von Gisela Albrecht und Andreas Otte (aus dem „Zeitenspringer“)
Viele begegnen dieser These anfänglich in einem Buch, welches erstmals 1996 erschien, nämlich dem Erfundenen Mittelalter. Außer in Kreisen der Zeitensprüngeleser ist jedoch wenig bekannt, dass die These bereits 1991 formuliert wurde. Das VFG-Heft 1/91 lieferte die Initialzündung. Es enthält neben dem Editorial drei Arbeiten zur Chronologieverkürzung im Mittelalter, eine von Heribert Illig, eine von H.-U. Niemitz und eine von beiden gemeinsam, in dem die einzelnen Beiträge namentlich gekennzeichnet sind. Auch Manfred Zeller arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits an einem Beitrag zum Thema, der jedoch erst in Heft 3-4/91 erschien.
Bei dem Telefonat zwischen Illig und Niemitz Ende August 1990 ging es um den Begriff: „antizipierende Fälschungen“:
„Daraufhin telefonierte er [Niemitz] mit dem Herausgeber, der von dem Thema fasziniert war und darauf hinwies, dass ‘antizipierende Fälschungen’ auch das Ergebnis von ‘Dunklen Jahrhunderten’ sein könnten, die künstlich in die Geschichte des Mittelalters eingeschoben worden sind.“ [VFG 1/91, S.3, Editorial].
Im selben Heft schreibt Heribert Illig in seinem Artikel: Die christliche Zeitrechnung ist zu lang unter Berufung auf Merkwürdigkeiten im Rahmen der Gregorianischen Kalenderreform:
„Zwischen Caesar und der Neuzeit werden rund 350 Jahre zuviel in unserer Chronologie geführt“ [VFG 1/91,S. 4]
Am Ende des Artikels spricht er von einem „Kürzungsintervall“ von 217 bis 473 Jahren:
„Somit wären gemäß dieser Rechnung 473 Jahre das absolute Maximum an streichbaren Kalenderjahren.“ [VFG 1/91, S. 19]
In Fälschungen im Mittelalter (S. 21-35) versucht H.-U. Niemitz im 2. Teil des Aufsatzes (S. 28 ff) einen „Gegenentwurf der mittelalterlichen Geschichte“ für den Zeitraum von ca. 759 – 1400. Karl der Große bleibt erhalten. Neben einer Kürzung durch Entfernen von Dubletten kann er sich auch vorstellen, dass
„einige Jahre bis Jahrhunderte dazugemogelt wurden“ [VFG 1/91, S. 34].
Der von beiden gemeinsam geschriebene Beitrag Hat das dunkle Mittelalter nie existiert? (S. 36-49) ist eine Art Stoffsammlung zu Ungereimtheiten im Übergang zwischen Spätantike und Mittelalter: Architektur, Glaubenslehre, Chiliasmus, Krankheiten, Landwirtschaft etc., mit auffälligen Überlieferungslücken zwischen 6./7. und 10. Jahrhundert.
Im Kapitel „Karolinger und Sachsenkaiser (ni)“ (S. 41) fragt Niemitz direkt:
„Sind etwa die karolingischen Pfalzen identisch mit den ottonischen und deshalb nicht erkennbar?“
Zur Öffnung des Karlsgrabes durch Otto III:
„Ist diese Auffindung oder einer der beiden Kaiser nur Legende?“
Der Artikel schließt mit dem Beitrag „Zeitrechnung (il)“:
„Die herkömmlichen Jahreszahlen 550 und 1050 scheinen im byzantinischen Reich dicht beisammen zu liegen. Wegen der westlichen Entwicklung ist zu fragen, ob dazwischen noch ein Jahrhundert für die Karolinger ausgespart bleiben muss, oder ob die Karolinger unter anderem Namen ein zweites Mal geführt werden (und damit nach 1050 rangieren?)“ (S.49) [VFG 1/91, S. 49].
In Heft 3-4/91 melden sich weitere Autoren zu Wort, so Horst Friedrich mit Baierns dunkle Jahrhunderte und Manfred Zeller mit Deutsche Literatur im Mittelalter. Zu ihrer Entwicklung. Heribert Illig benennt hingegen erste Väter einer neuen Zeitrechnung: Otto III. und Silvester II. und dokumentiert Dendrochronologische Zirkelschlüsse. H.-U. Niemitz würdigt Wilhelm Kammeier kritisch, mit dem er sich initial beschäftigt hatte. Er schließt:
„Kammeiers universale Verschwörungstheorie soll und kann nicht wiederbelebt werden. Gleichwohl dürfen seine scharfsinnigen Beobachtungen bei mittelalterlichen Urkunden der Diplomatik nicht vergessen werden. Heutige Erklärungsversuche wie etwa Fuhrmanns ‘antizipierende Fälschungen’ (vgl. Niemitz VFG 1-91) sind von der Plausibilität her Kammeiers Thesen in keiner Weise überlegen.“ [VFG 3-4/91, S. 107]
In Heft 5/91 ist es dann Gunnar Heinsohn, der über die Jüdische Geschichte und die Illig-Niemitzsche Verkürzung der christlichen Chronologie des Mittelalters berichtet. Auch Heribert Illig nimmt in diesem Heft Stellung zu Jüdische Geschichte. Dunkelzonen, Diskontinuitäten, Entstehungsgeschichte.
In Heft 4-5/92 tritt dann mit Illigs Bericht Vom Erzfälscher Konstantin VII. [S. 132-139] der zweite mögliche Vater der eingeschobenen Jahrhunderte zu Tage, Angelika Müller berichtet über Karl der Große und Harun al-Raschid [S. 104-118] und mit Illigs 614/911 – der direkte Übergang vom 7. ins 10. Jahrhundert tauchen Ende 1992 erstmals die Eckjahre 614 und 911 auf [S. 79-103], um dann im März 1994 von ihm in Hat Karl der Große je gelebt? auf Anfang September 614 bis Ende August 911 als Arbeitshypothese fixiert zu werden:
„Das fragliche Intervall ließe sich nach meinem derzeitigen Wissensstand exakt eingrenzen: Die fiktive, erfundene Zeit reicht von September 614 bis August 911. Aber eine so präzise Angabe muss sich erst noch im Licht der weiteren Forschungen erhärten oder verändern. Offen muss auch bleiben, ob die beiden Zeitgrenzen direkt aneinandergerückt werden können oder ob zwischen ihnen ein Zeitraum von etlichen Jahren bleibt, der abwechselnd mit Geschehnissen des 7. bzw. 10. Jh. zu füllen ist, sofern uns überhaupt Ereignisse dieses Zeitraums tradiert worden sind.“ [Hat Karl der Große je gelebt?, 1994, S. 20]
Bereits im Mai 1992 beim Jahrestreffen in Baden-Baden wird Karl der Große zur Fiktion, das Illigsche Vortragsskript erscheint wenig später in erweiterter Form als Sonderheft mit dem Titel Karl der Fiktive, genannt der Große. Als Herrscher zu groß, als Realität zu klein.
Nach wie vor sind die 297 Jahre Phantomzeit eine Arbeitshypothese wie 2006 von Heribert Illig anlässlich des Jahrestreffens in Kassel unter dem Titel 297 Jahre – Zur Länge der Phantomzeit sowie unter dem gleichen Titel in den Zeitensprüngen [ZS 3/2006, S. 765-776] noch einmal eindeutig festgestellt wurde.
[…] Autoren dieser Umstand durchaus bekannt sein können: etwa wenn sie den ausgezeichneten Kurzbeitrag Über die Anfänge der Phantomzeitthese von Gisela Albrecht und Andreas Otte in der von Otte herausgegebenen Festschrift zu Illigs 60. […]