Massenmord geeint haben soll, wird als ‘Vaters Europas’ gefeiert”, motzt Heribert Illig, ein promovierter Historiker aus München. Einmal ganz abgesehen davon, dass dieser Herrscher in Wirklichkeit gar nie existiert habe. Das Frühmittelalter von 614 bis 911 sei nämlich eine “Erfindung”. Karl sei genauso fiktiv wie sein Kontrahent Harun al-Raschid, meint Illig: “Zusammen mit ihnen müssen etliche Dynastien in allen europäischen Ländern, fast 25 byzantinische Kaiser und mehr als 50 Päpste die Geschichte verlassen. Natürlich bleiben die geistigen Leistungen jener Zeit erhalten, doch bekommen sie neue Urheber aus späteren Jahrhunderten.”
Zu dieser aberwitzigen Theorie ist Heribert Illig eher zufällig gekommen. Er hatte von den “antizipatorischen” Fälschungen des Mittelalters gelesen: Wenn man den Forschern glauben soll, dann haben damals Mönche Urkunden gefälscht, die erst Jahrhunderte später verwendet wurden – sozusagen Fälschungen auf Vorrat. “Kann das sein?” fragte sich Illig. “Oder stimmt etwas mit der Chronologie nicht?” Er rechnete die Kalenderkorrektur des Jahres 1582 nach.
Der von Cäsar eingeführte Kalender weicht jedes Jahr 614 Sekunden von der Himmelszeit ab. 1582 hätte man daher den Kalender um 12 oder 13 Tage korrigieren müssen. Papst Gregor XIII. ließ damals bei der Reform aber nur 10 Tage streichen. “Wenn da alles gestimmt hätte, hätte ich darüber nie mehr nachgedacht”, sagt Illig. So aber ließ ihn die Sache nicht mehr los. Er gab seinen Beruf als Systemanalytiker einer Bank auf, um sich ganz der Chronologie zu widmen.
Seine Forschungsergebnisse präsentiert Illig in seiner mit ein paar Mitstreitern herausgegebenen Zeitschrift “Zeitensprünge”. Die ist zwar winzig – dafür sind seine Bücher “Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte” und “Wer hat an der Uhr gedreht?” Bestseller. Zumindest ist eine Auflage von mehr als 60.000 für historische Themen nicht schlecht.
Die Reaktion der Fachwissenschaftler ist eindeutig: “Die Thesen sind abstrus. An dieser Diskussion werde ich mich nicht beteiligen”, erklärt der Bonner Mediävist Theo Kölzer. Die Tübinger Professorin Barbara Scholkmann befindet: “Seine Theorien sind so abenteuerlich, dass es sich nicht lohnt, sich damit zu befassen.” Zur Verbitterung der Mittelalterspezialisten bekommt Illig jedoch Unterstützung von Vertretern anderer Disziplinen, beispielsweise von dem Leipziger Technikhistoriker Hans-Ulrich Niemitz. Kulturwissenschaftler und Architekturhistoriker verschiedener Universitäten haben Illig zu Diskussionen eingeladen.
Auch die deutschen Medien folgen nicht dem Verdikt der Experten und berichten über den “redegewandten Außenseiter” (“Der Spiegel”). Seit die Berliner “tageszeitung” 1995 den Artikel “300 Jahre erstunken und erlogen” veröffentlichte, reisst das Interesse der Journalisten nicht ab. Nach dem Motto “kann nicht sein, weil es nicht sein darf”, verteidigt die konservative “Frankfurter Allgemeine Zeitung” das urdeutsche Kaisertum. Die Münchner “Süddeutsche Zeitung” dagegen kam zu dem Schluss, Illigs Argumente seien “verwirrend stichhaltig”.
Neben der Kalenderrechnung ruht Illigs Theorie auf Kunstgeschichte und Archäologie: Da ist zum einen die Aachener Pfalzkapelle – angeblich vom großen Karl vor genau 1200 Jahren erbaut. 24 “anachronistische Bauelemente” hat Illig an diesem “Herz des Frankenreichs” ausgemacht. Etwa die riesige Kuppel, die keine Vorläufer und jahrhundertelang keine Nachbauten habe: Können Handwerker aus dem Nichts heraus derartiges Know-how entwickeln – und dann gleich wieder vergessen? Tatsächlich datieren mittlerweile Kunsthistoriker wie Prof. Jan van der Meulen den Bau eher ins 11.Jahrhundert – aber was wird dann aus der “Hauptstadt” Karls, von der außer der Pfalzkapelle nichts erhalten ist?
Das Kleingedruckte der Begleittexte zur Aachener Ausstellung ist auffallend vorsichtig formuliert: Die berühmte Reichskrone werde seit dem 14. Jahrhundert “fälschlich” Karl dem Großen zugeschrieben und stamme wohl aus dem 12. Jahrhundert. Das “sogenannte Schwert Karls des Großen”, stamme auch nicht aus Karls Zeit, sondern vermutlich erst aus dem 12. Jahrhundert, genau wie der “sogenannte Mantel Karls” und das “sogenannte Karlsprivileg”, das die Gründung Aachens dem Überkaiser zuschreibt.
Super-Karl könne einfach nicht echt sein, findet Illig: Ein unermüdlicher Feldherr, der sogar Mitten im Winter samt Armee über die Alpen zieht – aber kein einziges Kettenhemd ist übriggeblieben? Ein Latinist und Germanist – der nach den Überlieferungen weder lesen noch schreiben konnte? Ein Münzreformer – aber wo blieben die Münzen? Und wohin wurden die 313 Großbauten verschlampt, die er angeblich erbaute? Genüsslich weidet sich Illig an den Problemen der bisherigen Geschichtsschreibung.
Illig hält dieses Szenario für möglich: Kaiser Konstantin VII drehte in Byzanz im 10. Jahrhundert aus dynastischen Gründen die Uhr um 297 Jahre vor. Im Westen justierte Kaiser Otto III, ein Verwandter Konstantins, die Uhr auf das Jahr 1000 und erfand seinen heldischen Vorfahren Karl. Der Papst machte mit, weil er dem fiktiven Karl ebenfalls allerhand nützliche Urkunden unterjubeln konnte. Spätere Generationen erfanden dann dazu, was sie brauchten. Als zum Beispiel die Stadt Zürich Ärger mit den Habsburgern hatte, erklärte sie, von Karl dem Großen gegründet worden zu sein – wer wird sich schon an einer so edlen Stadt vergreifen? “Ein Kloster gab die grobe Linie vor”, vermutet Illig, “die anderen machten jeweils das örtliche Fleisch an dieses Skelett: ‘Uns hat Karl die und die Ländereien geschenkt’.” Alle damaligen Schriftkundigen hätten so von der Karlsfiktion profitiert. Die neue Datierung sei außerdem nicht aufgefallen, da man gleichzeitig die Zählung der Jahre “nach Diokletian” auf “nach Christus” umstellte.
Wieso aber hat das bisher niemand entdeckt? “Die Mediävisten schauen nur auf die Urkunden, obwohl sie selbst immer mehr davon als Fälschungen entlarven”, erklärt sich das Illig. “Wie erkennen sie, ob die Urkunden echt sind? Indem sie diese Fälschungen mit anderen Fälschungen vergleichen, von denen sie beschlossen haben, dass sie echt seien. Ein Zirkelschluss!” Stattdessen müsse man die Schriftquellen mit archäologischen Funden und erhaltenen Bauten vergleichen: “Eine Urkunde ist schnell gefälscht – der Fundamentstein einer Kirche nicht!” Die Archäologen aber würden zwischen den alten Römern und dem hohen Mittelalter nichts finden: “Eine Phantomzeit gibt’s nur auf dem Papier, nicht aber im Boden.”
In der Karolingerzeit habe man mit Holz gebaut, da sei nichts erhalten geblieben, entgegnen manche Historiker. “Komisch”, staunt Illig, “aus der Steinzeit hat man Pfahlbauten oder wenigstens Pfostenlöcher gefunden. Wieso nicht aus dem frühen Mittelalter?” Mit Illig “kann man nicht vernünftig argumentieren”, sagt Prof. Scholkmann, “er führt einen Glaubenskrieg, keine wissenschaftliche Auseinandersetzung”.
Der Berliner Mediävist Michael Borgolte schimpft: “Um Illig ist eine pseudoreligiöse Gemeinde entstanden, die langsam Sektencharakter annimmt.” Und der Frankfurter Professor Johannes Fried rückt Illig gar in Nazi-Nähe – denn wer Karl leugnet, könne auch Auschwitz leugnen. “Mit meinen strengen Kriterien kann man selbstverständlich nicht jede unliebsame Zeit eliminieren”, empört sich Illig. “Für die NS-Zeit passen Schriftquellen, Bauten und Überreste einwandfrei zusammen.” Illig sind die Angriffe unverständlich: “Für einen Physiker wär’s völlig normal, dass er sagt: ‘Simulieren wir das mal. Was kommt raus, wenn wir das durchspielen?'”
Sein Ansatz könne eine ganze Reihe von Rätseln klären, ist Illig überzeugt. Zum Beispiel warum eine so nützliche Erfindung wie der Steigbügel nach dem 6. Jahrhundert wieder für 300 Jahre vergessen wurde – ohne die “Phantomzeit” wäre die Entwicklung bruchlos. Auch der ungeklärte Bevölkerungsschwund im frühen Mittelalter würde zum “Scheinproblem” wenn die archäologischen Funde nicht mehr 500 Jahren, sondern nur 200 zugeordnet würden. Die Wikinger wären nicht mehr ein seltsames “Volk von Kriegern, das nach jedem Angriff seine Pfeilspitzen wieder einsammelte, seine Gefallenen in die Boote packte und den Ort der Verwüstung ‘besenrein’ zurückliess”, sondern Händler, denen Untaten angedichtet wurden. In Luxemburg würde das seltsame Geschichtsloch zwischen der Römerzeit und der ersten Erwähnung der Lucilinburhuc im Jahr 963 verschwinden.
Illig selbst ist sich noch nicht sicher, wie weit er sich “der Wahrheit angenähert hat”. Gespannt sei er vor allem auf Argumente von Astronomen. Auch mit modernen Datierungsverfahren könnte es haken. Experten wie zum Beispiel Prof. Dieter Eckstein von der Uni Hamburg sind sicher, mit Baumjahresringen fehlerfreie Chronologien für die letzten 11.000 Jahre erstellen zu können.
In Aachen wurde zur Ausstellung der Thron Karls des Großen überprüft und auf die 790er Jahre datiert. Aber wer weiß schon, ob das nun das endgültige Forschungsergebnis ist? Bei einer ersten Untersuchung 1967 war der alte Holzthron dem Jahr 935 zugeschrieben worden. Illig hält Dendrochronologie und C14-Methode ohnehin für “falsch geeicht”, nämlich an der jetzigen Chronologie.
Jedenfalls verspricht Illig weitere Unruhe. Die Demontage Kaiser Karls reicht ihm keineswegs: “Man darf’s gar nicht laut sagen – aber von 3000 Jahren Ägypten fallen 2000 schlicht und einfach weg.” Auf diese respektlose Art soll es weitergehen, kündigt Illig an, denn: “Dilettantismus ist Freude an der Sache! Man darf sich von den Spezialisten nicht entmündigen lassen, sondern muss seinen eigenen Verstand gebrauchen.”
Bücher von Heribert Illig im ECON-Verlag, München:
– “Das erfundene Mittelalter”, 3. Auflage 1999 mit aktuellem Nachwort, 456 Seiten
– “Wer hat an der Uhr gedreht?”, 1999, 288 Seiten
Die Ausstellung “Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos” ist bis 3. Oktober täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, donnerstags bis 21 Uhr. Eintritt: 15 / 9 Mark (die Karte ist auch in der Domschatzkammer gültig).
Tel.: 0241-180 29 60, www.kroenungen.de