Die Gewissheit des Aachener Karlsvereins ist dank der Dendrochronologie zur absoluten geworden
Wie den Lesern unserer Seiten längst zu Ohren gekommen sein wird, sind in Aachen zwei Holzstücke dendrochronologisch analysiert worden, die das Alter der Pfalzkapelle nunmehr eindeutig auf die Zeit um 800 zu bestimmen erlauben. Wir werden hier oder in den Zeitensprüngen sicherlich ausführlich auf dieses Thema zurückkommen, so bald mehr als bloße Ergebnisse vorliegen. Das könnte allerdings dauern, weil Dendrochronologen bekanntlich nicht sehr auskunftsfreudig sind (siehe Andreas Otte, Kritische Dendrochronologie). Bis dorthin nehmen wir uns die Freiheit, die dendrochronologischen Behauptungen nicht all zu ernst zu nehmen.
Bemerkenswert sind indes einige Reaktionen der Karlsgemeinde. So erstaunt die Rede vom „Aufatmen“ in einer Aachener Sonntagszeitung – allerdings nicht wegen dem Aufatmen selbst, denn dieses Eingeständnis ist gewiss einfach nur aufrichtig. Man war sich natürlich darüber im Klaren, dass die dendrochronologische Prüfung hätte schief gehen können. Verwunderlich ist vielmehr das unüberhörbare Schweigen über den Grund dieser Sorge. Die durch das Illigsche Teufelswerk gesäten Zweifel durften offenbar nicht mal andeutungsweise erwähnt werden.
Dagegen tut die Heuchelei, die die Autorin oder den Autor des nicht gerade gelungenen Textes auf der Homepage des Aachener Karlsvereins geritten hat, schon fast weh. Denn dort sind tatsächlich folgende Sätze zu lesen:
Es galt zwar auch bis jetzt sicher [sic], dass der Frankenherrscher Karl der Große den Aachener Dom gebaut hat, aber es fehlte bis jetzt der letzte Beweis. Nun konnte zum ersten Mal wissenschaftlich bewiesen werden, das [sic] Karl vor rund 1200 Jahren seine Aachener Marienkirche, den heutigen Aachener Dom, errichtete.
Der letzte Beweis fehlte also noch. Andere Beweise gab es längst, den letzten aber noch nicht. Man war sich zwar auch bis jetzt sicher, aber es fehlte doch etwas.
Der unbefangene Leser schüttelt den Kopf: Wie soll das gehen? War man sich zu 99 % sicher und sind es jetzt 100 %? Also vorher doch 1 % Zweifel? Oder sind 100 % Gewissheit zu 101 % geworden und füllte der letzte Beweis eine Lücke, die es nie gab?
Offenbar passt das alles nicht so richtig. Also nächster Versuch: Der letzte Beweis war eigentlich überflüssig, weil man es eh schon wusste. Aber nein, auch das geht nicht, heißt es doch im Schlusssatz:
Wegen der fehlenden Dokumente (Grundstein etc.) zur Bauzeit ist dieser Fund und seine Analyse von großer Bedeutung.
Kurzum: hier wird gelogen, dass die Balken biegen. Für jeden klar erkennbar, ganz ohne Dendroprüfung.
Zum Inhaltlichen bleibt festzuhalten, dass die alten Fragen selbstverständlich persistieren. Hier sei als Beispiel nur das Problem des isolierten Steinbaus mit riesiger Kuppel in kürzester Zeit genannt. Dazu die erwähnte Aachener Sonntagszeitung, nachdem sie festgestellt hat, dass die Bauzeit „auf zehn bis 20 Jahre eingegrenzt“ werden kann:
Dies mag für den Bau einer solchen Kapelle kurz erscheinen, „doch“, erklärt der Stadtarchäologe Andreas Schaub, „es wurde kaum Aufwand für Ornamentierungen betrieben. So ist solch eine kurze Bauzeit möglich.“ Es sei dennoch eine unglaubliche Leistung, denn in der Aachener Region „gab es nach den Römern keine Tradition im Steinbau mehr. Es musste also ein enormer Aufwand getrieben werden, um diesen Bau so schnell zu errichten. Erst die Karolinger führten die Steinbauweise wieder ein.“
Fränkische Holzbauer gehen also zum Steinbau über und stellen vom einen Tag auf den anderen in Rekordzeit eine großartige Kirche hin, die sich mit dem Besten, was Byzanz zu bieten hatte, messen konnte und im Westen mehr als zwei Jahrhunderte nicht ihresgleichen fand.
Die Karlsgemeinde glaubt das wirklich. Es sei ihr gegönnt, wie auch die Rückendeckung durch die Dendro-Esoterik. Wir indes lesen lieber Das erfundene Mittelalter und überlegen uns, wie es wirklich gewesen sein könnte.