Die Forschungen von Claussen, Klabes und Faußner
von Gerhard Anwander (Überarbeitete Version aus Zeitensprünge 02/2008)
Heiliger Sankt Florian, verschon’ unser Haus, zünd’ andere an! lautet ein unfrommer Spruch in Bayern, bei dem der Schutzheilige gegen Brandschäden zum Brandstifter umgewidmet wird. Zu Corvey an der Weser liegt der umgekehrte Fall vor: dort wird Odysseus, ein antiker Held zweifelhaften Rufes, zu einem karolingischen Heiligen verklärt, u.a. weil er angeblich – zwar noch ohne Nimbus – ins dortige Westwerk-Gewölbe freskiert ist; andere meinen sogar, es handele sich um Herkules, was die Verehrung als karolingischen Heiligen auch nicht erleichtern würde!
Das Elend ist also, dass zu Corvey unverändert die Karolinger spuken und wir erinnern hierzu an diesbezügliche Publikationen diesseits und jenseits des Mainstreams und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen:
1986: Hans Constantin Faußner trägt über Fälschungen ab dem Wormser Konkordat (1122) und Wibald von Stablo vor [Fälschungen, III:143-200].
1996 bestreitet Illig [1996, 264 ff.] einen Unterschied zwischen karolingischem Westwerk und ottonischem Westbau.
1997 erkennt Klabes das Westwerk der Corveyer Klosterkirche als einen Römerbau der Augustuszeit. Freilich glaubt auch er daran, dass später die Karolinger hier als Bauherrn tätig geworden seien.
1998: Illig bespricht das Buch von Klabes und bettet dessen Römerthese in die Fantomzeitthese ein [Illig 1998; 1999; in den darauf folgenden Auflagen von Das erfundene Mittelalter, 265]. Damit sollte es zu Corvey an der Weser keine Karo linger mehr geben.
1999: Dagmar von Schönfeld de Reyes räumt mit dem „Westwerksbegriff” auf, indem sie detailliert aufzeigt, wo überall die Forschung in die Irre gelaufen ist.
2000: Der Verfasser verbindet Faußners Ideen mit der Fantomzeitidee.
2003: Faußner beginnt die Edition von Fälschungen Wibalds von Stablo.
2007: Der Verfasser überträgt v. Schönfelds Argumente auf die Fantomzeitthese und bringt weitere Verbindungen zu den Arbeiten von Faußner.
Der Mainstream wird im Falle der Klosterkirche von Corvey durch Hilde Claussen und Uwe Lobbedey vertreten. Sie haben sich um derartige Ansätze in keiner Weise gekümmert. Die blutjunge Archäologin ergrub schon 1949 zusammen mit W. Winkelmann in St. Georg zu Vreden ein erstes ‘karolingisches’ Westwerk und war damit lebenslang geprägt.
1954 werden Kalkmalereien auf Wandputz im ‘Erdgeschoss’ des Westwerks aufgedeckt, aber nicht weiter beachtet (Klabes hält hier dichten Kontakt). Ab 1963 gibt Claussen Teildarstellungen und Vorabberichte.
1992 liest Claussen die Druckfahnen ihres zukünftigen Standardwerkes: Wandmalereien und Stuck der Klosterkirche Corvey, in dem sie die Fresken einer Deutung unterziehen will. Doch da macht sie eine Entdeckung, die alle Buchpläne über den Haufen wirft: sechs Vorzeichnungen (sog. Sinopien) im Hauptgeschoss des Westwerkes. Sie kann sie mit Stuckfragmenten kombinieren und erhält so Ansatzpunkte für karolingische Großplastik: Männerfiguren, die grellbunt bemalten waren, aber nicht preisgaben, ob es um Kaiser oder Apostel ging. Dirk Schümer teilt 1992 in der FAZ diese Befunde der breiten Öffentlichkeit mit und spricht von „Hunderten von Westwerken”, die bis auf ein einziges alle verschwunden seien [s. Illig 1996, 265].
1999 erfährt die ‘ganze Welt’ aus dem Katalog für die Paderborner Prachtausstellung (799 – Karl der Große und Leo III.), was sich in Corvey an den Wänden abspielte. Während unbedarfte Besucher Eroten auf Delfinen reiten sehen, dazu Odysseus, wie er einen Hundekopf der Skylla mit dem Speer attackiert, sieht Claussen das absente Meer als Sinnbild für die sündige Welt und den „tugendhaften Odysseus, der unbeirrt von Anfechtungen über die Meere fuhr” und Meerdämonen erledigt, während ein Schiffbrüchiger dem ewigen Verderben entgegensieht [Claussen 1999, 583 ff.; Illig 1999, 426].
2006: Die Idee konkretisiert sich, der UNESCO das Kloster Corvey, vorzugsweise vom 9. bis 12. Jh., als Weltkulturerbe vorzuschlagen. Zur Untermauerung des Antrages bedarf es zweier umfangreicher Bücher. Das von Claussen erscheint 15 Jahre verspätet mit Hilfe von Anna Skriver im Jahre 2007: Die Klosterkirche Corvey. Band 2: Wandmalerei und Stuck aus karolingischer Zeit. Der Band 1 über die Klosterarchitektur soll von Lobbedey 2009 nachgereicht werden. Das Ziel ist nicht unbescheiden:
„Derzeit wird der Antrag vorbereitet, Corvey als Weltkulturerbe anzuerkennen und damit die Einzigartigkeit zu »zertifizieren«. In einer Reihe mit den Pyramiden von Giseh, der Akropolis in Athen oder Stonehenge könnte Corvey Zeugnis dafür abgeben, dass unsere Region seit über 1.000 Jahren ein Zentrum der menschlichen Kultur ist. Unverzichtbarer Bestandteil zur Anerkennung als Weltkulturerbe ist die Dokumentation, Aufarbeitung, Interpretation und wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte in all ihren Facetten. Dieses Buch ist der erste Schritt zu dieser Pflichtaufgabe. Und diese Pflichtaufgabe ist mehr als gelungen. Wissenschaftlich ist dieses Werk auf höchstem Niveau.” [tah]
Es sei der Region selbstverständlich vergönnt, wenn sie dank ihres Kulturgutes anstrebt, auf Augenhöhe mit den Pyramiden von Giseh, der Akropolis usw. gehoben zu sein. Doch die Sache hat einen Haken, und der deutet sich schon im Presseartikel an:
„Es gibt wenige Quellen über die ersten Jahrzehnte des Klosters Corvey, das zu Beginn des 9. Jahrhunderts bei Höxter gegründet wurde und sich schnell zum bedeutendsten Kloster in Norddeutschland entwickelte. Wir wissen nicht, wie es damals aussah, wie die Ausstattung war, aber wir wissen, dass Corvey vom 9. bis 13. Jahrhundert ein politisches, wirtschaftliches, kulturelles und kirchliches Machtzentrum war” [tah].
Anregung 1: Man beschäftige sich als Wissenschaftler auch mit zunftfremden Arbeiten
So gibt es zwar „wenige Quellen über die ersten Jahrzehnte” (bzw. Jahrhunderte) und man „weiß nicht, wie es damals aussah”, aber: Wir wissen, dass es „sich schnell zum bedeutendsten Kloster in Norddeutschland entwickelte”. Das Fazit ist leicht gezogen: Wir wissen als echte Spezialisten fast nichts, aber das ganz genau!
Insofern setzen sich Claussen und Skriver [= CS] nirgends mit Klabes’ Römerthese oder Illigs Fantomzeitthese auseinander. Ein Beispiel: Klabes argumentiert u. a. mit Ziegelkleinmörtel, wie ihn die Römer verwendet haben. Claussen und Skriver [465 f.] kennen ihn auch, teilen aber den Lesern nicht mit, dass dieser besonders dauerhafte Mörtel ein Hauptkennzeichen römischen Bauens ist. Will man die Blamage von Ingelheim [s. Illig/Lelarge; Heinsohn] zu Corvey dadurch vermeiden, dass man einfach die Augen verschließt? Zur Erinnerung: Aus der früher postulierten grandiosen karolingischen Karlspfalz zu Ingelheim brach die – offensichtlich lokalpatriotisch unbeeinflusste – archäologische Forschung den Kern oder das Herz heraus, indem es die Kirche in die Ottonenzeit verbrachte. Da eine Karolingerpfalz ohne Kirche nicht vorstellbar ist, war nun an eine ottonische Pfalz oder an einen Römerbau mit im Mittelalter eingefügter Kirche zu denken. Roter Mörtel an der Aula wies dringend auf einen Römerbau hin – da fand sich 1996 zum Glück für die Karolinger ein goldener Karlsdenar in Ingelheim, den es zwar gemäß Karls Münzreform gar nicht geben dürfte, aber trotzdem als Ersatzbeleg für die verlorene Karolingerkirche begeistert aufgenommen wurde.
Anregung 2: Man nehme wichtige einschlägige Werke zur Kenntnis
Dagmar von Schönfeld de Reyes hat in ihrer kritischen Arbeit über die so genannten karolingischen Westwerke nachgewiesen, dass es zwischen karolingischen Westwerken und ottonischen Westbauten knirscht. Aber Claussen und Skriver ignorierten auch diese gründlichen Befunde. Um so weniger interessierten sie sich für Klabes’ Theorie und ihre Bekräftigungen [etwa Illig 1998; 1999; Kloppenburg 2007; Anwander 2007a; Klabes in 2. Ausgabe!].
Anregung 3: Man nehme als Wissenschaftler alle einschlägigen Objekte vor Ort zur Kenntnis
Im Museum des Barockschlosses zu Corvey gibt es einen Raum, wo im Gegensatz zu den anderen Räumen Objektbeschriftungen fehlen (Stand Frühjahr 2008). Diese nicht bezeichneten Objekte [s. Anwander 2007a, 205] bestehen
u.a. aus drei zum Teil gut erhaltenen Sandsteinköpfen, die nicht modern, nicht klassizistisch, nicht barock, nicht gotisch, nicht romanisch, sondern römisch anmuten und es nach unserer und anderer Leute Einschätzung auch sind und – vermutlich – von Klabes aufgefunden wurden! Seriöse Forscher beschäftigen sich normalerweise – wenn sie jahrzehntelang vor Ort tätig sind – auch mit derartigen Objekten und prüfen, ob sie bedeutsam für die Gesamteinschätzung des Objektes sein könnten. Warum darf Corvey nicht römisch sein?
Anregung 4: Man benutze das Ockhamsche Rasiermesser und belasse Odysseus in der Antike
Odysseus ist bei antiken Autoren (Homer, Euripides), wie man heute landläufig sagen würde, eine ‘richtig linke Bazille’, ein Intrigant, der seine Interessen rücksichtslos – auch über Leichen gehend – bei Freund und Feind durchsetzt [Matt, 3; Seitenzahl aus Internet]:
„Hat er sich doch noch vor kurzem als Bettler verkleidet in die Stadt geschlichen und aus dem Tempel das höchste Heiligtum gestohlen, das Palladium, ein wunderbar vom Himmel gefallenes Bild der Pallas Athene. Dabei hat er tüchtig gemordet. Man haßt ihn. Und noch Dante wird ihn viele Jahrhunderte später für diesen Diebstahl in die Flammen der untersten Hölle stecken.”
Dieser höllenwürdige Dieb und Mörder wird nun erneut bei Claussen und Skriver [156-183] zum christlichen Helden – sogar der Demut – verklärt, obwohl es bei den Freskenresten ganz nach Antike aussieht, wie das Duo frei mütig einräumt.
Denn wie sollten die Karolinger die Skylla malen, wenn sie nicht einmal Homer kannten und die Darstellungen der Skylla im 5. Jh. endeten [Claussen 1999, 583]? Und die Delfinreiter?
„Die zahlreichen Delphin- und Drachenreiter in antiken Meereswesenfrie sen sind in der Regel Eroten, [!] wenngleich nicht immer rundliche Putten, sondern bisweilen auch schlanke jünglinghafte Figuren. […] Im Typ ähnliche Delphine lassen sich leichter in Bildwerken der römischen Antike zeigen als unter den spärlichen Exemplaren, die sich in karolingischen Miniaturen erhalten haben. Der Corveyer Delphinreiter nimmt in der karolingischen Bildüberlieferung bisher einen Sonderplatz ein: er ist der einzige [!] seiner Art.” [CS, 161, Anm. 16]
Den beiden Autorinnen springt also das Antike der Darstellungen ins Auge.
Sie wollen aber die Antike nicht als Entstehungszeit – warum auch immer – in Betracht ziehen, obwohl die in Corvey gefundenen Porphyr-, Marmor- und Steinfliesen als „zweitverwendete” römische Produktion gesehen werden [Lobbedey bei S/W, 566].
So versuchen sie denn mehr oder weniger plausibel, diese angebliche christliche Umdeutung durch karolingische Künstler nachzuvollziehen und zu belegen. Trotz aller Suche gelingt es den beiden Autorinnen nicht, neben dem Sirenenhelden Odysseus einen christlichen Skyllakämpfer bei den Kirchenvätern zu ermitteln [CS, 161 f.]. Claussen kann ganz offensichtlich ihre seit fast 15 Jahren vertretene Meinung nicht mehr aufgeben.
Auch fehlt es an jeglicher, sonst üblicher (früh-)christlicher Motivik: kein symbolischer Fisch, kein Kreuz, kein Christus und – kein einziger Märtyrer. Die Corveyer Patrone Stefanus und Vitus (angeblich 887 von St. Denis nach Corvey überführt) sind nicht zu finden und auch sonst keinerlei Parallelen, weder die zu frühchristlicher römischer Mosaikkunst, nicht zu späterer sakraler Freskomalerei des westfälischen Raums, noch zu süddeutschen karolingischen Fresken, wie sie für ein Chiemseekloster postuliert werden (Illig 2008; 402 f.). Und das in einer Zeit, wo das Märtyrer- und Reliquienwesen aufgeblüht und der Transfer der Reliquien des Hl. Vitus von Saint-Denis mit großem PR-Aufwand erfolgt sein soll (Translatio Sancti Viti). Stilistisch und ikonografisch steht Corvey nach Claussen und Skriver einsam in der historischen Landschaft: Nicht einmal die – fiktive – Karolingerzeit bietet Vergleichbares.
Klabes kann mit seinen Deutungen insgesamt weitaus besser überzeugen, obwohl er nicht Odysseus und Skylla, sondern Herakles und Cerberus am Werke sah [Klabes, 128-155; vgl. Illig 1998; 1999]. Denn keine seiner Deutungen erbringt Christliches. Noch weniger kann man zweifeln, wenn man bei Klabes [144] eine Sphinx
gezeigt bekommt und eine Venus/Afrodite, die von Delfinen an Land
gezogen wird [ebd., 134] sowie einen Capricornus [ebd. 151], der dem der berühmten Gemma Augustea gleicht.
Befremdlicherweise finden sich diese und noch mehr Abbildungen bzw. Freskenteile bei Claussen/Sriver nicht mehr vorgestellt oder diskutiert! Sind sie für immer verblasst oder ‘unpassend’?
Die Deutung des Odysseus als christlicher Held oder Heiliger oder was auch immer ist ebenso abwegig wie peinlich und steht als theologischer Ansatz genauso singulär in Zeit und Landschaft, wie das Gebäude selbst. Man schärfe daher hier das Ockhamsche Rasiermesser, schabe diesen wirren Deutungsschaum ab und entdecke die darunter liegende einfachste und nächstliegende Erklärung: Wenn die Fresken schon dem kunsthistorischen Spezialisten wie dem Laien antik vorkommen, dann stammen sie auch aus der Antike!
Anregung 5: Man misstraue grundsätzlich schriftlichen Zeugnissen des Mittelalters
Mit diesem Teil erreichen wir den zwangsläufig umfangreichen Höhepunkt unserer Anregungen und kommen zu einer Art chronique scandaleuse des altehrwürdigen Benediktinerklosters Corvey.
Die eben geschilderte Farce der Verklärung unseres Helden zum Heiligen Sankt Odysseus beruht natürlich auf der Datierung, die sich auf die schriftlichen Dokumente der Hilfswissenschaft namens Diplomatik stützt. Anscheinend tritt eher der Papst zum Islam über, als dass akademisch arbeitende Kunst- und Architekturhistoriker es allgemein wagen würden, deren Erkenntnisse ernsthaft, umfassend und öffentlich anzuzweifeln. (Von der Kenntnisnahme der Fantomzeittheorie wollen wir gar nicht erst sprechen.) Der Architekturhistoriker Volker Hoffmann bildet hier die rühmliche Ausnahme, als er eingestand, dass ihm dank Illig bewusst wurde, dass es besser sei, sich auf die Fachkenntnisse der eigenen Zunft und das sensibilisierte Auge zu verlassen, denn auf bemalte Rinderhäute und dem, was die Diplomatik ehrfurchtsvoll hinein- oder herausinterpretiert [s. Niemitz/Illig].
Seit der Entdeckung und Würdigung der pseudoisidorischen Fälschungen und spätestens seit den Erkenntnissen des Fälschungskongresses 1986 zu München [s. Fälschungen] sollte der naive Umgang mit mittelalterlichen Urkunden ein für allemal beendet sein.
Kreativabt Wibald: der Vater Corveys
Hinzu kommt in unserem Fall: Von 1146 bis 1158 regiert das Kloster der Abt Wibald von Stablo, Malmedy und Corvey (und kurzzeitig Monte Cassino). Wibald ist sicher kein Phantom, hat doch Claussen [1996] als Archäologin über sein Abtshaus in Corvey berichtet. Er war nicht irgendein Abt, sondern ein hoher Funktionär des Reiches; er beriet die Könige und Kaiser Lothar III., Konrad III. und Friedrich I. Barbarossa. Es darf angenommen werden, dass Wibald auch schon vor seiner Abts-Amtszeit zu Corvey diesem Kloster hilfreich zur Seite stand, wie Faußner [mündliche Mitteilung] erklärt, insbesondere unter dem Abt Adalbert (1138-1144; vgl. Anwander 2008: S. 375). So sei vorweg schon verraten: Alle folgenden zitierten Urkunden stammen nach Faußner aus der Wibald-Werkstatt [2003, III: 230], wobei Illigs Einspruch [2007] hier vermutlich nicht greift. Es gab aber schon lange vor Faußner – auch schon im 19. Jh. – Zweifel an Corveyer Urkunden, wie schon die erste vom 9. Mai 813 zeigt:
„Karl der Grosse bestätigt seinem Getreuen Asig, auch Adalrich geheissen, den von dessen Vater Hiddi gerodeten, aber von Königsboten eingezogenen Theil des Waldes Bochonia bei Hauucabrunno zwischen Werra und Fulda. […] Besitz und Urkunde kamen durch Schenkung des Grafen Esig, eines Nachkommens des Empfängers, an Corvei” [Mühlbacher, Nr. 218; die Urkunden sind von der Monumenta ins Internet gestellt, s. ‚Monumenta‘].
Die Echtheit dieser Urkunde wurde schon innerhalb der Zunft und von Außenseitern [Süßmann 1986] angezweifelt, aber die Zweifel wurden – selbstverständlich – als unhaltbar zurückgewiesen. Die – natürlich auch erfundenen – Gründungsurkunden für das von Karl dem Großen 813 beschenkte Corvei datieren 10 Jahre später. (Aber solche Kleinigkeiten stören das Karlsbild eines wirklichen Karolingerfans nicht: Sicherlich konnte der Große Karl schon antizipatorisch schenken!) Hier also die eigentlichen zwei Gründungsurkunden für Corvey; am 27.7. 823
„schenkt [Ludwig der Fromme] dem kloster, welches er durch den greisen abt Adalhard von Corbie in der königlichen villa Höxter an der Weser in der provinz Sachsen, für deren christianisierung schon sein vater kaiser Karl gewirkt hatte, erbauen liess und mit den reliquien des h. Stephan aus der pfalzkapelle ausstattete und das, weil von abt Adalhard, dessen bruder Walo und den mönchen von Alt-Corbie gegründet, den namen Korvey erhielt, die villa Höxter und mit einwilligung des abtes und der mönche den besitz Corbies in Sachsen, bestätigt die schenkungen der Sachsen zur stiftung des klosters und verleiht freie abtwahl sowie das recht mit den freien leuten gut und hörige zu tauschen.” [Böhmer, Nr. 779]
Zu dieser und den anderen noch folgenden Urkunden gibt es zahlreiche Viten zu berücksichtigen; besonders wichtig davon ist die Translatio Sancti Viti (TSV), die neben dem eigentlichen Überführungsbericht der Gebeine des sächsischen Heiligen Vitus aus Saint-Denis Geschichtliches zur Corvey-Gründung präsentiert. Dem Verfasser der TSV sind laut Wiesemeyer [249 f.] nachweisbar folgende Werke bekannt: „die Passio Sancti Viti, die Vita Adalhardi des Paschasius Radbertus und die Fundations- und die Immunitätsurkunde Ludwigs des Frommen für Corvey”.
Geht man nun mit Faußner davon aus, dass diese und andere Ludwig-der-Fromme-Urkunden von 823 eine Schöpfung Wibalds sind, kommt man kaum umhin, die zitierten Werke wie die TSV und die Passio Sancti Viti ebenfalls als Werke des 12. Jh. zu betrachten, denn ein Autor des 9. Jh. kann schwerlich ein Werk des 12. antizipieren. Faußner bestätigt in der Tat diese Ansicht: Danach sind die TSV und die Passio Sancti Viti Wibald-Schöpfungen und – so fügen wir hinzu – sicherlich auch die Vita Adalhardi.
„So wurde dann auch das Kloster in Höxter nach seinem fiktiven Mutterkloster Corbeia Nova genannt, wie sich aus seiner Gründungs- und Frühgeschichte ergibt, die Wibald in den Bericht über die Überführung des hl. Vitus von Saint-Denis nach Corvey einarbeitete. Diesen Translationsbericht läßt Wibald den Corveyer Mönch verfaßt haben, der 836 seinen Abt Warin nach Saint-Denis zur Einholung der Reliquien begleitete” [Faußner 2008, 585].
Folglich wurde der Name Corvey für das Kloster zu Höxter erst durch Wibald im 12. Jh. eingeführt (was Karl der Große sicherlich auch schon antizipierte)!
In der zweiten Urkunde vom selben Tag
„verleiht [Ludwig der Fromme] auf bitte des abts Adalard dem kloster Korvey, welches er durch diesen in der königlichen villa Höxter am fluss Weser in der provinz Sachsen erbauen ließ, immunität mit königschutz, wie sie alle kirchen in Francien haben” [Böhmer, Nr. 780].
Wiesemeyer bezeichnet 1962 [269] in seinem – der deutsch-französischen Freundschaft gewidmetem – Aufsatz treffend Absichten und Auswirkungen dieser gefälschten Dokumente, ihre Echtheit allerdings voraussetzend:
„Während die erste Urkunde die Corbeia nova ökonomisch auf eine ähnliche Basis wie die Corbeia antiqua stellte und die erstere der letzteren durch die Verleihung des Rechtes der freien Abtswahl auch im kirchlichen Rang gleichstellte, wurde die Corbeia nova durch die zweite Urkunde auch in ihrem rechtlichen Verhältnis zum Staat, d. h. zum Kaiser und König, der Corbeia antiqua gleichgestellt. – Und so wie die Äbte von Corbie (und St. Riquier) auf Grund der Immunität ihre grafschaftlichen Rechte erworben haben und somit seit dem 10. Jahrhundert in die Reihe der Lehensfürsten eingetreten sind, so bildete für die Äbte von Corvey die Immunität die Voraussetzung für ihre spätere Hochgerichtsbarkeit und ihren Aufstieg in den Reichsfürstenstand. So haben Adelhard und Wala Corvey auch in ökonomischer und juristischer Hinsicht auf solide Grundlagen gestellt.”
Faußner [2008, 586] kommentiert die Auswirkung für das 12. Jh. nüchterner:
„So kam das Dynastenkloster der Nordheimer, das im Norden der Hofmark (villa) Höxter auf dem Burgstall des Wehrturmes errichtet worden war und dessen Kirche mit ihrer Westseite an diesen anschloß, durch Wibald zu seinem Gründer- und Mutterkloster Corbie und seinem Namen Corvey.“
Der Königsschutz, der aus einem Dynastenkloster ein königliches Kloster werden ließ, bremste wiederum den Vogt in seinen Ansprüchen nach 1122 auf die Ressourcen des Klosters.
Wibald ließ den ungewöhnlichen Vorgang einer Klostergründung von Corbie aus dem westfränkischen Reich heraus laut TSV mit prominenter Besetzung spielen: Die renommierten Corbier Äbte Adelhard und Wala – nahe Verwandte Karls des Großen (!) – haben keine Ruhe gegeben und Ludwig den Frommen so lange genervt, bis dieser entnervt nachgab und die Güter des superreichen fiktiven Grafen Bernhard, die er diesem vorher abkaufte, den Corveyern als Gründungsausstattung vermachte. Adelhard und Wala sind per Einfluss auf Kaiser Ludwig die Garanten dafür, dass Neu-Corvey von Anfang an diesen besonders hohen materiellen und juristischen Status erhält.
Dass die gesamte Frühgeschichte des Klosters Corvey ausschließlich eine Wibaldschöpfung sein muss, ergibt sich auch aus Wiesemeyer [247], wenn dieser die TSV wie folgt beurteilt:
„Die für die Gründung Corveys wohl aufschlußreichste der genannten Quellen ist die Translatio Sancti Viti, die Geschichte der im Jahre 836 erfolgten Übertragung der Gebeine des hl. Vitus von St. Denis nach Corvey. Sie enthält mehr als ihr Titel erwarten läßt; denn in ihrem ersten Teil, vor dem eigentlichen Translationsbericht, ist eine verhältnismäßig ausführliche Schilderung der Gründung der Abtei Corvey eingefügt. Dabei ist der Verfasser bemüht, die Gründungsgeschichte Corveys in den allgemeinen Zusammenhang der Geschichte des fränkischen Reiches hineinzustellen; er kommt dabei auch auf einige Ereignisse von politischer Tragweite zu sprechen, die in keiner anderen Quelle erwähnt werden.”
Es war typisch für den kreativen Wibald, dass er ihm wichtige Dinge en passant in Werke anderen Titels einfließen ließ. Selbstverständlich existiert das Original der TSV aus dem 9. Jh. nicht mehr, sondern nur in Abschriften; die früheste stammt – wen überrascht es – aus dem 12. Jh! Folgen wir noch kurz den Schilderungen dieser TSV-Chronik:
815 wird auf dem Paderborner Reichstag die Gründung beschlossen, aber eine schlechte Ortswahl getroffen: Hethis, wohl bei Neuhaus im Sollinggebirge gelegen, stellt sich als unfruchtbar und ungeeignet heraus, aber Wiesemeyer [262] meint: „Trotz seiner materiellen Not erblüht das Klosterleben.”
Und trotz dieses wundersamen Erblühens im finst’ren Wald zu Hethis erbarmt sich Ludwig der Fromme sieben Jahre später und erwirbt die Weseraue in der Nähe des heutigen Höxter: „Am 6. August 822 kommen die Hethis-Mönche erstmals an ihren neuen Klosterplatz und ergreifen Besitz von ihm” [Wiesemeyer, 263]. Sie knien nieder, beten und singen Psalmen, holen die Messschnur und schlagen Pflöcke ein, zuerst für die Kirche, dann für die Wohngebäude der Brüder usw. Typisch für Wibald, denn bei ihm wird immer gerne und viel gesungen, gebetet und gefastet, dazu läuten Glocken, wenn vorhanden, usw.
Die Gebäude werden erstaunlich schnell errichtet, wie Klabes [206] meint, der sich auch auf die Vita Sancti Ansgari stützt. Denn danach können die Mönche schon im Herbst desselben Jahres die steinernen Klostergebäude beziehen, also einen Bau, der üblicherweise Jahre zur Errichtung erfordert hätte [s. Kloppenburg, 611 f.].
Vermutlich stammt die Vita Sancti Ansgari ebenfalls von Wibald, aber es haben sich Ungenauigkeiten bei der Vitenabstimmung eingeschlichen, so dass hier nur eine Bauzeit von zwei bis drei Monaten übrigbleibt. Klabes schließt daraus, dass die Mönche in vorhandene römische Steingebäude eingezogen sein müssen. Hier vertraut er zu sehr auf erfundene Schriftdokumente. Hingegen wird am Kirchenbau laut TSV bis 844 gearbeitet:
„Im Jahre 836, als die Vitus-Reliquien in feierlicher Prozession in Corvey eintreffen, befindet sich die Abtei in einem großen Aufschwung. Schon seit 10 Jahren [also nach 4 Jahren Bauzeit!] ist Anskar, der von Corbie kommende ehemalige erste Leiter der Corveyer Klosterschule, als Apostel des Nordens tätig. Auch seine Nachfolger als Erzbischöfe von Hamburg-Bremen werden noch viele Jahrzehnte lang Corveyer Mönche sein, so wie wir auch auf den übrigen norddeutschen Bischofssitzen, besonders in Hildesheim, oft Corveyer Mönche finden”[Wiesemeyer, 273].
Die Idee Wibalds, das Höxterkloster zu corbiesieren, war – wie sich immer wieder zeigt – einfach genial, denn vermutlich hätte niemand im 12. Jh. und später den Corveyern diese ganzen Histörchen abgekauft, wenn es nicht von eben diesem karolingischen Superkloster Corbie gegründet worden wäre (und Corbie ward damit auch gedient!). Widersprüchlichkeiten haben scheinbar nicht gestört, wie z.B. auch die, dass der Corveyer Gründungs-Grundbesitz einerseits Corbie gehört habe (dort sollen sich Mönche über das großzügige Geschenk aufgeregt haben), andererseits von Ludwig dem Frommen diesem Grafen Bernhard abgekauft und dem Kloster dann geschenkt wurde.
Jedenfalls wandelte sich durch diese Erfindungen das heidnisch-sächsische Hungerkloster im finsteren Wald plötzlich (die Sachsen mussten bekanntlich ständig von Karl dem Großen wegen ihres eingefleischten Heidentums schwertmäßig bekehrt werden!) – jetzt nahe Höxter – zu einem hellen Stern der Missionierung Nordeuropas.
Damit alle alles glauben, ist das Ganze – wie sonst auch bei Wibald – mehrfach vernetzt und parallelisiert durch Viten, Translations- und Passionsberichte, Annalen, Chroniken, Ostertafeln, Urkunden usw. Wir können hier nur wichtige Auszüge daraus darstellen.
Gefälschte Dokumente: fragwürdige Baudaten
Nun zu weiteren ‘gesicherten’ Baudaten aus Corvey, die dafür verantwortlich sind, dass unser Odysseus/Herkules zeitlich als karolingisch fixiert wurde; sie stammen aus den 1664 (!) gedruckten Corveyer Annalen (s.u.), diese vermelden:
870 brennt wegen Blitzschlages der Ostteil der Kirche aus;
873 geht man an die Fundamentierung der (West-)Turmanlage;
885 wird sie geweiht; es ist in schrägem Latein von einer trium turrium die Rede und die kritische Forscherin Beate Johlen [97] kommentiert hierzu lapidar:
„Mit Ausnahme der Nachricht über die »trium Turrium« 885 sind den Baunachrichten keine [!] konkreten Angaben zur Gestalt der karolingischen Klosterkirche zu entnehmen.
Die Datierung der anderen karolingischen Baukörper anhand der frühen schriftlichen Quellen ist demnach in höchstem [!] Maße unzuverlässig und weitgehend zu relativieren.”
Die Zeitangaben sind also unbrauchbar. Diese deutlichen Worte stammen von einer Kollegin von D. v. Schönfeld, aus dem Hause des (verstorbenen) Prof. Borger, der beide promoviert hat.
Hier könnte man den Fall bereits abschließen, denn wer den Datierungstreibsand sieht, auf den das hagiografische Konstrukt vom Heiligen Sankt Odysseus errichtet ist, der sieht es auch schon zusammenstürzen.
Es lohnt sich aber den Fall Corvey weiter zu verfolgen, denn Kreativabt Wibald hatte noch weitere Einfälle – und er hatte Nachfolger. Betrachten wir daher die mittelalterliche Urkundenreihe anhand ausgewählter Beispiele weiter. 832:
„[Ludwig der Fromme] schenkt dem von ihm in Sachsen zu ehren des h. Stephan und Veit erbauten kloster Neu-Korvey, dem sein verwandter Warinus als erster bestellter abt vorsteht, eine fischerei in der Weser im gau Wimodia beim weiler Lussum in der grafschaft Abbos, welche, weil mit pfählen, von den einwohnern hocas geheissen, erbaut, mit heidnischem namen hocwar genannt wird und die bisher graf Abbo zu lehen hatte, nebst 32 […] familien zum betrieb derselben” [Böhmer, Nr. 900].
Diese Urkunde gilt in der Zunft als Fälschung; insbesondere wird bestritten, dass Warinus der erste Abt gewesen sei. 833:
„verleiht [Ludwig der Fromme] auf fürsprache Hucberts und Ebos […] dem von ihm mit zustimmung seiner getreuen gegründeten und dotierten kloster Korvey in Sachsen, da diese gegend eines marktplatzes bedurfte, das recht öffentliche münze zu prägen mit den daraus fliessenden einnahmen” [Böhmer, Nr. 922].
Hier könnte man fragen, wo die entsprechenden Münzen geblieben sind; die Zunft spricht hier von einem auffälligen Privileg, dem ersten im rechtsrheinischen Deutschland [Wiesemeyer, 273, FN]. Ebenfalls 833 schenkt der Fromme Ludwig „sein eigentum an der salzquelle an der Weser zu Bodenfeld […] in Sachsen im Leinegau” [Böhmer, Nr. 923].
834 schenkt er die Villen Sülbeck und Hemeln [ebd., Nr. 927] und „die zelle Meppen im gau Agredingo” [ebd., Nr. 935]. Für 838
„bestätigt [Ludwig der Fromme; GA] dem von ihm am fluss Weser im Augagau gestifteten Kloster Neu-Korvey auf bitte des abts Warin, seines verwandten, und der matrone Addila den herrenhof Osthofen und den besitz in den städten Oppenheim und Wachenheim mit dem königsmansus Tyheile, welche Addila für das seelenheil ihres gatten Bunicho und ihrer kinder dahin geschenkt hatte […] Fälschung [!] […] besitz Korveys an den genannten orten (am linken Rheinufer zwischen Speier und Mainz) vom 9.-12. jahrh. nicht nachweisbar” [Böhmer, Nr. 983].
Ab 840 ist Ludwig der Deutsche für Bestätigungen und Schenkungen zuständig: Am 10. Dezember 840 bestätigt er dem Kloster Korvei frühere Schenkungen und schenkt noch zwei Mal zu diesem Termin [Kehr 1934; Nr. 26, 27, 28] und noch einmal am 14. Dezember 840.
843 schenkt dann Lothar I. dem Grafen Esich Besitz [Schieffer, 70], und dieser Graf ist so freundlich, diesen Besitz an Corvey weiterzuschenken, was dann wiederum Kaiser Lothar im Zeitraum 844-850 bestätigt:
„Lothar bestätigt dem Kloster Corvey den Besitz in der villa Kessenich im Ripuariergau, den er dem Grafen Esich geschenkt und dieser dann dem Kloster übertragen hatte.” [Schieffer , Nr. 112]
So großzügig können Grafen sein, wenn es um fantomzeitliches Seelenheil geht: kaum bekommen, schon zerronnen – wie es der große Wibald will. Auch wird vermerkt, dass diese Urkunde, wie andere auch, als Vorlage für eine Corveyer – diesmal amtlich bestätigte – Fälschung auf den Namen Kaiser Ludwigs des Frommen diente.
Der Fall: Insel Rügen
Der Versuch der Corveyer unter Abt Wibald, sich die rund 1.000 Quadratkilometer der Insel Rügen einzuverleiben, verdient einen eigenen Abschnitt. So heißt es in der als unecht geltenden Urkunde:
„Lothar schenkt dem Kloster Corvey nach seinem unter dem Schutze des hl. Vitus errungenen Siege über die Slawen die ganze Insel Rügen. Aachen 844 März 20.” [Schieffer, D 143]
So vermutete im 19. Jh. Wilmans [ebd., 320] tapfer, der hl. Ansgar hätte die dortigen Slawen bereits im 9. Jh. missioniert, woraus sich natürlich Besitzansprüche des Mutterklosters Corvey ableiten ließen. Aktuell wurden diese Begehrlichkeiten im 12. Jh., als im Rahmen des Zweiten Kreuzzuges Nebenkreuzzüge in das Slawenland stattfanden:
„Die Vorstellung, es gebe alte Rechtsansprüche Corveys im Slawenlande, insbesondere auf Rügen, scheint aufgekommen zu sein, als der Herzog Lothar von Sachsen (der spätere Kaiser) im J. 1114 einen Zug bis zu dieser Insel unternahm, denn die für diese Jahre gleichzeitigen, unter dem Abt Erkenbert geführten Annales Corbeiensis berichten zu 1114 über die von Lothar unterworfenen Slawen: s. Viti …” [Schieffer, 321].
Diese Erwähnung Rügens für 1114 in Corveyer Dokumenten, ist das einzige, das vor der Amtszeit Wibalds auf Rügen verweist, vorausgesetzt, man glaubt an die offizielle Entstehungszeit der Annalen (s.u.). Und immerhin ließ 1973 Stephan-Kühn [135 f.] einen Schatten auf Wibald fallen: Da bis auf
„die Stelle aus den Annalen alle anderen Hinweise auf Corveyer Besitzrechte an Rügen erst nach Wibalds Amtsantritt entstanden, ist es durchaus möglich, daß diese Urkunde von oder unter Wibald gefälscht wurde. […]
Daß als donator in Corvey ausgerechnet Lothar gewählt ist, könnte auf der Namensgleichheit mit Lothar III. beruhen, dessen Slavenzug von 1114, wie gezeigt, der Ausgangspunkt für die Corveyer Initiativen war.”
Auf Rügen fand sich ein slawischer Gott namens Swantevit, so dass der Herausgeber der Urkunden, Theodor Schieffer [321] meint:
„In Corvey hat man dann diese beiden angeblichen Überlieferungen zu der Nachricht verschmolzen, Lothar I. habe bei seinem Slawenkriege von 844 die Insel Rügen dem Kloster des hl. Vitus geschenkt. Der entscheidende Beleg dafür ist ein Zusatz in der gleichen Corveyer Ostertafel, welche sowohl die Annales Corbeienses wie den Chronographen enthält”.
Th. Schieffer [322] befindet, nachdem er einige Überlegungen anstellt, wann die Urkunde denn tatsächlich erfälscht worden sein könnte:
„Eine untere Grenze [der Datierung; GA] wird bezeichnet durch einen Brief des Abtes Wibald von (Stablo und) Corvey an den Bischof Bernhard von Hildesheim: der Wendenkreuzzug von 1147, so schreibt Wibald, gebe ihm Hoffnung […; auf Beute für Corvey; GA]. Wibald also war es, der 1147 die Corveyer Ansprüche auf Rügen realisieren wollte, und spätestens um diese Zeit und in dieser geschichtlichen Situation muß das fingierte D. 143 entstanden sein; […] Nehmen wir hinzu, daß diese Ansprüche vor 1147 kaum aktuell gewesen sein können und daß der aktive Abt Wibald erst im Oktober 1146 die Leitung von Corvey übernommen hatte, so ist es, wenn auch nicht strikt erweisbar, so doch hochwahrscheinlich, daß eben in diesem Jahre 1147 D. 143 als Rechtstitel angefertigt wurde. Erfolg hatten diese Bemühungen natürlich nicht, doch wird die Insel Rügen auch in den Bestätigungsprivilegien Hadrians IV. vom 25. Februar 1155 und Lucius’ III. vom 29. Oktober 1184 […] aufgeführt, und noch im 14. Jh. ließ Corvey beglaubigte Abschriften des D. 143 herstellen”.
Wurde somit Kreativabt Wibald bereits im 19. Jh. (100 Jahre vor Th. Schieffer, 140 Jahre vor Rudolf Schieffer) als Fälscher entlarvt? Oder wurde er es nicht, denn die Urkunde wird zwar als unecht bezeichnet, aber ein expliziter Fälschungsvorwurf gegen Wibald fehlt. Vielmehr wird im Diplomaten-Diplomatikjargon vorsichtig formuliert: „in dieser geschichtlichen Situation muß das fingierte D. 143 entstanden sein”, wie es oben heißt.
In der Tat. Aber wer sonst als Abt Wibald persönlich kommt als Urheber in Frage, oder soll man ernsthaft annehmen, dass etwa ein Subalterner die D. 143 in vorauseilendem Gehorsam gefertigt haben könnte, um sie dann dem Abt zu seiner Rückkehr aus eben dem Feldzug vorzulegen, worauf dieser dann hocherfreut ausruft: Na da ist sie ja, unsere lang vermisste Urkunde!
Lange vor Faußner gab es somit Anlässe, an Wibalds Rundumseriosität zu zweifeln. Aber vermutlich ließ die Ehrfurcht vor dem großen Wibald derartige Zweifel nicht zu, wurde er doch im 19. Jh. in einer Buchvorrede z.B. wie folgt charakterisiert:
„Wibald ist bisher in der Geschichte weniger hervorgehoben worden und doch war sein Leben und Wirken als Abt, Staatsmann und Gelehrter so vielseitig und segensreich [!], daß man ihn den größten Männern des zwölften Jahrhunderts beizählen muß” [Janssen, Vorwort].
Ganz so unumstritten und leuchtend scheint er zu Lebzeiten doch nicht gewesen zu sein, denn immerhin wird ein Mordversuch auf ihn als Abt von Corvey vermeldet [Mann, 48]. Aber sein Ruhm überwog und währt lange: Noch in den 1980er Jahren wurde versucht, einen wahren Kern der Corveyer Rügentradition zu verfechten, so dass sich K. H. Krüger 1986 veranlasst sah, auf dem Fälschungskongress in München dagegen einzuschreiten. In dieser Arbeit rückt er wiederum Wibald in die engere Auswahl der möglichen Fälscher. Dabei wird deutlich, wie breit Wibald diese Fälschung aufgezogen hat, denn selbst eine dänische Quelle belegt den Vorgang [Krüger, 377]:
„Die wunderbare Eroberung der Rügenfestung Arkona mit Hilfe des Corveyer Heiligen Vitus schildert dann aus dänischer Sicht Saxo Grammaticus, der Schreiber des beteiligten Erzbischofs Absalom von Lund, in seinen bis 1185 reichenden Gesta Danorum.”
War das eine kleine Gefälligkeit unter den Kollegen Erzbischof bzw. Abt? Oder wollten gar die Dänen Rügen haben? Zumindest passierten im ganzen Hin und Her auch Fehler, wie der, dass man Karl den Großen 789 auch noch Rügen erobern und verfügen ließ, dass die entsprechenden Tribute nach Corvey abzuliefern seien. Corvey war aber zu diesen Zeitpunkt (s.o.) noch gar nicht gegründet/erfunden worden!
Auch scheinen dem Fälscher die Herrschaftsgebiete der Kaiser durcheinandergekommen zu sein: Lothar schenkt 844 den Corveyern die Insel (s.o.), aber der zuständige fantomzeitliche Eroberungskaiser wäre Ludwig der Deutsche gewesen. Krüger kommt zu einer bemerkenswerten Würdigung:
„Unter Abt Wibald hatten die Mönche den Versuch, ein vermeintliches historisches Erbe zu bewahren, mit den unzulänglichen Mitteln ihrer Gegenwart konsequent unternommen. Auch wenn eine neue Generation die beiden Erkenntniswege der Vorgänge fahrlässig preisgab und die verbliebenen Wissenslücken mit den reinen Fiktionen im Text des DLo.I. 143 spur. vergeblich zu füllen suchte – die methodische Anstrengung Wibalds und seiner Helfer bleibt beachtenswert” [Krüger, 396].
Slawengott Svantevit bzw. der von Wibald erdachte Svante-Vitus sollte den Corveyern ihre Beute sichern. Doch die Wibaldschen etymologischen Anstrengungen waren erfolglos, denn Corvey konnte den Anspruch auf Rügen nie durchsetzen. So viel zum Fall Rügen, einem exemplarischen, wenn es um Fälschungen des 12. Jh. für das frühe Mittelalter geht und aufschlussreich für die Einschätzung des großen Wibald.
Schließen wir nun unsere Corveyer chronique scandaleuse mit einigen letzten urkundlichen Nennungen.
„Ludwig [der Deutsche] schenkt dem Kloster Korvei die villa Litzig mit den dazu gehörenden Leuten. […] Aachen 870 September 25″ [Kehr 1934; Nr. 132]. Gilt offiziell zu Abwechslung als echt: Das umfangreiche Hofgut Litzig (Lizzicha, Liziazi, izyazi), das Ludwig hier verschenkt, liegt bei Traben-Trarbach; dort wird die Urkunde als früheste Ortserwähnung gefeiert. 873-885:
„Ludwig [der Deutsche] beurkundet, daß im Sinne der von Ludwig dem Frommen dem Kloster Korvei verliehenen Immunität auch die Zehnten von den Fronhöfen nicht an die Bischöfe, sondern an das Kloster abzuliefern seien. […] Aachen 873 Juni 16″ [Kehr 1934; Nr. 184].
Dieses Pergament gilt allgemein als gefälscht – pardon – verunechtet, nicht zuletzt wegen des ungewöhnlichen Inhaltes! Immunitäten mussten von den Fälschern wohl dauernd erneuert werden, denn es heißt für 882 wieder: „Karl [III.] bestätigt dem Kloster Korvei Immunität mit Königsschutz” [Kehr 1937; Nr. 62]. Und – dreifach genäht hält besser – noch einmal für 887:
„Karl [III.] bestätigt dem Kloster Korvei die von Ludwig dem Frommen verliehene Befreiung von der Heerespflicht mit der Einschränkung, daß während der gegenwärtigen Bedrohung des Reiches 30 Edelleute als Begleiter des Abtes als königlichen Missus von ihr frei, die übrigen aber zum Heeresdienst verpflichtet sein sollen, und schenkt dem Kloster Lehen im Wesigau und in Hessen zu eigen” [Kehr 1937, Nr. 158].
Hier zweifelt die Zunft, vertreten durch P. Kehr [1937, 255 f.] und vermerkt: „verunechtet?”, obwohl dann weiter ausgeführt wird, dass letztlich doch keine Zweifel an der Echtheit und der Originalität bestehen.
Hier sei die fantomzeitliche chronique scandaleuse beendet; sie ließe sich fortsetzen. Wir halten fest: Schon vor Faußner sind etliche dieser Urkunden als gefälscht erachtet worden und hätten misstrauisch machen können und sollen: bezüglich der Corveyer Geschichte, der Einschätzung des Abtes Wibald und bezüglich des benediktinischen Heiligen Sankt Odysseus. Wie dargelegt, beruhen die Datierungen des Westwerks in die von uns so genannte Fantomzeit auf – obendrein dürftigen – Fälschungen, die in der Zeit nach dem Wormser Konkordat, erstellt wurden.
Anregung 6: Man misstraue auch schriftlichen Zeugnissen der Neuzeit: die Corveyer Lügenhistoriker
Wir verlassen das Mittelalter und dürfen feststellen, dass es in Corvey einen Fälschungsvirus geben haben muss, den vielleicht Wibald eingepflanzt hat. Als im 17. Jh. ein Ruck durch die Abtei ging und die Barockkirche gebaut wurde, sammelte man dort auch fleyßig Geschichtsdaten:
„Im Zusammenhang mit der Barockzeit in Corvey ist die Rezeptionsgeschichte der Corveyer Annalen von außerordentlicher Bedeutung. Die Beda-Handschrift wurde mit ihren wichtigen Notizen zur Institutsgeschichte über die Jahrhunderte in der Corveyer Klosterbibliothek aufbewahrt. […] Im Dreißigjährigen Krieg ging die Beda-Handschrift während der Plünderung Corveys im Jahre 1634 verloren. Die mit Mühe wieder hergebrachten Reste wurden seitdem als kostbare Cimilie gehütet. Unter der Administration des Münsteraner Fürstbischofs Christoph Bernhard von Galen, dem Bauherrn der Klosterkirche des 17. Jahrhunderts, begann im Rahmen der Neuordnung aller klösterlichen Besitzstände ein groß angelegtes Sammeln und Ordnen des überkommenen Archivmaterials. Aus Interesse an einer schriftlichen Überlieferung der institutionellen Tradition ließ er 1664 zur erneuten Komplettierung der Corveyer Geschichtsschreibung die sogenannten »Copionale secundum« anlegen. In diesem Band steht eine bis heute überlieferte Abschrift [!] der Corveyer Annalen.” [Johlen, 97]
Und Johlen [97 f.] gießt weiter Wasser in diesen schon arg verdünnten Annalenwein des Klosters zu Höxter:
„Zeigt das beharrliche Aufzeichnen annalischer Texte durch Jahrhunderte hindurch den Willen zur Kontinuität innerhalb der Mönchsgemeinschaft, so liegt die Besonderheit der Historia in der Ungleichzeitigkeit von Geschehen und erneuter Aufzeichnung. […] um den Nachweis einer ungebrochenen Tradition fortführen zu können.”
Diese „Ungleichzeitigkeit von Geschehen und erneuter Aufzeichnung”, wie es hier so schön formuliert ist, heißt auf gut deutsch: Wir schreiben uns unsere Geschichte so zusammen wie wir sie brauchen, ohne große Rücksicht auf das tatsächliche Geschehen.
In fragwürdiger Weise hilfreich waren dabei die tatsächlich so genannten Corveyer „Lügenhistoriker”, die im Dunstkreis des Klosters arbeiteten, wie z.B. Christianus F. Paullini (1643-1711).
Dieser steht u.a. in Verdacht, das Chronicon Hüxariense verfasst/verfälscht zu haben, und er hatte mit den Annalen zu tun:
„Von den Nachkommen des Hersfelder Rektors Michael Uranius, mit dem er mütterlicherseits verwandt war, erhielt Paullini angeblich die Originalhandschrift der Ann. Corb. Leider gab er sie, mit den übrigen Originalen seiner Editionen, einem Humanistenbrauche folgend, in die Druckerei, wo sie zu Grunde ging.” [Backhaus, 8]
(Immer diese Reißwolf-Druckereien. Originalhandschriften aus Klöstern waren doch sicher auch im 17. Jh. noch gut bezahlt?) Paullini hatte schon zu Lebzeiten einen so schlechten Ruf als Erfinder und Verfälscher, dass er an die Originale der Klosterbibliothek in Corvey nicht herangelassen wurde [ebd., 25].
Ein weiterer Corvey-Skribent mit nachgewiesenen Fälschungen ist Johann Friedrich Falke (1699-1753); er hat ein Chronicon Corbeiense verfasst, von der auch die Vita Sancti Ansgari abhängen soll. Das Werk wurde nicht einmal in die Monumenta aufgenommen. Es ist verwandt mit der Chronik von Widukind, einem Wibald-Werk [s. Anwander 2007b]; Backhaus [30] meint hierzu:
„Die Erzählung der Ungarnkriege ist in der Chronik viel ausführlicher und lebendiger als bei Widukind. Sieht man aber näher zu, so macht man die Entdeckung, daß ganze Partieen der Darstellung wörtlich aus Caesar entlehnt sind, und zwar sind das gerade die Partieen, die bei Widukind fehlen.”
Sollte dem Widukind im 10 Jh. der Cäsar noch nicht vorgelegen haben in der so reichlich mit antiken Werken ausgestatteten Bibliothek des 9. Jh. [s. Otte]? Backhaus schließt daraus, dass nur Falke den alten Widukindtext für sein Chronicon mit Cäsartexten angereichert haben kann.
Das Thema ist schier unerschöpflich; so sollen nur noch zwei Namen wichtiger Fälscher genannt sein: Harenberg und Letzner, um abschließend mit Johlen [139] festzustellen:
„Man verfolgte – nicht zuletzt auch mit dem Wirken der sogenannten Corveyer „Lügenhistoriker”, die durch umfangreiche Geschichtsfälschungen die Tradition der Corveyer Institution betonen sollten – das Ziel, die geschichtliche Bedeutung Corveys zu glorifizieren, um seine eigene Position zu stärken.”
So dürfte es gewesen sein mit der Geschichtsschreibung zu Corvey. Leider wird diese schlechte Tradition offensichtlich bis heute gepflegt!
Resümee 1: Armes Corvey
Lesen wir dazu noch einmal kurz aus der Geschichte des Klosters Corvey, wie sie beispielsweise ganz liebevoll – von Studenten der Uni Paderborn – im Internet dargestellt ist [http: groups, S. 5]:
„Die Geschichte Corveys hängt zusammen mit der kulturellen Entwicklung Europas im frühen Mittelalter. Der Bau der 844 geweihten Klosterkirche – einer schmalen dreischiffigen Basilika mit Querschiff und Umgangsapsis – wurde um 830 begonnen. Die Bedeutung Corveys in dieser Zeit bezeugen die Hauptpatrozinien St. Stephanus und St. Vitus. Die ersten 400 Jahre der Geschichte des Klosters waren geprägt durch eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Das Kloster besaß unter anderem eine Bibliothek mit herausragenden Objekten der Buch- und Schreibkunst, in der kostbare Schriften aus der Antike aufbewahrt wurden. Ab dem 10. Jahrhundert löste sich Corvey von der westfränkischen Kultur, womit der unaufhaltsame Niedergang begann. Der letzte bedeutende Abt des ausgehenden [?] Mittelalters war Wibald von Stablo (1146-1158).”
Jeder einzelne Satz hier ist – wie dargelegt – unzutreffend (wie bei den anderen Internetjubelauftritten s.o.). Man darf sich über die Naivität dieser Studenten wundern; (Immer schön nachbeten, was einem gesagt wird und um Gotteswillen nicht selber denken und kritisch forschen, das schadet nur der Karriere)! Auf ähnlich hohem wissenschaftlichem Niveau wie diese Studenten bewegen sich Claussen, Skriver, Lobbedey u. a., wenn sie mithilfe der zitierten schriftlichen Quellen meinen, ihren Odysseus mit Gewalt christianisieren zu müssen, um damit das erste und letzte karolingische Westwerk als Weltkulturerbe zu installieren.
Man könnte nun milde den Corveyer Hauptfälscher Wibald als fürsorglichen Mann sehen, der versuchte – cosi fan tutte – seine Klöster (und er liebte Klöster [s. Jakobi, 281-288]) heil durch die Zeiten zu steuern. Das kann aber heute kein Grund dafür sein, ihm und seinen infizierten Nachfolgern als Wissenschaftler auf den Leim zu gehen.
Daher: armes Corvey! Selbst Dein Name ist erfälscht, und kein Mönch kam je im 9. Jh. von Corbie zu Dir! Kein Ansgar, kein Radbertus, kein Adelhard oder sonstwer war je in Deinen Mauern zu Gast oder hat von hier aus Norddeutschland, Rügen oder gar Skandinavien missioniert! Kein Karl der noch so Große oder Lothar I. hat im 9. Jh. Rügen für Dich erobert. Im frühen Mittelalter zierte Dich keine Bibliothek mit antiken Werken, brachte keine Klosterschule Schüler hervor, fertigte kein Skriptorium Urkunden und Annalen aus, wurden Dir keine Reliquien von Saint-Denis überbracht – denn diese Zeit existierte nicht, und Deine (längst abgerissene) Basilika dürfte frühestens im 10. Jh. und keinesfalls 844 errichtet worden sein. Und Dein aufregendes sog. karolingisches Westwerk ist ein verschandelter römischer Bau, mit schlecht konservierten und geschützten, verblassenden Fresken.
Wissenschaftlich-nüchtern betrachtet spricht also nichts für Deine Existenz im Frühmittelalter. Du hättest bessere Wissenschaftler verdient, denn Du bist ein ganz heller Stern am Himmel der abendländischen Baukunst.
Aber das Westwerk soll vermutlich deshalb um jeden Preis frühmittelalterlich glänzen, weil es die einzige und damit auch letzte karolingische Westwerk-Trutzburg ist, zu der sie von Effmann & Co vor rund hundert Jahren verklärt wurde. Die heutigen AutorInnen stehen damit in der wenig ruhmreichen Tradition national berauschter Trutzwestwerkforscher wie Nordhoff, Effmann, Fuchs u.a. [s. Anwander 2007a] und bilden hoffentlich den überfälligen Abschluss dieser unguten Serie. Und Corvey ist offiziell neben Aachen das einzig verbliebene nahezu ganz erhaltene Bauwerk der Karolingerepoche überhaupt und das auch noch angesichts der Tatsache, dass Aachen längst wankt[s. Illig ab 1992; Hoffmann lt. Illig/Niemitz 2004]
Würde die Datierung des Oktogons zu Aachen für 800 auch offiziell fallen, dann wäre Corvey die allerletzte Zufluchtsstätte für die von Zweiflern bedrängten Freunde karolingischer Baukunst. Würde dieses Corvey dann auch noch verschwinden, dann blieben nur noch die Gräber, Grüfte und Krypten, in denen Franken und Karolinger nach der spöttischen Vermutung eines Journalisten angesichts der großen Frankenausstellung von 1996 einst ausschließlich hausten [http://www.mantis-verlag.de/c.html]. Das alles hat Corvey nicht verdient, denn
Resümee 2: Reiches Corvey
Es gibt Hoffnung für Corvey – und den Machern des Regionalmarketingkonzeptes von Höxter und Corvey kann man nur empfehlen, baldigst das römische Corvey zu propagieren, das obendrein wesentlich bedeutsamer und zugkräftiger wäre als das zweifelhafte karolingische. Wo sonst nördlich der Alpen und weit jenseits von Limes und rechts des Rheins gibt es römische Gebäude- und Freskenreste? Als angenehmer Nebeneffekt muss die spätantik-römisch-germanische Geschichte im norddeutschen Raum neu geschrieben werden; Autoren der Zeitensprünge und andere sind schon seit längerer Zeit an der Arbeit.
Als weiterer Aspekt sei kurz angedeutet: Wenn Corveys Westbau römischen Ursprungs ist – wovon wir ausgehen – dann eröffnet dieser Befund neue Perspektiven für die Entwicklungsgeschichte abendländischen Kirchenbaues. Dann besteht ein wesentlich engerer Einfluss römischer Baukunst auf Anfänge und Ausprägungen ottonisch-romanischer Architektur, als bisher angenommen werden konnte. Corvey als repräsentativer Römerbau dürfte dank seiner Qualität und handwerklichen Solidität ein Schlüsselbauwerk, insbesondere für die niederdeutsche Romanik gewesen sein!
Unter diesem neuen Aspekt würden auch die lächerlich wirkenden Begriffe der alten Westwerkdebatte wie Degenerationsentwicklung und/oder reduziertes Vollwestwerk einen Rest von Sinn erhalten, da das Ursprungs-Westwerk ein Relikt aus einer anderen, hochentwickelten (Bau-)Kultur darstellt und nicht Produkt der fiktiven Super-Karolinger [s. Anwander 2007a].
Daher: Reiches Corvey! Betrachtet man allein den Aufriss des Obergeschosses Deines Westbaues (s. Abb.), dann hat man die Gliederungselemente einer romanischen Basilika vor sich: Arkaden mit einem Biforium darüber, und dann eine Fensterreihe. Sieht man das zusammen mit Deinem interessanterweise seit altersher als „Krypta” bezeichneten Raum [Dehio, 244], also Deinem vormaligen Quadrifrons, tatsächlich als eine solche, dann darfst Du als fast perfektes Vorbild einer romanischen Basilika gelten. Und damit bist Du eines der wichtigen Vor-Bilder für den abendländischen Kirchenbau!
Auch der Umstand, dass Du aus einem Römerbau in ein Kloster umgewandelt wurdest, müsste die Fantasie der Zunft und aller Geschichtsinteressierten beflügeln, besonders angesichts der Fantomzeitthese, die richtigerweise die Epoche der Romanik um rund 300 Jahre näher an die Antike rückt.
Wäre das alles nicht mehr als ein Grund zum Feiern und Grund genug, um zu Recht Weltkulturerbe zu heißen? (Wir begrüßen den Antrag für die Unesco!) Aber vielleicht handelt man auch in Corvey – nach wie vor in schlechter Wibaldtradition und anderer Corveyer Lügenhistoriker stehend – lieber gemäß des Mottos:
mundus vult decipi, ergo decipiatur!
Die Welt will betrogen sein, darum sei sie betrogen! Vergessen wir daher alles was wir hier über Corvey ermittelt haben – der leichtgläubige Bildungsbürger Europas wird weiter die altvertrauten Corveyer Geschichten abkaufen, das letzte Karolingerbauwerk besuchen, bestaunen und dabei reichlich Euros zurücklassen!
Literatur
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Bezüglich der Einlassungen zur angeblichen oder tatsächlichen karolingischen Ingelheimer Kaiserpfalz möchte ich korrigierend auf folgende Punkte hinweisen:
1. Mörtel mit Ziegelmehl (auch sog. Ziegelkleinmörtel), der sog. “hydraulische Eigenschaften” hat, also nicht nur trocknet, sondern sich beim Abbinden chemisch verbindet und dadurch teilweise wasserfest wird, ist kein Alleinstellungsmerkmal römischer Bauten (im Gegensatz zu dem von den Römern verwendeten, ebenfalls hydraulischen Puzzolanzement) und wird von der “Schulwissenschaft” ebenfalls als üblich für frühmittelalterliche bzw. als karolingisch angesprochene Bauten angesehen. Er ist also auch aus Sicht der “Schulwissenschaftler” kein “Hauptkennzeichen römischen Bauens”.
2. Anwander ist offenbar entgangen, dass die Kaiserpfalz Ingelheim schon vor dem Bau der als ottonisch eingeordneten Saalkirche eine eigene, als Dreikonchenanlage ausgebildete Pfalzkapelle besass, die nördlich ihres heute noch in Teilen stehenden ottonischen Nachfolgerbaus stand und seitens der “Schulwissenschaft” als karolingerzeitlich eingeordnet wird. Dieser Sakralbau wurde bei den Grabungskampagnen Holger Grewes zwischen 1994 und 2003 ergraben. Offenbar bezieht Anwander seine Behauptungen aus den Vorarbeiten Günter Lelarges und Heribert Illigs von 2001, denen die archäologischen Erkenntnisse zur ingelheimer Pfalz offensichtlich nicht bekannt waren.
3. Die Ingelheimer Kaiserpfalz ist von der “Schulwissenschaft” nicht allein über den Golddenar Karl dem Großen zugeordnet, sondern besipielsweise auch über karolingische Silbermünzen, die Lelarge bei seinen “Forschungen” schlichtweg übergangen hatte. Ganz abgesehen von den zahlreichen weiteren Stücken von Schmuck und Bauzier, die seitens der “Schulwissenschaft” der Karolingerzeit zugeordnet wurden, von Lelarge aber ignoriert oder ohne Erklärung “umdatiert” wurden.
Die Hinweise zur Ingelheimer Kaiserpfalz in Gerhard Anwanders Anregung ist also bitte mit etwas Vor- oder Nachsicht zu befolgen.
Beste Grüße
mmg
Danke für die Hinweise. Es ist wohl an der Zeit, den Stand der Untersuchungen zu Ingelheim aufzufrischen. Eine erste Analyse der Angaben der Webseiten zur „Kaiserpfalz Ingelheim“ lässt vermuten, dass nach Halbkreisbau, Aula und Wasserleitung damit ein weiterer Römerbau lokalisiert worden ist.
Es ist höchst zweifelhaft, dass man im FMA mit Ziegelkleinmörtel gearbeitet hat, trotz einiger Datierungen von Bauten in diese Zeit, in denen dieser Mörtel verwendet wurde. H. Illig vertritt ein Wiederauftreten des „Römermörtels“ Mitte bis Ende 10. Jahrhundert, zunächst schlecht nachgemacht, siehe z.B.: Illig, Heribert; Mörtel mit Zuschlag. Ein Diskussionsbeitrag zu Ingelheim und Aachen; ZS 2002 (1); S. 145-149 und auch Illig, Heribert; Roter Mörtel in Aachens Pfalzkapelle; ZS 2003 (3) S. 538
Bezüglich der „karolingische Silbermünzen“ wäre eine Quellenangabe nicht schlecht, ebenso für die „zahlreichen weiteren Stücke von karolingischem Schmuck und Bauzier“.
Weder die Webseite der “Kaiserpfalz Ingelheim” noch die Literatur zu diesem Bauwerkskomplex legen den Schluss nahe, dass hier Reste von Römerbauten gefunden wurden. Römische Beifunde wurden keine gemacht, die Architektur und die Bauzier weisen nicht auf Römer hin. Halbkreisbau, Aula und Wassreleitung werden von Archäologen und Historikern als “karolingisch” angesprochen und diese Ansprache in sich schlüssig begründet. Auch wenn man diese Zeit als Fantomzeit unter Generalverdacht stellt, bleiben keine schlüssigen Indizien, den Baukomplex mit seinen Begleitfunden “umzudatieren”. Die Ingelheimer Kaiserpfalz stellt für die Fantomzeitthese noch immer ein ungelöstes Problem dar.
Als einziges Indiz für eine römisch-antike Entstehung der Pfalz wird der Ziegelkleinmörtel der Wasserleitung angesprochen. Die Verwendung von Ziegelkleinmörtel war jedoch nicht allein den Römern vorbehalten, er wurde durchgängig bis in die Gegenwart verwendet. Zwar gibt es viele Römerbauten, die Ziegelkeinmörtel verwendeten, doch lässt das weder denn logischen Schluss zu, dass aller Ziegelkleinmörtel römisch sein müsse, noch genausowenig, dass alle Römerbauten mit diesem Material errichtet worden wären. Ziegelmehl war auch in nachrömischer Zeit, darunter bei karolingischen, romanischen, gotischen und neuzeitlichen Bauten im Einsatz und kann dort nachgewiesen werden (z.B. an der romanischen Abteikirche von Susteren, siehe: [1] ; im gesamten Mittelalter war Ziegelklein ein üblicher Mörtelzusatz, siehe z.B. [2] oder [3] ) Die Argumentationskette “Ziegelkleinmörtel=Römisch”, die irgendwann (von Illig?) in die Debatte eingeführt wurde, beruht auf einem Missverständnis: Der Ziegelkleinmörtel ist hydraulisch und hat damit ähnliche Eigenschaften wie der römische Puzzolanmörtel, der tatsächlich ein Indikator für eine römerzeitliche Entstehung ist. Da Puzzolan (eine vulkanische Asche mit hydraulischen Eigenschaften) und Ziegelklein (zerbrochene, zerstossene oder gemahlene Ziegel aus gebranntem Lehm) allerdings nicht das gleiche sind, ist auch die Gleichsetzung als Datierungsmerkmal unzulässig. Warum Illig bei gut dokumentiertem Einsatz von Ziegelkleinmörtel in Bauten aller Zeiten seit der römischen Antike ausgerechnet für die Zeit zwischen 614 und 911 eine Fundleere postuliert und dabei z.B. die Ziegelklein-befunde in den Pfalzresten von Aachen und Ingelheim ignoriert, ist unklar. Dass Illig zudem behauptet, der gefundene Ziegelkleinmörtel in Aachen und Ingelheim seien gar ein Indiz gegen die angenommene Entstehung in karolingischer Zeit, ist in sich nicht logisch und ein Zirkelschluss. Ziegelkleinmörtel an sich ist kein eindeutiges Datierungsmerkmal, da er seit der römischen Gegenwart bis in die Gegenwart ungebrochen Verwendung findet. Entsprechende Datierungsversuche zum Ziegelkleinmörtel, die für die Fantomzeit argumentieren wollen, sind mit äusserster Vorsicht zu betrachten.
Was die Beifunde in der Ingelheimer Kaiserpfalz angeht, ist deren Zahl, anders als von Lelarge/Illig vermittelt, wesentlich höher. Tatsächlich sind in der Presse und auf den einschlägigen Webseiten nur die “Sensationsfunde”, also z.B. die Goldmünze und die goldene Riemenzunge im Tassilostil, gewürdigt. Die üblichen und unspektakulären Kleinfunde wurden dagegen in der Öffentlichkeitsarbeit kaum beachtet, dennoch gab es diese. Noch sind die Ergebnisse der nun über 15 Jahre dauernden Grabungskampagne von Holger Grewe nicht in Buchform veröffentlicht, einige Kleinfunde werden aber bereits jetzt im Museum an der Kaiserpfalz und den Ausstellungstafeln im Grabungsgebiet gewürdigt. So lässt sich beispielsweise der Schautafel in der Aula Regia entnehmen, dass ein Silberpfennig (Denar) Karls des Großen von vor 790 in der Aula regia gefunden wurde, und dass auch “Münzen und Bestandteile von Tracht und Schmuck aus Edelmetall […] zu den kunsthistorisch wertvollsten Funden der archäologischen Grabung [in der Ingelheimer Pfalz zählen].”
Beste Grüße
mmg
Die Beschreibungen auf der aktuellen Website Ingelheims sprechen manches deutlich an:
Wenn man ergänzt, dass das halbrunde Peristyl nach der Römerzeit nördlich der Alpen nicht mehr gebaut worden ist, dass die Aula in ihren Proportionen von Höhe zu Breite keineswegs karolingisch-ottonisch-salischem Typ entspricht (ein noch nicht vorgebrachtes Indiz), sondern römischen Abmessungen, dann ist der Befund einer römischen Anlage mit guten Indizien untermauert.
Man sollte nicht vergessen, dass der Fantomzeitler zwischen den Zeilen der Darstellungen lesen muss, dass er Dinge durchaus auch mal begründet anders sehen darf. Dass er nicht dem Zwang unterliegt, eine archäologisch schlecht belegte Zeit mit Funden füllen zu müssen. Dass er die Urkunden dieser Zeit (z.B. wegen der schlechten Fundlage) initial als Fälschungen betrachtet und „Mäuerchen“ nicht gleich datiert, weil es ein „passendes“ Schriftstück gibt, usw.
Zum Ziegelkleinmörtel: Illig hat in die Diskussion gebracht (siehe die früher erwähnten ZS-Artikel), dass der Kölner Dombau, der abwechselnd mittleren oder späteren Karolingern, aber auch Ottonen zugeschrieben wird und von dem noch aufgehendes Mauerwerk erhalten ist, ganz unten ohne roten Mörtel begonnen, dann mit rotem Mörtel fortgeführt, aber sicher nicht zu Ende geführt worden ist. Das schien ihm damals zu zeigen, dass – selbst wenn es ein karolingischer Bau gewesen wäre – dieser zunächst ohne diesen roten Mörtel begonnen worden wäre. Insofern musste dieser Mörtel beim abendländischen Mauern nach den Römern neuerlich zum Einsatz gekommen sein.
Anwanders Interpretation ist hier zu römerzentriert, Ziegelkleinmörtel als alleiniges Argument zählt nicht, da stimme ich Ihnen zu. Wird er aber kombiniert mit anderen Römerhinweisen, dann ist er als Zusatzargument durchaus geeignet.
Zu den Ingelheimer Karolingerfunden: Lelarge und Illig waren damals für ihren Artikel in Ingelheim und haben sich unter anderem im dortigen Museum informiert und orientiert. Damals war noch von keinen Silbermünzen die Rede. Wie damals beschrieben, passten die wenigen Stuckreste und sonstigen Winzigkeiten in Zigarrenschachteln – ein für ein Museum doch eher unübliche Präsentationsweise.
Illig erinnert sich, dass nach Entdeckung der ottonischen Pfalzkapelle ohne karolingischen Vorgängerbau öffentlich darüber nachgedacht wurde, wo der Kaiser seiner Gottesdienstpflicht nachgekommen sei, hätte er doch etliche Kilometer bis zur nächsten, als karolingisch ausgewiesenen Kirche reiten müssen, was indiskutabel erschien. Damals sprach niemand von dieser zusätzlichen, älteren Kirche in Ingelheim. Im Internet sind heute noch die Grafiken zu sehen, auf denen von einem Trikonchosbau, nicht von einer Kirche die Rede ist. Es ist also damals nichts unterschlagen oder ignoriert worden.
Der Vorwurf, bis heute noch nicht Veröffentlichtes, vor Jahren nicht berücksichtigt zu haben, erinnert fatal an Sven Schüttes Vorwurf, seine demnächst erscheinende Monographie über den Aachener Karls-Thron nicht berücksichtigt zu haben. Wir warten noch immer … nun schon fast 10 Jahre.
Andererseits hat es sich inzwischen deutlich gezeigt, dass es immer wieder notwendig ist, schon bearbeitete Stellen zyklisch wieder zu betrachten, da die Archäologie, aufmerksam geworden auf die Fundarmut, sich bemüht, die „Delle“ zu verfüllen, die wir zur „Lücke“ machen. Siehe z.B. Frauenchiemsee. Insofern ist man gut beraten, sich immer wieder auf den aktuellen Stand zu bringen. Deshalb nochmals Dank für den Hinweis, dass sich in Ingelheim wieder Arbeitsbedarf entwickelt.
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