Eine weitere Sichtung von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 3/2014)

Müller, Harald / Bayer, Clemens M. M. / Kerner, Max (2014): Die Aachener Marienkirche: Aspekte ihrer Archäologie und frühen Geschichte. Der Aachener Dom in seiner Geschichte · Quellen und Forschungen Band 1. Herausgegeben im Auftrag der Europäischen Stiftung Aachener Dom; Schnell & Steiner, Regensburg, ca. 320 S., 60 schwarz-weiße und 64 farb. Abb. = MBK

Kaum war im letzten Heft die Baugeschichte der Aachener Pfalz zusammengestellt und in den Druck gegangen, erschien bereits das nächste einschlägige Buch, nun konzentriert auf die Pfalzkirche selbst. Und es wird nicht das letzte bleiben, firmiert es doch als erster Band einer vielleicht langen Reihe. Da sich das vorliegende Buch auf die Quellen, ansonsten auf Untergrund und Fundament der Kirche beschränkt, bleiben noch etliche Möglichkeiten: ein Buch für das Sechzehneck, eines für das Achteck, eines für das Äußere etc. etc. Schlussendlich wird der Aachener Dom die bestdokumentierte und -ergrabene Kirche Deutschlands sein!

Die Reihe der Einzelartikel verschiedener Autoren beginnt mit dem Bericht des Stadtarchäologen Andreas Schaub: Vorrömische Spuren im Dombereich, ab der Jungsteinzeit, der für unser Anliegen keine Dramatik birgt.

Erweiterte Bauabfolge

Als nächstes wird von Schaub und Kathrin Nowak die römerzeitliche Besiedlung vor dem Thermenbau vorgestellt. Sie begann mit eher provisorischen Bauten aus Holz und Lehm, die wegen der vielen Überbauungen kaum nachweisbar sind [MBK 19]. Unter der Domvorhalle ergab sich eine Stratigraphie, während solche Bodenerscheinungen bei den Grabungen von 1910 noch nicht als archäologischer Befund wahrgenommen worden sind [MBK 31]:

– Natürlich gebildeter Löss;

Bauphase 0: das älteste Laufniveau. Hellgraue, lehmige Schicht, die Funde ab der Jungsteinzeit enthält, zuoberst die ältesten römischen Gegenstände; [MBK 20].

Bauphase 1 (Holz): Dunkelgraue, stark lehmige Schicht mit vielen Holzkoh lepartikeln. Neben vereinzelten vorrömischen Objekten primär Kulturreste aus der Zeit zwischen |0| und +33, vereinzelt bis +100. Überlagert wurden erste gemauerte Gebäude mit Ziegeldächern und bemaltem Putz [MBK 20].

Bauphase 2 (Holz): Jetzt gibt es Hinweise auf sog. Streifenhäuser, das sind rechtwinklige Bauten, die mit dem Giebel zur Straße ausgerichtet waren [MBK 23].

Bauphase 3 (Stein): In der dritten, ab ca. +50 zu datierenden Bauphase wurden Stein- oder Fachwerkbauten errichtet. Ein Fragment mit Bauornamentik verweist auf das Ende des 1. Jh. [MBK 23]. Die Phase umfasst noch die traianische Zeit (98–117). Damals wird das älteste Thermalbad am Hof aufgegeben.

Bauphase 4 (Thermen): Nunmehr werden die Münsterthermen gebaut, die sich über Ziegelstempel zweier Legionen der Zeit 110 bis 125 zuordnen lassen [MBK 27]. Entstanden sind mehrere Wasserbecken und zwei Innenhöfe, die unter Münster und Münsterplatz liegen und vielleicht 6.000 m² umfassten [MBK 31]. Aus Mauerfugen und variierenden Fundamenttiefen lassen sich zwei weitere Bauperioden nachweisen, dazu 40 Räume der Thermen unter und dicht bei der Kirche [MBK 35]. Das Laufniveau schwankt zwischen 163 und 165 m ü. NN, knapp östlich des späteren Oktogons zwischen 164,64 und 166,02 m ü. NN, wobei das hier nach Osten abfallende Terrain zu beachten ist. Die Lauffläche im Dom liegt dann bei 168 m [MBK 69].
Diese Nutzung von Gelände und zumindest Teilen der Thermen setzt sich fort und wird durch eine Magnentius-Münze (350–353) wie durch rauwandige Meyener Keramik für die Mitte des 4. Jh. bestätigt [MBK 65].

4./5. Jh. antik-frühmerowingisch: 26 römische Münzen aus der Spätantike sind in den entsprechenden Schichten gefunden worden und bezeugen Münzumlauf bis um 400 [MBK 59]. Es wird hier mittlerweile von Siedlungskontinuität zwischen Spätantike und Frühmittelalter ausgegangen, da vom Katschhof Funde aus der Zeit um 450 stammen [MBK 59]. Keramikscherben belegen das 4. und spätere 5./anfängliche 6. Jh., während im früheren 5. Jh. eine Lücke klafft [MBK 62]. Drei Mauereinbauten stehen für eine erneute Baunutzung im 4./5. oder 5./6. Jh. [MBK 65].

6./7. Jh. mittelmerowingisch: Auch zwei ostgotische Prägungen für Witigis und Baduila repräsentieren die Zeit zwischen 536 und 540 [MBK 59].
7. Jh: „Spätestens seit dem 7. Jh. ist auf dem Areal ein Friedhof bezeugt“ [MBK 41], vielleicht noch im 6. Jh. angelegt [MBK 79]. Er wurde mit der Nordseite der Marienkirche überbaut [MBK 57]. Damit wird die zuletzt publizierte Angabe: spätestens „8. Jh.“ [Illig 2014, 261, 274] durch Schaub zugunsten des erfundenen Mittelalters veraltet.

8. Jh. spätmerowingisch-frühkarolingisch [für den Verfasser 10./11. Jh.]: Nordbasilika und der Verbindungsgang hin zu dem Bauwerk unterm Oktogon, dessen zu spärliche Überreste als Zentral- oder Rundbau, aber auch als Saal gedeutet werden können. Sie werden der Pippin-Zeit (ca. 750–770) zugewiesen, wobei sie nicht ganz gleichzeitig sein müssen [MBK 57]. Die Nordbasilika wurde im frühen 12. Jh. weitgehend abgerissen.
Sie wirft ein Problem auf, weil ihre Säulen aus speziell geformten Ziegeln gemauert sind, die Kreissegmente bilden, aber für die Zeit nirgends sonst nachgewiesen sind, anders als derartige Ziegelsäulen in der römischen Antike [MBK 48]. Demnach müssten die Aachener Ziegel zweitverwendet sein oder dieser Bauteil wäre noch römisch. Eine oder mehrere Ziegelsäulen sind im 12. Jh. abgebrochen worden [MBK 63, 78].

Spätes 8. Jh. karolingisch [dito um oder nach 1100]: Gebaut werden Marienkirche, Atrium, Südannex. Auf dem Katschhofgelände wurde ein Buntmetallwerkplatz ergraben, eine „aufwändige und in der Archäologie des 1. Jahrtausends einzigartige Anlage“ [MBK 74]. Diese Anlage ist demnach deutlich besser im 2. Jtsd. aufgehoben.

Unter der Kirche steht der Boden von Ost nach West von 4 m bis zu 1,80 m an, die Fundamente reichen in ihn bis zu 1,30 m hinein [MBK 87]. Der Südannex wird ebenfalls im frühen 12. Jh. abgerissen [MBK 90].

In den Bauten tritt rosa Mörtel mit Ziegelmehl auf, aber nur in den aufgehenden Mauern, während der Fundamentbereich mit gelblich-grauem Mörtel gemauert ist [MBK 45 f.]. Der über der Gruft der Corona gefundene Denar wird jetzt so verortet:

„Nach allen überlieferten Fakten handelt es sich bei dem Denar also um einen Streufund des späten 8. oder des 9. Jahrhunderts aus den neuzeitlich gestörten Auffüllschichten unter dem Fußboden des Aachener Domes“ [MBK 62].

Damit kann er nicht mehr als klarer Beleg für die Erbauungszeit herangezogen werden, wie das bislang geschehen ist! Datiert wird der Kirchenbau nach den beiden bekannten Dendro-Werten: 798±5 fürs Fundament, 803±10; aus den beiden Extremwerten wird die Bauzeit 793–813 bis zum Kuppelringanker gebildet [MBK 64], in deutlichem Einklang mit den Schriftquellen (s.u.)

Der Südannex ist nach dem Hauptbau, vielleicht erst zwischen 850 und 900 entstanden [MBK 52 f.]. Hier wird nun von einem Verbindungsbauwerk zwischen Südannex und Kirche gesprochen, anders als in den Plänen verzeichnet [vgl. Illig 2014, 264].

9. Jh., zweite Hälfte karolingisch [dito 12. Jh.]: Umgestaltung des Atriums, Bau des Verbindungsgangs

11. Jh., ottonisch: Das Grab Ottos III. ist innerhalb des Zentralbaus nicht gefunden worden. Die 1414 angelegte Bestattung lag im gotischen Chor. Die Rede ist von „wenigen ottonenzeitlichen Bodenfunde[n]“ [MBK 45].

Quellensichtung

Mehr als ein Viertel des Buches [MBK 113-190] nimmt die Wiedergabe und Kommentierung der Schriftquellen durch alle drei Herausgeber ein, die den Kirchenbau dokumentieren. Gleich Nr. 1 offenbart die Problematik.

„(787, Rom)
Papst Hadrian I. gestattet König Karl, aus dem Palast in Ravenna kostbares Baumaterial zu entnehmen. […]
Der Brief Papst Hadrians I. ist uns überliefert im Codex Carolinus, einer Sammlung päpstlicher Briefe an die Karolinger, die Karl der Große 791 zusammenstellen ließ“ [MBK 115].

In seinem Sinn für Effizienz und Nachhaltigkeit ließ Karl die von Verfall bedrohten Papyrus-Briefe abschreiben, aber nur – ausführlich zusammengefasst – die Petitio, also die Bitte um Ausstellung der Urkunde. Wie sich Erhaltungs- und Neugestaltungswille die Waage halten, wird von den Autoren nicht untersucht.

Auch Nr. 2 wirft grundsätzliche Probleme auf. Theodulf von Orléans hat – im April oder Mai 796, das ist nun genau untersucht – ein Briefgedicht „An Kaiser Karl“ verfasst, das aula, culmina sedis palatinae und atria longa nennt. Der Kommentar lässt überraschenderweise den Titel unkommentiert, obwohl es doch sehr seltsam anmutet, dass Theodulf die für den zukünftigen Kaiser so überraschende Krönung um fast fünf Jahre vorwegnimmt. Obwohl er das Leben am Hof in Aachen schildert, scheint er die Pfalz nicht gekannt zu haben, denn mit aula benennt er die Kirche (mit Kuppeln oder Gewölben!), mit culmina sedis palatinae die Aula (Königssaal) und mit atria longa die Verbindungsglieder zwischen beiden, obwohl er zuletzt einen Porticus ansprechen wollte. Am dramatischsten ist die Datierung:

„Ihr zufolge wäre erstens der Neubau von St. Marien bereits vor April/Mai 796 mindestens teilweise eingewölbt gewesen, und es hätten bereits damals Gottesdienste dort stattgefunden, sodass nicht der Brief Alkuins vom 23. Juli 798 das möglicherweise früheste Zeugnis für eine liturgische Nutzung des Bauwerks wäre, sondern die hier behandelte Passage aus Theodulfs Carmen 25; zweitens gäbe es ein Zeugnis dafür, dass 796 ein benutzbarer Königssaal bestand; drittens läge allem Anschein nach mit den langen ›Atrien‹ schon für 796 ein textlicher Beleg für die Existenz einer zwischen Kirche und Pfalzgebäuden vermittelnden Architektur vor“ [MBK 117].

Deshalb hat man die dendrochronologische Vorgabe mit 793 als frühestes Jahr für einen Eichenpfahl unterm Fundament so weit wie nur irgend möglich ausgereizt. Trotzdem wird man den Pflock wegen Frostgefahr nicht vor April 793 in den Boden geschlagen haben. Dann wäre der Bau tatsächlich in maximal drei Jahren gottesdiensttauglich und „mindestens teilweise eingewölbt“ gewesen. Das „teilweise“ gibt der lateinische Text nicht her; „tholis“ steht klar erkennbar in Nachfolge von griech. „tholos“, meint also primär die Mittelkuppel, sekundär die anderen Gewölbe. Sie war für Theodulf fertig, was Karls Handwerker zu beängstigender Eile angetrieben hätte und vom Kommentator „selbstverständlich“ als „poetische Antizipation“ gewertet wird [MBK 117]. Doch nicht einmal das genügt, um das Gedicht zu verwerfen; zu groß wäre der Verlust von 244 in elegischen Distichen verfassten karolingischen Versen, die auf einen Alkuintext rekurrieren [MBK 116]. Dass die eigentlich erst nach der Kirche angesetzte Aula auch schon fertig ist, dass die Verbindungsgänge heute erst nach 850 angesetzt werden, aber auch schon fertig sind – selbst diese Ohrfeigen für die aktuellen archäologischen Befunde und ihre Datierungen können das Gedicht nicht erschüttern. Es bleibt also beim Primat höchst dubioser Schriftquellen.

Auch Nr. 4, das Aachener Karlsepos, spricht von den hohen Kuppeln (tholis). Bei ihm befremden die ersten drei Zeilen der Präsentation:

„ca. 794 bis 814
De Karolo rege et Leone papa (»Aachener Karlsepos«), verfasst 801–813“. [MBK 121]

Der anonyme Urheber spricht eindeutig nach der Kaiserkrönung noch immer vom König. Da es in der ersten Zeile um die Zeitspanne geht, auf die sich das Epos bezieht, könnten die „sehr hohen Kuppeln“ bereits 794 fertig gewesen sein, also nur ein Jahr, nachdem mit den Fundamenten begonnen worden sei. Van Bett als Bürgermeister in Zar und Zimmermann hätte hier im Duett mit Mephisto gesungen: ›O sancta simplicitas! Ich möchte rasend werden…‹

Und man könnte weiter rasen. Nr. 6:

„(805) Tieler Annalen, verfasst Mitte 14. Jahrhundert.
Papst Leo III. weiht bei seinem Aachener Winterbesuch 804/5 Karls des Großen Marienkirche“. [MBK 127]

Bei Berücksichtigung eines Sonntags als Weihetag „hat sich der 17. Juli 802 als denkbarer Weihetermin ergeben, doch Fried verlegt die Weihe der Marienkirche ins Jahr 796“ [MBK 127].

Statt seiner werden zur Abwechslung die Quellen geprügelt, weil karolingische den Aufenthalt des Papstes für 805 berichten, nicht aber die Weihe. Fried wird als oberster Karlsbiograph von einer Kirchenweihe durch Karl höchstpersönlich ausgehen, da 796 kein Papst in Aachen weilte…

Als Nr. 18 wird Einhards Vita Karoli geführt, ca. 829 verfasst. Der Kommentar ist ein Lehrstück, wie man einen Text solange interpretiert, emendiert und konjektiert, bis er ins vorgegebene Schema passt. Zunächst bleibt die Passage „Er verschied siebzigjährig“ unkommentiert, obwohl er nach Frieds herrschendem Diktum im 66. Lebensjahr gestorben wäre. Einhard der Tumbe wusste es wohl nicht besser. Seine Kompetenz wird aber sofort hervorgehoben, wenn er Karl innerhalb der Marienkirche unter einem Bogen, einem Bild und einer Inschrift bestattet werden lässt. Das muss richtig sein, weil die Hofgesellschaft als Kontrollinstanz das Kircheninnere über die Jahre stets vor Augen hatte.

Nachdem ein Bodengrab mangels Auffindung obsolet ist und seit kurzem ein Hochgrab präferiert wird, muss Einhards Verb „humatum“ = „(im Humusboden) beerdigen“ solange interpretiert werden, bis es auch die Bestattung in einem Hochgrab abdeckt. Wenn Einhard schreibt, Karl habe über den Ort seiner Bestattung „zu Lebzeiten nichts verfügt“ [MBK 140], dann irrt er, weil Karls älteste überlieferte Urkunde, von 769 stammend, dafür Saint-Denis bestimmt.

„Ob der Wunsch des jungen Herrschers allerdings 45 Jahre später noch Belang hatte und am Hof bekannt war, lässt sich nicht feststellen“ [MBK 141].

Hier wird aus dem schriftlich fixierten, königlichen Willen der „Wunsch“ eines noch grünen 21-Jährigen, der trotz seines überlangen – im Frühmittelalter einmaligen – Testaments niemals mehr den Ort seines Grabes angesprochen hätte. Einhard sah die Kirche „im Bereich der Ortschaft, nicht im Bereich des Palastes“ liegen, aber das sahen andere anders [MBK 141]. Das Bildnis des Kaisers wird nicht zum Thema (allerdings 1907 noch rekonstruiert [MBK 227]), obwohl Einhards Kenntnis doch sichere Gewähr für eine karolingische Großplastik sein sollte, wie sie vor allem Sven Schütte [vgl. Illig 2007, 361-364] unbeirrbar in St. Pantaleon zu Köln nachweisen wollte.

Damit sind die den Lebzeiten Karls zugeschriebenen erzählenden Quellen ausgeschritten, die weiteren 26 Nummern sind weniger gewichtig. So gibt es keinen Kommentar dazu, dass Thegan um 836 mitgeteilt habe, der große, wenn auch analphabetische Schriftkenner Karl habe „bis zuletzt vor dem Tag seines Todes mit Griechen und Syrern aufs Beste“ die vier Evangelien „korrigiert“ [MBK 142]. Wenn er als Einziger Gottes Wort wirklich kannte, dann konnte er auch selbst die Marienkirche geweiht haben, denn dann war er (zumindest) der Stellvertreter Gottes.

Unter Nr. 39 wird Ademars von Chabannes Chronik kommentiert, die 1028/29 geschrieben und bis 1200 interpoliert worden sein soll. Wenn Ademar die Karlsauffindung durch Otto III. beschreibt, spricht er von „crypta aurea“. Erneut springt die Verschleierungsautomatik an. Denn

„es ist damit zu rechnen, dass manche Belege für crypta in der Bedeutung ›gewölbter Architekturteil‹ oder ›gewölbter Anlage‹ den Lexikografen entgangen sind“,

muss man ihnen doch eine „gewisse semantische Voreingenommenheit“ gegen das Wort Krypta unterstellen [MBK 162]. So kann der hier kommentierende Clemens Bayer unbesorgt in der Karlsmemorie das ursprüngliche Karlsgrab sehen. Von den anschließenden 20 Urkunden geht keine auf den großen Karl zurück; sie stammen von Herrschern bis hin zu Otto III.

Funktionen der Kirche

Es folgen zwei Betrachtungen von Müller und Bayer zur Funktion der Marienkirche, die ja sowohl Pfarr-, als auch Stifts- wie Königskirche gewesen sein soll. Allerdings hätte „der Pfarrgottesdienst in karolingischer Zeit im Obergeschoss der Marienkirche stattgefunden“ [MBK 195], eine seltsame Vorstellung: Das Fußvolk folgte nicht nur auf derselben Ebene wie der Kaiser dem Gottesdienst, sondern scharte sich sogar rings um seinen Thron [MBK 205], während der untere Umgang keine sakrale Funktion hatte. Wenn vor 1180 unmittelbar östlich der Marienkirche St. Foillan als Pfarrkirche entstand [foillan], dann dürfte aus hier vertretener Sicht die Marienkirche nur wenige Jahrzehnte auch als Pfarr- und Taufkirche gedient haben. Ehrfurchtsgebietend ist die Tradition als Stiftskirche:

„Von der Marienkirche als Gebäude ist die Marienkirche als Institution zu unterscheiden. Wann diese Institution entstand, wer sie gründete und welchen rechtlichen Status sie ursprünglich hatte, ist nicht bekannt, doch reicht sie jedenfalls in vorkarolingische Zeit zurück, seien ihre Anfänge nun merowingisch oder gar römisch. Als Pippin der Jüngere 765 das Weihnachtsfest in Aachen feierte, war St. Marien, wie zwingend anzunehmen ist, die öffentliche Seelsorgskirche (Pfarrkirche) des Ortes und befand sich wohl bereits damals in der Hand des Königs, war also eine königliche Eigenkirche “ [MBK 199; Hvhg. HI].

So lässt sich mit gelinder Ironie feststellen, dass Aachen womöglich bereits zur Römerzeit eine christliche Stifts-Gemeinde beherbergte, die unterm Schutzmantel des hl. oder sel. Karl die Stürme der Zeit überlebt hätte. Aus den wenigen Überresten, die unter dem alten Chor der Marienkirche liegen, ist plötzlich die Eigenschaft einer Kirche destilliert und sogar ihr Matrozinium fixiert – obwohl, siehe letztes Zitat nichts dergleichen bekannt ist. Da auch die Stiftsgründung nicht bekannt ist, ließe sich vielleicht sogar ein urchristliches Stift herleiten, also eine verfasste Gemeinschaft von Klerikern. So weit geht Bayer dann doch nicht; er belässt die Gründung in Karls Zeit. Die Reihenfolge will nicht recht klar werden.

So heißt es einmal: „Im Zusammenhang mit der Stiftsgründung wurden verschiedene Bauwerke errichtet“, nämlich Marienkirche, ein Wohnbereich für die Kanoniker, eine Schule und das Stiftskloster mit Friedhof oder Grablege [MBK 200 f.]. Abgesehen von der Kirche ist nichts dergleichen im Boden nachgewiesen, doch scheint das unerheblich zu sein. Aber nur eine Buchseite davor steht:

„Wahrscheinlich verfügte die Marienkirche bereits vor der Stiftsgründung über dauerhaft gesicherte eigene Einkünfte (Dotation), die ausreichten, um die Versorgung des an ihr inkardinierten Klerus […] zu gewährleisten“ [MBK 199].

Bevor einmal mehr der Streit um Henne und Ei entbrennt, wollen wir an Pippins Kirche denken. So klein sie rekonstruiert wird, konnte in ihr entweder der Klerus oder das Laienvolk dem Gottesdienst beiwohnen, aber so war es wohl in der Vorkarlszeit. Unter Karl stand im Oktogon das „Chorgestühl“ für die versammelten Kanoniker – den damals vielleicht üblichen Steinbänken hätten allerdings Wände als Rückenstütze gefehlt. Im kleinen karolingischen Chor samt ‘Presbyterium’ wurde auf zwei Ebenen Gottesdienst gefeiert, während die übrige Empore den Laienbereich für die Pfarreingesessenen bildete [MBK 205]. Hier spürt man die sonst nicht gut erkennbaren demokratischen Züge des großen Karl, wenn er auf seinem Thron, von allen anderen Pfarrkindern des ‘vicus Aachen’ umringt, dem Gotteswort lauscht.

Lioba Geis [MBK 209-214] stellt abschließend klar, dass die altvertraute Benennung als Pfalzkapelle hinfällig sei, auch wenn die Reichsannalen von capella sprechen, auch wenn die Hauptkirche einer Pfalz „eo ipso zur Pfalzkapelle wird“, auch wenn der Aufbewahrungsort des Martinsmantels (capella) als capella (Kapelle) bezeichnet wird, ebenso wie die dortigen Geistlichen als Kapläne. Trotzdem sei der Begriff Pfalzkapelle „zu statisch“, auch wenn es sich mit Andrea Pufke „um einen »fast liebevolle[n] Diminutiv angesichts einer großartigen Architekturleistung« handle“ [MBK 214, auch Fn 48]. (Die Aachener Pfalzkapelle übertrumpft mit ihrer Kubatur von ca. 14.000 m³ eine andere große Kapelle, nämlich die Sixtinische Kapelle deutlich; diese misst 40,93 x 13,41 x 20,70 m und hat damit ‘nur’ eine Kubatur von 11.361 m³. Wir müssen uns also nicht zwangsläufig auf eine ‘Sixtinische Kirche’ einstellen.) Es könnte natürlich auch sein, dass die Kapelle mit dem Verlust des Martinsmantel ihren Daseinszweck verloren hat; aber auf diese üble ‘Schlamperei’ will keiner der Buchautoren 2013/14 eingehen.

Der Verfasser will nicht widersprechen, wenn Mediävisten die heute stehende Kirche lieber als Marienkirche oder Stiftskirche bezeichnen, weil so der Bezug zu einer Pfalz Karls d. Gr. und zu ihrem angeblichen Erbauer weit in den Hintergrund tritt. Wenn das allgemein gewünscht wird, benutzt auch er gerne den Begriff Marienkirche.

Grabsuche und Grab

Elf mögliche Grabstätten wurden binnen 400 Jahren präferiert. Die Suche beginnt bereits im 17. Jh., anno 1794 wird sie durch französische Revolutionäre fortgesetzt und bereits 1803 vom ersten Aachener Bischof weitergeführt: Das einzige Resultat war das Verlegen einer Steinplatte mit der Aufschrift „Carolo Magno“ im Zentrum des Oktogons. 1843 ging es weiter [MBK 87]. Die größten Grabungen fanden 1910/11 und ab 2000 statt.

Damit kommen wir zu dem Aufsatz des „Mediolatinisten“ Bayer über Das Grab Karls des Großen [MBK 225-235, 272]. Was ist an ihm so wichtig, dass er fast zeitgleich in zwei der Aachen-Bände erschienen ist? Es geht um eine dringend gebotene Rettungsaktion, nämlich darum, das Karlsgrab aus der finsteren Umklammerung von Stein und Boden zu befreien und oberhalb des Fußbodens zu imaginieren. Neben den bekannten Einhard-Äußerungen zum Grab richtet Bayer sein Augenmerk auf die Karlsmemorie im Südostjoch, die im 18. Jh. abgerissen worden ist, ohne dass von ihr auch nur eine Abbildung überdauert hätte. Zunächst die bisherige Beurteilung:

„Wann und zu welchem Zweck wäre dann aber die Karlsmemorie errichtet worden? Der Interpolator des Erzählberichts von Ademar über die Graböffnung im Jahre 1000 sah sich im 3. Drittel des 12. Jahrhunderts offenbar veranlasst, das Vorhandensein des Denkmals durch eine von Otto III. vorgenommene Translation zu erklären; nach moderner Ansicht könnte die Karlsmemorie im Anschluss an die Kanonisation von 1165 errichtet worden sein, um die Reliquien Karls aufzunehmen, bis diese 1215 in den Karlsschrein übertragen wurden“ [MBK 230].

Selbstverständlich gibt es auch hier konträre Quellen, denen zufolge der Leib zwischen 1165 und 1215 in einen Schrein übertragen worden wäre [ebd. F 38]. Wie dem auch sei – es wird nun die Karlsmemorie untersucht und dabei zum Vergleich ein Grabmal im Trierer Dom beigezogen, das allerdings erst kurz nach 1142 errichtet worden ist [MBK 232], dazu ein Bogengrab für Ludwig den Frommen, von dem nur Zeichnungen des 17./18. Jh. überdauert haben. Sie zeigen zuunterst einen römischen Sarkophag, der natürlich sofort an den Proserpina-Sarkophag denken lässt (die darüber liegend dargestellte Figur des Kaisers [MBK 228] hätte freilich das 9. Jh. überfordert). Deshalb gibt es seit 1907 die Rekonstruktionszeichnung von Dombaumeister Buchkremer, die über dem Aachener Sarkophag eine anachronistische Skulptur des thronenden Karl unter einem Bogen zeigt [MBK 227]. Es folgt Bayers entscheidende Schlussfolgerung [MBK 234 f.]:

„Auch nachdem der Leib eines Heiligen aus dem Grab erhoben und in einen Schrein überführt worden war, blieb das Grab ein Gegenstand der Verehrung. […]

In Aachen wurde als Grab Karls des Großen die Karlsmemorie verehrt. Wenn es sich bei diesem Denkmal nicht um das Grab Karls gehandelt haben sollte, wäre zu erwarten, dass ein anderes Denkmal in Sankt Marien als Heiligengrab eine besondere Verehrung erfahren hätte – dies ist aber nicht der Fall! […]
Die 1788 in Unkenntnis ihrer wahren Bedeutung abgerissene Karlsmemorie war im Prinzip das von Einhard als Arkosolium beschriebene ursprüngliche Grab Karls des Großen; allerdings wurde dieses Denkmal im Laufe der fast 1000 Jahre seines Bestehens mehrfach verändert“.

Somit ist die längst zerstörte, bislang dem späteren 12. Jh. zugerechnete Memorie mit wenigen Worten und schlichter Argumentation um rund 350 Jahre in die Zeit um 800 veraltet worden!

Bayer verteidigt seine kühne Volte, weil sie schnell an den Wikingern scheitern könnte. Die 881 Aachen überfallenden Normannen, die ihre Pferde in der Marienkirche eingestellt haben sollen, ließen rechtzeitige Schutzmaßnahmen erwarten, besonders wenn das Grab nicht im Boden eingelassen war, sondern gut sichtbar an der Kirchenwand prangte. Buchkremer sah darin kein Problem, da man nur die Sarkophagvorderseite verdecken, die Bogennische zumauern und alles sauber übertünchen musste. Bayer sieht nicht einmal dafür Bedarf, hätten doch die Normannen bereits gewusst, dass christliche Gräber keine reichen Beigaben bergen [MBK 234] – auch ein Kaisergrab nicht.

So wäre also das Grab endlich gefunden, wenn auch nicht mehr existent. Aachen könnte aufatmen. Allerdings hat Bayer eine wesentliche Konsequenz nicht bedacht. Sowohl Otto III. wie auch Friedrich I. mussten das Grab erst in der Kirche entdecken und bedurften dafür u.a. einer Engelsvision. Dass aber gerade ein Wandgrab vor aller Augen liegt, nicht nur vor kaiserlichen und göttlich inspirierten Augen, übersieht Bayer. Insofern scheitert auch diese Grabauffindung, wie alle anderen seit dem 17. Jh.

Der Verfasser hält den Besuch Ottos im Jahr 1000 mittlerweile für eine Erfindung, die erst nach seinem Tod in Umlauf gebracht worden ist. Die Erhebung der Karlsgebeine durch Friedrich Barbarossa verdient mehr Vertrauen, auch wenn dieser Kaiser mit Sicherheit nicht Karls Gebeine in den von ihm in Auftrag gegebenen Karlsschrein betten ließ. Er inszenierte in der noch nicht lange vollendeten Kirche eine jener Graböffnungen, wie sie in England fürs 12. Jh. nachgewiesen sind, 1160 die des hl. Dunstan, 1191 die von King Arthur [Albrecht, 93 f.; vgl. Illig 2006, 706 f.], und ließ die vorbereiteten Gebeine solange in die frisch geschaffene Karlsmemorie betten, bis sie vom Metallschrein umfangen wurden. Es ist für Aachen zu hoffen, dass er als ‘Karlsgebein’ nicht ausgerechnet einen Enthaupteten ausgesucht hat, denn der fehlende Schädel ihres Kaisers sollte den Aachenern eigentlich mehr Kopfzerbrechen bereiten.

Aachens unsäglicher Thron

Der letzte für unsere Perspektive interessante Artikel stammt von Uwe Lobbedey [MBK 238-249], der seit langem Heribert Klabes’ Interpretation von Corveys Westwerk als Römerbau bekämpft. Nun übernahm er die Aufgabe, den mit Recht unbeliebten Schütte von den Erkenntnissen zum Aachener Thron abzutrennen. Lobbedey sieht das geheimnisumwitterte ‘Machtwerk’ nüchtern, spricht offen von der „primitiven Ausführung des Throns, den „wirklich plump“ wirkenden Pfeilern des Unterbaus und der fehlenden Feinbearbeitung an der Grundplatte [MBK 237 f., 241]. Weiter geht er auf den Fugenmörtel ein, der hier sowohl als bräunlicher Kalk- wie auch als rötlicher Ziegelsplittmörtel auftritt. Dieser Befund ist kein Ausrufezeichen mehr wert: „Indessen ist dieses Material auch in ottonischer und frühromanischer Zeit nachweisbar, mithin kein datierendes Element“ [MBK 239, Fn 13]; der dafür herangezogene Artikel von Sebastian Ristow im selben Buch spricht sogar von einem entsprechendem Aachener Mörtelrest aus dem 13. Jh. [MBK 45].

Schüttes niemals richtig publizierte Einschätzung der Thronteile als ‘Reliquien’, erstellt aus dem Stein von Jesu Grab in Jerusalem, erledigt sich mit dem Befund, dass es sich nicht um den weißgelben Jerusalemer Kalkstein handelt, sondern um echten Marmor aus Griechenland oder Carrara [MBK 243, Fn 37]. Für Lobbedey sind Schüttes Behauptungen „ein Kuriosum“ [MBK 246], hätte er doch sofort die Diskrepanz bei der Steinsorte merken müssen.

Es folgt ein Eigentor, denn Lobbedey betont leichtfertig, dass die Platten zwischen 2,5 und 5,1 cm stark sind und deshalb bei ihrer Größe nur in der Antike gesägt worden sein können (die Sägespuren sind erkennbar). Leichtfertig insofern, als es am Westwerk von Corvey eine Inschrifttafel mit den Maßen 173,3 x 85,5 cm gibt, deren Dicke von nur ca. 4 cm Lobbedey [1999, 570] selbst benannt hat. Bei der Ausstellung in Paderborn verdeckte ein Rahmen ihren Rand; so war nicht bemerkbar, wie dünn diese angeblich karolingische Platte tatsächlich ist. Laut Klabes [158] kennt die Literatur „keine Steinsägearbeiten karolingischer Steinmetzarbeiten“. Weitere Belege sind für die Karolingerzeit nicht aufgetaucht, für die Römerzeit hingegen schon [vgl. Illig 2013, 157-162], auch in diesen erheblichen Dimensionen,. Das bedeutet einen weiteren Schritt von Corveys Westwerk in Richtung Augustuszeit, zumal unten gleich erkennbar wird, dass Aachens Thron nicht mehr für karolingische Provenienz bürgen kann.

Der Kaisersitz besteht aus Marmorplatten und eingelegten Brettern. Die Datierung des Steinthrones ist derzeit eine schwebende:

„Die technischen Defizite des Marmorthrones sprechen deutlich gegen eine Herstellung unter den Augen Karls des Großen. Er könnte sowohl älter als auch jünger sein. […] »Gefühlsmäßig« würde man die Ausführung  des mehrphasigen Monumentes am ehesten in das 10./11. Jahrhundert setzen, aber dies ist ohne Beweiskraft“ [MBK 248].

Die fünf in den Thron eingesetzten Holzbretter wurden mehrmals dendrochronologisch datiert, das Ergebnis ist für diese Datierungsmethode desaströs:

1967 (1976): Ernst Hollstein (1918–1988), der ‘Vater’ der deutschen Eichen-Standardkurve, stellte das mögliche Fällungsdatum 936 fest. Allerdings wird diese Datierung erst 1976 von Dombaumeister Leo Hugot publiziert. Kommentar im Jahr 2000 durch Schütte:

„Für die Messung standen insgesamt fünf Holzstücke zu Verfügung. Da die Anzahl der Ringe der einzelnen Stücke für eine Datierung nicht ausreichend war, bildete Hollstein eine Mittelkurve der Hölzer und datierte diese Mittelkurve insgesamt. Obwohl das ermittelte Datum »um 900« lag, wurden die bis zur Außenkante des Stammes fehlenden Jahresringe so geschätzt, dass die Krönung Ottos I. 936 als wahrscheinliche Datierung für die Hölzer angenommen werden konnte. […] Ernst Hollsteins Datierung kann nicht nachvollzogen werden“ [Schütte 2000, 219 f.; vgl. Illig 2000, 478].

Vor 1976: Kontrolldatierung durch Bernd Becker (1940–1994), neben Hollstein der damals führende Dendrochronologe. Er scheint Hollsteins Ergebnis bestätigt zu haben, ohne dass sein Resultat eigens genannt wird. Schütte: Die „Unterlagen für die Datierung Beckers sind [1999] nicht mehr vorhanden“ [Schütte 2000, 220]. Lobbedey [2014] präzisiert: Beckers Arbeiten „führten in Ermangelung von Dokumentation und hinreichenden Holzresten zu keinem Ergebnis“ [MBK 249]. Gemeint ist vielleicht ein reproduzierbares Ergebnis.

1999: Schütte bittet die Labore von Trier und Hohenheim um Überprüfung ihrer alten Messungen, Labore in Köln, Hamburg und Göttingen sollen neue Messungen vornehmen und „versuchen, eine Datierung zu erzielen“ [Schütte 2000, 219]. Auch das Kieler Labor soll neue Messungen erstellen.

2000a: Für die Ausstellung Krönungen in Aachen wurde neben dem Thron eine Tafel mit folgender Aufschrift angebracht:

„Das Fälldatum der Holzstücke liegt nicht um 935, sondern zwischen 760 und 824, mit der höchsten Wahrscheinlichkeit bei 798“ [vgl. Illig 2001, 266].

Die Formulierung beweist, dass es sich nicht (allein) um Dendro-Daten handelt, sondern um 14C-Wahrscheinlichkeiten.

2000b: Im zugehörigen Ausstellungskatalog schreibt Schütte etwas ganz anderes. Damals hatte Kiel seine Analyse durchgeführt, doch er verweigert die Bekanntgabe des Ergebnisses:

„Was deren Ergebnis und die Ergebnisse erneuter dendrochronologischer  Untersuchungen der Hölzer betrifft, sei auf die Separatpublikation zum Thron verwiesen“ [Schütte 2000, 220].

Die bereits im April 2000 angekündigte Monographie Schüttes zum Thron ist bis heute nicht erschienen. Damit war die Informationstafel neben dem Thron reines Wunschdenken und nachgewiesene Irreführung der Besucher. Es fehlten damals und fehlen wohl auch heute die angesprochenen Labor-Berichte aus Kiel, Köln, Hamburg und Göttingen [Schütte 2000, 219]. Lobbedey befindet im Jahr 2014 zu Schüttes Ausführungen:

„Solange das Gesamtgutachten mit den zugehörigen Kurven nicht veröffentlicht ist, kann dazu keine Stellung genommen werden“ [MBK 249].

2001: Ein Jahr später schildert Schütte sein Vorgehen so:

„Zur Sicherheit waren an dieser Untersuchung mehrere Analytiker, Dendrochronologen und Radiokohlenstoff-Forscher beteiligt. Statistiker rüttelten die Kurven und siehe da: Der große Karl darf wieder Platz nehmen. Der Unsicherheitsfaktor beträgt nur wenige Jahre, und so dürfen wir heute als sicher annehmen, dass der Thron zu Lebzeiten Karls, also um das Jahr 800, errichtet worden ist“ [Schütte 2001].

2009: Schütte äußert sich in einem Vortrag, der 2011 in einer Publikation des Dombaumeisters Helmut Maintz enthalten ist, hier in der Wiedergabe durch Lobbedey, 2014:

„Es ergab sich ein einwandfreies Datum um 800 […] kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Thron ottonisch ist“ [Schütte 2009 lt. Maintz 2011 gemäß Lobbedey, mit seiner Kürzung; MBK 249, Fn 66].

Wer diese Wirrnis nachvollzieht, muss sich fragen, warum Archäologen und Historiker derartige ‘Daten’ überhaupt akzeptieren. Es sind Wunscherfüllungen, die mit wissenschaftlichen, also reproduzierbaren und der Wahrheit nahe kommenden Ergebnissen nichts zu tun haben. Ein echtes Skandalon.

2014: Zurück zum Thron als solchen, den erstmals Widukind von Corvey nach 960 erwähnt. Das derzeitige Resümee von Lobbedey lässt alles in der Schwebe, genauer gesagt im Vagen:

„Der Marmorthron setzt ein Bedürfnis voraus, die Thronstätte zu versteinern, d.h. ihr zeitlich unbegrenzte Dauer zu verleihen […] Es folgt, vielleicht in zeitlich nicht sehr großem Abstand, die Erhöhung, also die Monumentalisierung durch den Pfeiler-Unterbau im Sinne des Thrones König Salomos. Das Problem, zeitliche Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, muss ebenso wie die Frage, wann zuerst ein Thron im Westjoch des Emporenumgangs aufgestellt wurde, an die Historiker zurückgereicht werden“ [MBK 249].

Doch diese haben sich daran gewöhnt, Datierungen aus naturwissenschaftlichen Laboren frei Haus geliefert zu bekommen. Solche Jahresangaben haben obendrein den Vorteil, kein Hinterfragen zuzulassen, weil sie aus einer ‘black box’ stammen. Daran zerschellt auch jedes Aufbegehren Dritter.
Schon 2000 habe ich bei der Umdatierung des Throns von einem „passenden Ausrutscher“ gesprochen, außerdem:

„Denkt man an die Rolle von C14 auch beim Udenheimer Kruzifixus [2/2000, 294], so wirkt C14 allemal wie die Sünderin Magdalena“ [Illig 2000, 362].

Diese Dame [Lk 7, 37-39] galt als käufliche Sünderin im Fleische. Über die Jahre lässt sich verfolgen, wie Dendro und 14C mit vereinten Kräften dringend vermisste Desiderata liefern – selbst aus einem Aachener Holzringanker, der vom Dombaumeister „wie Watte auseinander gepflückt werden“ kann [vgl. Illig 2013, 32], oder soeben bei der Fossa Carolina: „ein absoluter Glücksfall“ (vgl. S. 548). Weitere passende (Um-)Datierungen reichen von Saint-Odile über Schloss Sulzbach bis zum ältesten Großkreuz der Christenheit [vgl. Illig 2013, 39-49], nicht zu vergessen die Klosterkapelle von Müstair (s. S. 550) oder die allerälteste Koran-Niederschrift (s. S. 755). Die Vielzahl der ‘Glücksfälle’ strapaziert den Zufall in einer Weise, dass der Glaube an puren Zufall sehr schwer fällt.

Fazit

Es lässt sich festhalten: Dank der gemeinsamen Anstrengungen von Archäologen und Historikern wankt nicht der Kirchenbau, sehr wohl aber seine Zeitstellung. Nur durch viele Hilfsannahmen wird die Umdatierung in eine spätere Zeit vermieden, in jene Anfänge des 12. Jh., die sich aus aktueller wissenschaftlicher Sicht als eine Zeit des Bau-Booms in Aachen darstellen.

Literatur

Albrecht, Stephan (2003): Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und St. Denis; Berlin
foillan = http://www.franziska-aachen.de/gemeinden/st-foillan/kirche/
Illig, Heribert (2014): Neues zu Aachens Pfalz, aus örtlichen Quellen destilliert; Zeitensprünge 16 (2) 260-278
– (³2013): Aachen ohne Karl den Großen · Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Gräfelfing
– (2007): St. Pantaleon – vier Rekorde fürs Guinness. Sven Schütte als karolingischer Lückenbüßer; Zeitensprünge 19 (2) 341-368
– (2006): Konzertierte Fälschungen. Glastonbury, Wells und Saint-Denis; Zeitensprünge 18 (3) 692-712
– (2001): Kaiser Karl im Ruhestand. Zum Stand der Mittelalterdebatte; Zeitensprünge 13 (2) 266-271
– (3/2000): Naturwissenschaftler verteidigen ‘ihren’ Thron. MA-Diskussion mit emotionalen Verwerfungen; Zeitensprünge 12 (3) 476-492
– (2/2000): Leserbriefe und Diverses; Zeitensprünge 12 (2) 359-362
Klabes, Heribert (²2008): Corvey · Eine karolingische Klostergründung an der Weser auf den Mauern einer römischen Civitas; Oerlinghausen (gleiche Seitenzahlen wie bei der Erstausgabe von 1997, Höxter)
Lobbedey, Uwe (1999): Katalogtexte bei Stiegemann, Christoph / Wemhoff, Matthias: 799 · Kunst und Kultur der Karolingerzeit · Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Band 2 des Ausstellungskatalog; Mainz
Schütte, Sven (2009): Forschungen zum Aachener Thron; in Maintz, Helmut (Hg. 2011): Dombaumeistertagung in Aachen 2009. Vorträge zum Aachener Dom; Aachen, 127-142
– (2001): Der Aachener Königsstuhl · Graffiti aus Jerusalem · Forscher beweist: Thron entstand doch schon zur Zeit Karls des Großen; Kölner Stadtanzeiger, 02. 06.
– (2000): Der Aachener Thron; in Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Katalog-Handbuch in 2 Bänden; Mainz, I: 213-222