Frischer Wind in akademischen Mittelalterstuben

von Marianne Koch (aus Zeitensprünge 2/2014)

Nach dem Aachener Dom [Illig 2011] fällt nun auch die Lehnspyramide zur Manifestation der Karolingerreiche aus. Sie hat als westeuropäisches ständisches Verfassungsmodell der früh- und hochmittelalterlichen Reiche ausgedient. Wann, wo und warum können wir noch vom Lehnswesen als grundsätzliches staatliches Strukturelement sprechen?

Das Lehnswesen in der Kritik

Bisher galt das eiserne Dogma:

„Die Karolinger haben aber nicht nur die tatsächliche Verbindung von Vasallität und Benefizium gefördert, sondern haben auch das daraus entstandene Lehnswesen für den Staatsaufbau nutzbar gemacht.“ [Spieß HRG 1978, / Lehn(s)recht/Lehnswesen, Sp. 1729].

So können wir es noch in Lehrbüchern nachschlagen, bekommen es in phantasievollen historischen Biografien wie jüngst in Frieds Karl [s. Illig 2014] und den beliebten History-Serien des Fernsehens serviert. Man hat dem Autor des Sachsenspiegels – Eike von Repkow (ca. 1230) – geglaubt, der uns die Lehnspyramide in der heute gängigen Form der „Heerschildordnung“ präsentiert und als „altes Recht“ Karl d. Gr. überliefert. Nach bisher herrschender Meinung erreicht diese Gesellschaftsordnung, genannt Lehnswesen, unter Ottonen und Saliern einen qualitativen Höhepunkt als königlich-kaiserliches Machtinstrument. Den Staufern wird besonders seit Barbarossa unterstellt, durch Reformen die herrschaftliche Wirksamkeit verwässert zu haben und so den Landesherrschaftsausbau niederer Stände befördert zu haben. Seine wesentlichen Institute bleiben aber bis zum Ende des alten Reichs 1806 erhalten.

Bereits 1994 wurde dieses Dogma durch die Untersuchungen von Susan Reynolds in Fiefs and Vassals [Reynolds 1994] in Frage gestellt. Reynolds weist darauf hin, dass sich Belege für eine Entwicklung strenger rechtlicher Vorstellungen feudo-vasallitischer Abhängigkeitsverhältnisse im Sinne einer auf den Herrscher ausgerichteten Lehnspyramide erst mit dem zunehmendem Einfluss von Juristen aus den italienischen Rechtsschulen seit dem 12. Jh. finden. Früher habe es zwar eine Fülle verschiedenster Leiheverhältnisse ebenso wie unterschiedliche personale Abhängigkeiten gegeben, aber diese stünden unverbunden nebeneinander. Hinweise auf die das Lehnswesen  konstituierende Verknüpfung von enger persönlicher Verpflichtung zwischen Herr und Vasall mit einer gewährten Land- bzw. Rechtsleihe gebe es zuvor nicht.

Das traf ins Herz der Mediävistik – besonders bei deutschen Mittelalterexperten. Bis 2008 erstarrte man fast 15 Jahre in ignorantem Schweigen oder blockierte mit arroganter Lehramtskompetenz [Kroeschel s. Koch 2011, 149 f.] jede Prüfung von Reynolds Kernaussage. Sogar emotional motivierte Abwehrreaktionen wie im Fall des erfundenen Mittelalters [Illig 1994 u. 1996] versagte man sich. Reynolds Buch ist bis heute nicht in deutscher Übersetzung erschienen. Doch allmählich zeigt Reynolds Angriff Wirkung im Gelehrtenlager, vielleicht befördert durch die Emeritierung publizistisch führender Lehrstuhlinhaber. Zwar nahmen vereinzelt deutsche Historiker am internationalen Diskurs über Reynolds herausfordernde Thesen in fremdsprachigen Fachmedien am Rande teil, kritisierten einzelne der vorgebrachten Belege, scheuten aber die Auseinandersetzung mit ihrer Hauptaussage.

Reynolds ruft zur Hinterfragung des spätestens seit Mitteis (Lehnsrecht [1933]/Staat [1940]) und Ganshoff (Lehnswesen [1944]) als bewiesen erachteten und kanonisierten Konzepts auf, das Lehnswesen sei schlechthin Fundament der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und Schaltwerkzeug der Macht. Zwei Historikertagungen, an denen auch altgediente Senioren des Fachs wie der Alterspräsident der MGH (Monumenta Germaniae Historica) Rudolf Schieffer, Karl-Heinz Spieß, Stefan Weinfurter, Gerhard Dilcher u.a. teilnahmen, geben das Signal zum deutschen Neustart ins Mittelalter und beschwören die alte Frage „Was ist das Lehnswesen?“ als aktuellen Forschungsauftrag der Mediävistik. Die entsprechenden Buchveröffentlichungen liegen seit 2010 und 2013 vor [Dendorfer/Deutinger 2010; Konstanzer Arbeitskreis 2013]. Obwohl sich die Tagungsbeiträge vorwiegend mit dem Hochmittelalter beschäftigen, betreffen sie unmittelbar die vorhergehenden Jahrhunderte, da sie den Beginn des Lehnswesens wie Susan Reynolds erst nach 1000 verorten.

Auf der von Jürgen Dendorfer und Roman Deutinger initiierten Münchner Tagung zum Lehnswesen im Hochmittelalter im September 2008 wurde für die interessierte Öffentlichkeit erstmals erkennbar, dass sich deutliche Risse in der bis dato konservierten herrschenden Meinung zum tausendjährigen lehnsrechtlichen Verfassungsstaat seit der Karolingerzeit auftun. Die inhaltlich anschließende Reichenauer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises von 2011: Zur Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert vertieft diesen Eindruck erheblich. Hier wird abschließend konstatiert, die von Reynolds These ausgehende „positive Verunsicherung“ erzwinge die völlige Neubearbeitung und -bewertung mittelalterlicher Leiheverhältnisse und personaler Bindungen unter kritischem Ausschluss der politisch implizierten Meistererzählungen des 19. und 20. Jahr hunderts [Auge 2013, 353 f.]. Der Paradigmenwechsel in der Mediävistik wird zwar nicht explizit ausgesprochen, aber vollzogen.

Seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Phänomen „Lehnswesen“ in Früh- und Hochmittelalter kaum noch wissenschaftlich thematisiert, geschweige denn problematisiert. Inzwischen ist Karl-Heinz Spieß von seinem oben zitierten Lehrsatz im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte abgerückt, wie seine aktuellen Tagungsreferate zeigen. Er steht damit nicht allein, sogar Wikipedia weist neuerdings zaghaft auf Kritik an der altehrwürdigen Lehre hin [wiki / Lehnswesen, Anm. 2].

Um die Forderung nach akademischer Hinterfragung der Meisterlehre zu begründen, beleuchten die beiden Auftaktreferate der Münchner Tagung den zwar bekannten, bisher aber wenig gewichteten Einfluss der sozial-politischen Bühne, auf der die ersten gelehrten deutschen Rechtsgeschichtler agierten, als sie im Rahmen ihrer Feudalismuskritik das lehnsrechtliche Konstrukt beschrieben, und weshalb sich im 19. und 20. Jh. die Überzeugung vom mittelalterlichen Lehnssystem als Dogma etablieren konnte.

Hermann Hechberger zeichnet Rang und Gang des Lehnswesen als Deutungselement der Verfassungsgeschichte von der Aufklärung bis zur Gegenwart nach [Hechberger 2010, 41 f.]. Anhand von Anlass und Wirkung der Werke von Justus Möser und Karl Friedrich Eichhorn über Otto von Gierke, Georg von Below, Julius Ficker, Theodor Mayer u.a. bis zu Heinrich Mitteis und Karl Bosl stellt er fest, das bestimmende Motiv für das mittelalterliche Geschichtsinteresse der Autoren war seit den Anfängen der modernen Geschichtswissenschaft zu Beginn des 19. Jh. bis in die achtziger Jahre des 20 Jh. hinein stets der politische Konflikt über die Staatsvorstellungen ihrer eigenen Zeit. Man suchte nach dem idealen deutschen Nationalstaat und seiner Verfassung. „Das Lehnswesen war von Beginn an kein Gegenstand, mit dem man sich nüchtern und emotionslos befasst hätte, es war immer schon ein Politikum“ [aaO 42 f.]. Die historisch eingekleidete Debatte wird von Juristen dominiert; man entwickelt, korrespondierend zu den jeweils aktuellen Machtinteressen, mittelalterliche Verfassungsvorbilder bzw. -gespenster, die den Kampf gegen feudale oder demokratische Staatsverfassungen historisch rechtfertigen und zugleich als Folie für angestrebte Gesellschaftsveränderungen dienen. Vor diesem Hintergrund geraten andere sozialpolitische Merkmale des Mittelalters aus dem Blickfeld. Zum Beispiel verschwinden die sozio- ökonomischen Analysen des Feudalismus bei Max Weber, die zudem den deutschen und sogar europäischen Rahmen sprengen, in der Rubrik „fachfremd“ [aaO 45 f.].

In Hans-Henning Kortüms Beitrag wird die bis heute wirksame Abhängigkeit der Mittelalterspezialisten vom nationalen Zeitgeist als Mittelalterliche Verfassungsgeschichte im Bann der Rechtsgeschichte zwischen den  Kriegen entschleiert. Über biografische Notizen zu Werk und Persönlichkeit der Antipoden Heinrich Mitteis und Otto Brunner in Nationalsozialismus und Nachkriegszeit ruft er die überwiegend dem politischem Umfeld und der eigenen Karriere geschuldete Prägung ihrer Werke ins Bewusstsein [Kortüm 2010, 57 f.]. Jürgen Dendorfer qualifiziert in diesem Zusammenhang bereits bei der Themenvorstellung im Einleitungsreferat „die Neue Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit, auf deren Schultern wir heute stehen“ als „Danaergeschenk“ – insbesondere im Hinblick auf Postulate Otto Brunners und seiner Nachfolger wie etwa, nicht mehr vom „Staat“ des Mittelalters sprechen zu dürfen, sondern die (angeblich; MK) quellennahen Begriffe „Herrschaft“ und „Gefolgschaft“ zu wählen [Dendorfer 2010, 25].

In den meisten weiteren Münchener Tagungsbeiträgen werden nach einem von den Veranstaltern vorgegebenen Fragenkatalog königliche und kirchliche Urkunden, Privaturkunden, Lehnsverzeichnisse, Historiographie und epische Literatur des Hochmittelalters mit einem Schwerpunkt in der Barbarossazeit auf Vorkommen und Aussagekraft lehnsrechtlicher Vokabeln hin abgeklopft [ebd. 26]:

  • Welche Terminologie verwenden die Quellen in Bezug auf das Lehen (beneficium – feudum) und auf die Vasallität (vassus – miles – homo – Mann) und wie veränderte sich diese?
  • Was war der Inhalt des vasallitischen Dienstverhältnisses? Welche gegenseitigen Verpflichtungen wurden durch ein solches eingegangen?
  • Wie sehen die Lehnsobjekte konkret aus? Welche Bedingungen sind an die Lehnsvergabe geknüpft, und welche Vorteile ergeben sich für beide Seiten aus der Übertragung eines Lehens?
  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen Vasallität und Lehnsvergabe?
  • Lassen sich in all diesen Punkten im Laufe des 12. Jahrhunderts merkliche Veränderungen feststellen? Wandeln sich die Begriffe und damit vielleicht auch die Konzeption des Lehnswesens, oder werden entsprechende Konzeptionen sogar neu geschaffen? Und kann man die Einflüsse, die solche Veränderungen bewirken, genauer bestimmen?

Zentrales Untersuchungsgebiet ist das deutsche Reich nördlich der Alpen, auch Oberitalien, Niederlothringen und die Provence werden einbezogen, da diesen bisher die Vorreiterrolle für das Lehnssystem zugebilligt worden ist. Was sich in den neuen Untersuchungen auf empirischer Grundlage übrigens mit der Einschränkung bestätigt, dass dies innerhalb der Territorien jeweils nur begrenzte Herrschaftsgebiete betrifft. Abstecher zu den Quellen der Königreiche von Sizilien und Jerusalem im 13. Jh. runden das Thema ab. Die Besprechung jedes einzelnen Vortrags führt an dieser Stelle zu weit. Die Reichenauer Tagung (2011) baut inhaltlich auf dem Münchener Treffen auf; der  Zeitrahmen wird auf das 13., teilweise 14. Jh. erweitert, und mit drei rechtshistorischen Untersuchungen zu lombardischem Lehnsrecht und Sachsenspiegel werden rechtsgeschichtliche Argumente der alten Lehre geprüft. Im übrigen arbeitet man denselben Fragenkatalog ab; einige Referenten tragen auf beiden Tagungen vor. In meiner Resultatsliste verzichte ich auf Einzelzitierung, um den Literaturapparat nicht aufzublähen:

  • Quellenbelege für „beneficium“ sprudeln zwar reichlich, haben aber höchst unterschiedliche Bedeutung. Regional und zeitlich versetzt können sie vereinzelt, ab 1150 öfter, als Indiz einer sozialen Leihepraxis gewertet werden, die Vorstellungen von hierarchischen lehnsmäßigen Ständen entwickelt hat und rechtlich ausformt. Je nach Kontext muss die Vokabel aber meistens besser mit Wohltat, Leihe, Miete, Pacht/Erbpacht, ja sogar als regionales Flächenmaß übersetzt werden und steht nicht für Lehen im klassischen Sinn.
    Begriffe für den abhängigen Lehnsmann (vassus, miles, homo, Mann) tauchen seltener auf, entpuppen sich vor 1200 jedoch i.d.R. als Terminologie für Abhängige einer Haus- oder Grundherrschaft. Im Königreich Jerusalem finden sich keine Signalvokabeln für Dienstmannen.
    Einige Autoren erweitern ihre Untersuchungen auf die Interpretation von Quellenbeschreibungen zu „Handgang“, Eid und Huldigung, die in den Meistererzählungen vom Lehnswesen als Begründungsriten eines Lehnsverhältnisses zum festen Begriffsspektrum gehören. Man hielt das zeitlich und örtlich verstreute spezifische Quellenmaterial bisher regelmäßig für konstitutive Elemente eines Lehnsverhältnisses, die das Gebäude des Lehnssystems als mittelalterlicher Verfassungsstaat stützen und bezeugen. Inzwischen gilt solche Qualitätszuweisung als voreilig, da der Kontext der Beschreibung derartiger Handlungen oft eher auf äußerliche Anerkennung von Rangunterschieden ohne rechtswirksame Unterordnungsfolgen hindeutet. Mit Sicherheit kann nur bei Vorliegen weiterer Indizien ein Lehnsverhältnis erschlossen werden.
  • Der klassische Pflichtenkomplex im Lehnswesen ordnet nach Unterlassen und Tun:
    Der Vasall darf seinem Herrn keinen Schaden an Leib, Eigentum und Ruf/Ehre zufügen, sogen. Negativpflichten. Dazu gehört auch, das Leihegut zu erhalten, gegebenenfalls zu verbessern; er hat vereinbarte Leistungen, Abgaben und Dienste termin- und sachgerecht zu erbringen. Bei Herrenfall (Tod) hat er nach „Jahr und Tag“ die Vertragsverlängerung „Mutung“ zu begehren. Dasselbe gilt für seine Erben beim Tod des Vasallen. Pflichtverletzung kann zum Entzug des Lehen führen.
    Umgekehrt hat der Herr im Rahmen seiner Schutzpflichten ebenfalls zu unterlassen, seinen Vasall irgendwie zu schädigen, muss ihm im Einzelfall  auch rechtlich, manchmal sogar militärisch Beistand leisten. Seit dem ersten Lehnsgesetz von 1037 unter Lothar II. darf er das Leihegut nicht mehr willkürlich und grundlos entziehen, wie es die Patronatsgewalt einer Gutsherrschaft erlaubt, sondern er braucht die Zustimmung seines „Lehnshofs“, d.i. das mit ranggleichen Lehnsleuten besetzte zuständige Lehnsgericht, vor dem der Vasall gegebenenfalls klagen kann. Dies Spezialgesetz ergeht vor dem Hintergrund der oberitalienischen Valvassorenaufstände und gilt zunächst nur dort.
    Die Kritiker verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass besagte „Negativpflichten“ lediglich die innerhalb der Haus- und Gutsherrschaft seit der Antike selbstverständlichen gegenseitigen Schutzregeln beschreiben. Die schlichte Quellenerwähnung einer derartigen Pflichtverletzung sei deshalb kein Zeichen einer Lehnsherrschaft. Weitere Indizien oder der Hinweis auf einen Lehnshof müssen hinzukommen.
    Das Schlagwort vom „consilium et auxilium (Rat und Hilfe/Tat)“ erfasst die aktiven Vasallenpflichten. Neben der Herrengastung auf Vasallenburgen und in kirchlichen Einrichtungen steht hier die Hof- und Heerfahrt im Zentrum der klassischen Lehre, die den Glauben an unbedingte militärische Gefolgschaft zur ersten und höchsten Errungenschaft des Lehnsstaats zählt. In der neuen Kritik wird demgegenüber hervorgehoben, dass der Anspruch des Herrn auf militärische Mannschaftsleistung nicht von Beginn an zur regelhaften Lehnspraxis gehört. Als Herrenforderung schiebt sie sich im späten 12. Jh. jedoch neben den „Negativpflichten“ zunehmend in den Vordergrund. Allerdings scheint sie schwer, allenfalls punktuell durchsetzbar gewesen zu sein. Was sonst hätte z.B. die Karl d. Gr. untergeschobene Reichenauer Fälschung zur Romfahrt Constitutio de expeditione Romana um 1158 überhaupt notwendig gemacht, wenn „Heerfahrt“ bereits fest im Pflichtenkanon des Vasallen verankert gewesen wäre?
  • Lehnsobjekt kann jede Sache oder Leistung sein, auch Hörige. Dazu kommen Rechte und Nutzungsansprüche, die sich finanziell verwerten lassen. Konkret geht es um: Wald, Wiesen, Äcker und Weinberge, Gutshöfe und Burgen, um Gutsherrschaften, Kirchen, Klöster und Stifte, Bistümer, Fürstentümer, selbst Königreiche, um Vogtei und Gerichtsbann, Zins, Zoll und Münze, Mühlen-, Bergbau-, Fischerei- und Schifffahrtsrechte sowie weitere Regalien jeder Art, die sich wirtschaftlich ausmünzen lassen.
    Vergabebedingungen können aus den Quellen i.d.R. selten ermittelt werden, da meistens nur der Besitz des Lehens an sich erwähnt wird. Vereinzelt kommen Absprachen vor, die den Erbfall regeln, bestimmte Pflichten wie etwa Gastung und militärische Dienste oder landwirtschaftliche Dienstleistungen ausschließen. Aus Praxis und juristischer Bearbeitung  des lombardischen Lehnsrechts haben sich seit 1037 demnach unausgesprochene übliche Vergabebedingungen rechtlich herausgeschält und verfestigt, die man individuell abwehren kann.
    Die Palette an Vorteilen für Lehnsnehmer ist breit gefächert: Gütertausch, Besitzsicherung, Besitzarrondierung und Ertragsintensivierung des Gesamtbesitzes, rechtlicher und militärischer Schutz, Rechtsgewalt über Eigenes und Fremdes, Vergleichsbasis bei Rang- oder Rechtsstreitigkeiten, Statusaufwertung im Gefolge eines Mächtigen, Ausbau eines von Verwandtschaft unabhängigen persönlichen sozialen Netzwerks. Im Fall von Afterlehen scheint auch Finanzspekulation eine Rolle zu spielen.
    Der Lehnsgeber hat aus Eigentümersicht grundsätzlich dasselbe Interesse an Erhaltung und Ertragssteigerung des Lehen wie sein Vasall. Deshalb überwiegen Vorteile die Angst vor Entfremdung der Sache: optimierte Eigentumssicherung und -verwertung, Eigentumsarrondierung, kalkulierbare feste Einkünfte, zivile wie militärische Verwaltungseffizienz, kommunaler und fürstlicher Machtausbau. Für die Kriegs- und Fehdeführung wird militärische Aufgebotsmacht zunehmend attraktiver. Als Streitschlichter kann der Herr Lehnsvergaben zur Befriedung einsetzen. In der schriftfernen mittelalterlichen Gesellschaft festigt das Bild inmitten eines prächtigen großen Gefolges die Machtausstrahlung des Potentaten, wirkt zugleich einschüchternd und verführerisch. Bei absehbarem Erbstreit bietet die Ausgabe von Eigentum zu Lehen nach speziellem Erbrecht (ius feodale) unter Umgehung des allgemeinen Erbrechts (ius heredium) einen alternativen Handlungsfreiraum zur Designation und Versorgung von Wunschnachfolgern.
    Einige der Kritiker behaupten inzwischen, dass Bistümer, Herzogtümer und Grafschaften nicht schon unter Barbarossa regelmäßiger Baustein einer Lehenspyramide sind, „wie uns die Alten sungen“. Die Analyse von reichspolitischen Schlüsselereignissen, etwa dem Prozess gegen Heinrich den Löwen samt der ein halbes Jahr später im Erzbistum Köln verfassten Gelnhäuser Urkunde, betont das rechtspolitische Übergangsstadium, in welchem das Lehnssystem argumentativ vordringt, sich aber nur langsam und situativ vom Entwurf zum königlichen bzw. kaiserlichen Machtfaktor mausert.
    Insgesamt führen die Referate die große Verschiedenheit der Objekte und die vielseitigen Nutzungsmöglichkeiten einer Lehnsbeziehung vor Augen. Aus dem Wirkverbund von Sachleihe und personaler Bindung im Lehnswesen ergeben sich besonders im wirtschaftlichen Bereich zahllose Vorteile auf beiden Seiten. Die Fixierung der Altmeister auf einen Staatsaufbau, in dem waffenstrotzende Befehlsstrukturen per Lehen einen weitgehend statischen Ständestaat lenken, hat bisher den Blick auf den dynami schen Einsatz von Lehen im Wirtschaftsprozess verstellt und ein verzerrtes Bild der hochmittelalterlichen Gesellschaft gezeichnet.
  • Die regelmäßige Verknüpfung von Lehen und Vasallität ist dort, wo sich das Leiheobjekt als „rechtes“ Lehen erweist, belegt. Aber es gibt vertraglich fixierte Ausnahmen, Vasall ohne Lehen bzw. Lehen ohne Vasallität. Dessen ungeachtet muss festgehalten werden, dass der Wirkverbund von Lehen und Vasallität bis Ende 12. Jh. „nur ein Element innerhalb eines breiten Spektrums von Praktiken war, um Güter zu tauschen und/oder persönliche Beziehungen herzustellen“. Ein überraschendes Problem liefert das Königreich Jerusalem, das man sich eigentlich nur als Lehnsstaat klassischer Prägung vorstellen kann, denn dort versagt die Quellensuche nach Vokabeln für Dienstleute und Mannschaft.
  • Die alte Lehre konstatiert im 12./13. Jh. unter den Staufern eine Reformzeit. Das klassische Lehnssystem zeige durch die Aufnahme von Mehrfachvasallität, Aftervasallen, Frauenerbrecht und den Vorrang der Sachleihe ernste Verfallserscheinungen. In den aktuellen Untersuchungen zu den empirischen Grundlagen dieser Theorie bestätigt sich zwar ein gesellschaftspolitischer Einschnitt, der spätestens mit dem Regierungsantritt Friedrich I. Barbarossa 1152 deutlich wird, jedoch nicht im bisher angenommenen Sinne von Verfall. Im Vergleich mit anderen Rechtsbereichen hat sich der Lehnsverbund gerade nicht bereits jahrhundertelang bewährt, sondern er wird neben anderen sozialen Tausch- und Leiheverhältnissen erst mit der Ausarbeitung des lombardischen Lehnsrechts durch oberitalienische Juristen seit dem Gesetz Konrads II. von 1037 allmählich ausdifferenziert. Barbarossa und seine Begleiter sind mit lehnsrechtlicher Argumentation während der Italienzüge konfrontiert, man lässt sich von bedeutenden Bologneser Juristen beraten und erkennt punktuell seinen herrschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzeffekt. Die bemängelten „Verfallserscheinungen“ der Altmeister gehören demnach von Anfang an zum Lehnswesen. Gerade sie bestimmen die flexiblen Einsatzmöglichkeiten von Lehen im Wirtschaftsprozess, machen es attraktiv und dynamisieren die Gesellschaft.
    Im späten 12. Jh. wird die weite Interpretation von „beneficium“ langsam vom rechtlich spezialisierten „feudum“ oder „Lehen“ im Sinne der klassischen Lehre verdrängt, bleibt aber eine gesellschaftliche Randerscheinung. Der vermehrte Gebrauch der Vokabel „feudum“ neben bzw. an Stelle von „beneficium“ bezeugt Versuche, das Lehen gegenüber anderen Leihepraktiken rechtlich abzugrenzen.
    Ausgehend von begrenzten Territorien Oberitaliens, Niederlothringens und der Provence werden seit dem 11. Jh. Konzepte und Praktiken von  feudo-vasallitischen Bindungen fassbar. Die Vorstellung vom Lehnsinstitut als Verfassungsnorm kann sich aber offenbar erst im 13./14. Jh. großflächig verbreiten. Das Lehnsrecht des Sachsenspiegels (ca. 1230) mit seiner Heerschildordnung erscheint vor diesem Hintergrund entgegen der Aussage seines Autors Eike von Repkow weniger als private Aufzeichnung von altbewährten Rechtsgewohnheiten der eigenen Zeit, sondern offenbart vielmehr den engagierten Einsatz des Autors, das Lehnssystem nördlich der Alpen grundsätzlich zu etablieren. Welchen Einflüssen das Lehnssystem letztendlich seine breite Akzeptanz verdankt, kann bisher nur erahnt werden. Ansätze zur Erforschung bietet der königliche Regalienausbau seit 1158. Einzelstimmen vermuten einen Zusammenhang mit Handelsaufschwung und vermehrter Geldwirtschaft seit der Jahrtausendwende. Dann wäre es kein Zufall, dass die oberitalienische Städtelandschaft, Niederlothringen und die Provence zu Vorreitern werden.

Resümee

Susan Reynolds Kernkritik an der alten Lehre wird auf breiter Front empirisch untermauert und bestätigt [Patzold, 269 f.], obwohl bei Einzelinterpretationen kontroverse Einschätzungen vorhanden sind. Mancher Autor geht in Bezug auf Heerfolgepflicht, Herzogtümer als Lehen u.a. den altgedienten Akademikern vielleicht etwas zu weit [s. Deutinger 2010, 464; Dendorfer 2013, 219 f.]. Konsensfähig ist demgegenüber die generelle Einsicht in die notwendige Neufundierung mittelalterlicher Gesellschaftstheorie. Für den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staat bleibt die klassische Lehre aber weiterhin ein probates Interpretationsmuster, denn es geht nicht um Lehnswesen „ja oder nein“, sondern um eine spezifische Chronologierevision des früh- und hochmittelalterlichen Lehnsstaats mit daraus folgender Dekonstruktion überkommener, lieb gewordener Geschichtsbilder [Auge, 337 f.]. Wann und wie genau sich das Rechtskonstrukt „Lehnswesen“ europaweit durchsetzt, ist erst in Ansätzen erkennbar – Juristen? Fürstliche Reisekommunikation? Dies bleibt weiterer Forschung bis hin zum Spätmittelalter vorbehalten. Jedenfalls ist seine Entstehung aus nicht schriftlich fixierter sozialer Praxis erst um die erste Jahrtausendwende wahrscheinlich. Seine rechtliche Ausformung erfährt das Lehnsrecht in einem knapp 200 Jahre dauernden Prozess nach 1037. Die Lehnspyramide steht damit weder Karolingern noch Ottonen für Staatsverfassung und Kriegsmacht zur Verfügung. Wie man sich das Sozialgefüge um Karl d. Gr. samt Nachfolgern, um Otto I., II., III. und Heinrich II. vorstellen soll, bleibt offen, obwohl einige Referate deren Jahrhunderte streifen.

Die neue Wahrnehmung und Gewichtung der wirtschaftspolitischen Bedeutung von Lehnsbeziehungen erzwingt in den Augen der aktuellen Kritik  eine erweiterte, weniger formale Begriffsdefinition des Lehnswesens. Das Lehnswesen ist weniger einheitlich, weniger anschaulich, weniger konsequent als in den Lehrbüchern vorgesehen. „Es ähnelt einem Kessel Buntes“ und es führt in die Irre, es als „ein bis ins Detail festgelegtes, statisches Modell und als überzeitliche, für das gesamte europäische Mittelalter gültige Norm aufzufassen“, resümiert die Schlussbetrachtung der Reichenauer Tagung [Auge, 354]. Gelingt es, den verengten deutschen Begriff vom Lehnswesen zu erweitern, ergäbe sich die Chance, die Kluft zur internationalen Feudalismusdebatte zu überwinden [Deutinger 2010, 472]. Dort wird seit Jahrzehnten der gesellschaftliche Bruch um 1000 als „mutation feodale“ diskutiert und die deutsche Staatsversessenheit nicht verstanden. Im Gefolge von Marc Bloch, George Duby und anderen geht man von einem weiten Feudalismusbegriff aus, der die Bedeutung feudo-vasallitischer Bindungen relativiert, aber dafür das soziale Gesamtbild der vielfältigen mittelalterlichen Leihephänomene einbezieht [Dendorfer 2010, 19 ff.]. Man hält die deutsche Trennung zwischen Gutsherrschaft und Lehnsherrschaft für falsch.

Nachlese

Da schwirrt der Kopf. Alles auf Anfang? Zweihundert Jahre Mediävistik ein Irrtum? Vielleicht nicht völlig, die ehrwürdige Institution der MGH wird mehr denn je gebraucht. Selbst wenn uns ihre Gelehrten mit der Aufdeckung von gefälschten Schriftquellen überhäufen, so kann die Verwirrung mittels Konstatierung eines „wahren Kerns“ doch gewöhnlich begrenzt werden, und sie sind für die Ausschmückung der mittelalterlichen Lebenswelt gerettet. Woran soll man sich sonst halten?

Das auf den Tagungen vorgetragene Quellenmaterial zeigt eine ähnlich imposante Bandbreite wie Reynolds Werk und ist als Einstieg zur erneuten Mittelalterbefragung sicher notwendig. Weitere akademische Elaborate, Doktorarbeiten und Habilitationsschriften werden nun diesen Spuren folgen, um sich die schriftlichen Zeugnisse der betroffenen Jahrhunderte erneut vorwärts und rückwärts vorzunehmen. Da tun sich erfreuliche Karriereperspektiven auf, denn abseits von Routinearbeiten drohte das akademische Forschungsfeld „Mittelalter“ unfruchtbar zu werden, da kaum noch unbekannte Schriftquellenfunde zu erwarten sind. Aber reicht diese schriftfixierte Methodik aus, um Bilder zu entwerfen, neue Theorien zu erstellen, Begriffe zu erweitern? Da sich der Untersuchungszeitraum zwischen 8. und 11. Jh. als ziemlich schriftfrei erweist, wird man bei derartiger Arbeitsweise wohl weiterhin mit Argumenten wie „sozialer Brauch“ und „wahrer Kern der Fälschung“ rechnen müssen. Das Einfallstor für Hypothesen nach Forscherphantasie bleibt geöffnet! Wird es nicht langsam Zeit, dass sich der Mediävist als Laie auf fast allen  Gebieten begreift und sich fachlichem Sachverstand aus Bereichen der Archäologie, Technikentwicklung, Kunstgeschichte, Recht, Soziologie und Ökonomie u.v.m. beugt, anstatt seinerseits fragwürdige Gesellschaftsgemälde und Chronologien zu verordnen?

Die Argumente für die vorläufige Themenbeschränkung der Tagungen auf das Hochmittelalter haben sich als stichhaltig erwiesen, die Arbeiten der Gründungsväter des Lehnsstaats, die das verdächtige 12. Jh. entdeckten, waren demnach nicht völlig umsonst. Natürlich ist der Chronologiekritiker nun gespannt, wie man mit den von Heribert Illig annullierten Jahrhunderten zwischen 614 und 911 umgeht. Wie kann der Gesellschaftsbau der Karolinger aussehen, wenn das Lehnsswesen ausfällt? Was wird aus Karls „eisenstarrenden Heeren“, wenn die Befehlsstruktur der Lehnspyramide wegbricht? Reynolds Vorschlag, die karolingische Herrschergewalt aus grundherrlich-richterlichen Machtpositionen herzuleiten, die auf Eigentumsträger, deren interpersonale Beziehungen vom familiaren Geflecht und hierarchisierten Freundschaftsbündnissen zusammengehalten werden, überzeugt nicht [s. Koch 2011, 149 f.]. Nachdem Illig mit Technikargumenten dem Aachener Dom jede Beweiskraft für seine Entstehung im 8./9. Jh. entzogen hat, sondern ihn aufgrund Bauentwicklung und Eisenbearbeitungstechniken frühestens im späten 11. Jh. entstehen sieht, ist bereits ein wesentlicher Eckpfeiler gefallen, der allein schon ausreicht, sämtliche Karolingerreiche „im Nichts verschwinden“ zu lassen [Illig 2011]. Jetzt hat die akademische Branche selbst Hand angelegt. Ein zweiter Pfeiler des Karlsreichs ist demontiert: sein Lehnswesen samt Pyramide! Dürfen wir uns bald auf eine mutige Forschergeneration freuen, die über ihren pergamentenen Tellerrand schaut und sich regelmäßig mit Sachargumenten auch dem Diskurs über das erfundene Mittelalter stellt?

Viele Tagungsreferate rücken die wirtschaftlichen Funktionen des Lehnsverbunds in den Fokus der hochmittelalterlichen Gesellschaft, beschreiben diese Phänomene aber nur, analysieren nicht. Zur Deutung und Bewertung fehlt es den Autoren an rechtlichem und wirtschaftlichem Basiswissen, ohne das sie sich dessen überhaupt bewusst sind. Hier muss endlich nach Kriterien aus den entsprechenden Fachwissenschaften gefahndet und gewichtet werden, um Probleme zu verstehen und konsistente Sozialmuster entwerfen zu können. Betrachtet man den augenfälligen Vorrang der Sachleihe nicht mehr als Verfallserscheinung, so geht es nur in zweiter Linie um die hierarchische Bindung der beteiligten Personen. Das Lehnsverhältnis beruht dann auf der Beziehung zwischen Eigentum und Besitz. Was bedeutet das?

Die Kritische Wirtschaftstheorie nach Otto Steiger und Gunnar Heinsohn liefert mit ihren Untersuchungen zur Eigentumsökonomik die Grundlagen der Beurteilung [Heinsohn/Steiger 1994]: terminologische Trennung von Eigentum  und Besitz (hier Lehen) mit klaren Begriffsdefinitionen, wonach Besitz die tatsächliche Herrschaft über eine sinnliche Sache umfasst, während Eigentum die von Menschen erfundene Eigenschaft einer Sache ist, die befugt, rechtlich mit ihr umzugehen. Der Eigentümer kann Wirtschaftsverträge schließen, d.h. er kann seine Sache verkaufen, verpachten, vermieten und sie gegen Kredit belasten. Eigentum ist unsinnlich, man kann es weder sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen! Das konstitutive Element des Eigentums ist seine kreditäre Belastbarkeit, sprich Haftung [s. Koch 2010, 340 f., 354], u. a. heute bei Dar-lehen spürbar. Wir haben es demnach beim Lehnswesen mit einer Gesellschaft zu tun, die nach Besitz und Eigentum trennt, aber sonderbarer Weise dem Lehnsbesitz Eigentumsqualität zubilligt, indem sie Juristen ein Eigentum zweiter Ordnung erfinden lässt: das Nutzungseigentum (dominum utile).

Ein so geteiltes Eigentum gibt es weder in der Antike noch im modernen Recht. Es ist ein singuläres Merkmal der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft, um dessen Funktion man sich endlich Gedanken machen sollte, anstatt diese Tatsache nur nebenbei anzumerken und als mittelalterliche Begriffsverwirrung abzutun. Derart hilflose Aussagen vertuschen den Problemkern. Wozu brauchte man dieses Rechtsinstitut? In meiner Untersuchung zum Sakraleigentum habe ich den hierarchischen Aspekt und die Gefahr von Entfremdung für das Eigentum erster Ordnung (dominum directum) betrachtet [Koch 2011, 155 f.], aber den gewaltigen Zuwachs an volkswirtschaftlicher Haftungsmasse vernachlässigt, der aus der hinzu erfundenen Eigentumsqualität von Lehnsbesitz als Eigentum zweiter Ordnung gewonnen wird. Die hochmittelalterliche Gesellschaft deckt ihren hohen Kapitalbedarf für Landesausbau, Kirchenbau, Stadtgründungen, Kreuz- und Kriegszüge offenbar nicht nur über hoheitliche Abgaben und Raub, sondern formt auch bürgerliche Finanzierungsinstrumente kreativ aus.

Hat die internationale Feudalismusdebatte deshalb Recht, wenn sie den Wirtschaftsboom nach der Jahrtausendwende zur feudalen Revolution erhebt [Bois 1999]? Was versteht man eigentlich unter Feudalismus? Der Feudalismusbegriff im internationalen Diskurs ist ziemlich diffus und verwaschen, er berücksichtigt die Bedeutung vom geteilten Eigentum aber ebenfalls nicht. Man kann unter ihn willkürlich fast jede Gesellschaft mit personaler Befehlshierarchie subsumieren. Kein Wunder, dass sich die deutsche Mediävistik deshalb an die klaren formalen Strukturen der alten Definition vom Lehnswesens geklammert hat und jetzt auf verbesserter empirischer Grundlage mit der Frage „Was ist das Lehnswesen?“ nach Begriffserweiterung sucht. Die internationale Feudalismusdiskussion muss ihr Begriffsdilemma ebenfalls klären und die Frage „Was ist der Feudalismus?“ schlüssig beantworten! Denn trotz der Wahrnehmung der vielfältigen Wirtschaftstransaktionen hat man bis her auch hier den mittelalterlichen Feudalismus in Europa nicht definiert, sondern schlicht vorausgesetzt. Hierarchische Befehlsstrukturen voran, einigt man sich von Fall zu Fall auf gewisse Auffälligkeiten, beschreibt sie und erhebt diese zu typischen Indizien für Feudalstrukturen. Das ist ein methodischer Zirkelschluss!

Die Kritische Wirtschaftstheorie nach Steiger und Heinsohn ist auch in diesem Fall hilfreich. Sie bestimmt idealtypisch die Organisationssysteme menschlicher Gemeinschaft aufgrund einer strikten Unterscheidung von Eigentum und Besitz : Stamm, Feudalismus und Eigentumsgesellschaft [s. Koch 2010, 341 f.]. In der Eigentumsgesellschaft wird gewirtschaftet. Das macht ihren qualitativen Systemunterschied gegenüber den beiden anderen Gesellschaftsformen aus, in denen die Mitglieder aus Besitz versorgt werden. Eigentumimmanentes Wirtschaften umfasst:

  1. Belastung zur kreditären Schaffung von Geld gegen Zins,
  2. Verpfändung für das Leihen von Geld als Kapital,
  3. Übertragung einschließlich Verkauf/Verpachtung/Vermietung,
  4. Vollstreckung.

Wie Scheinwerfer bringen die Tagungsbeiträge ans Licht, dass die hochmittelalterliche Gesellschaft abseits von Krieg und Fehde mit all diesen Transaktionen reichlich beschäftigt ist. Bei der Gewichtung dieses Fakts kann die Analyse zum geteilten Eigentum als Zuwachs an Haftungsmasse entscheidend sein, um personale Befehlsstrukturen und Eigentumswirtschaft im Mittelalter säuberlich nebeneinander aufzulisten und zu beurteilen, was Wo und Wann den Ausschlag gibt. Den beiden obigen Fragen ist deshalb unbedingt die dritte Frage an die Seite stellen: „Wie feudal ist das Mittelalter?

Literatur

Auge, Oliver (2013): Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert. Eine Zusammenfassung; Konstanzer Arbeitskreis, 337-355; Ostfildern

Bois, Guy (1999): Umbruch im Jahr 1000; München

Dendorfer, Jürgen (2010): Zur Einleitung; Dendorfer/Deutinger, 11-39; Ostfildern
– (2013): Das Lehnrecht und die Ordnung des Reiches. Politische Prozesse am Ende des 12. Jh.; Konstanzer Arbeitskreis, 186-220; Ostfildern

Dendorfer, Jürgen / Deutinger, Roman (Hg. 2010): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz; Ostfildern

Deutinger, Roman (2010): Das hochmittelalterliche Lehnswesen; Dendorfer/Deutinger, 463-473; Ostfildern

Ganshof, François Louis (71989): Was ist das Lehnswesen?; Darmstadt, 7. überarb. Aufl. (franz. 11944, Bruxelles)

Hechberger, Werner (2010): Das Lehnswesen als Deutungselement der Verfassungsgeschichte von der Aufklärung bis zur Gegenwart; Dendorfer/Deutinger, 41-56;  Ostfildern

Heinsohn, Gunnar / Steiger, Otto (1994): Eigentum, Zins und Geld; Reinbek

Illig, Heribert (1994): Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit; Gräfelfing
– (1996): Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte; Düsseldorf
– (2011): Aachen ohne Karl den Großen. Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Gräfelfing
– (2014): Frieds Karl; Zeitensprünge 26 (1) 5-27

Koch, Marianne (2010): Glaube und Kredit. Ein rechtsgeschichtlicher Blick auf die Eigentumsverhältnisse von Kirche und Tempel. Teil I; Zeitensprünge 22 (2) 339-358
– (2011): Glaube und Kredit. Ein rechtsgeschichtlicher Blick auf die Eigentumsverhältnisse von Kirche und Tempel. Teil II; Zeitensprünge 23 (1) 134-163

Kortüm, Hans-Henning (2010): Mittelalterliche Verfassungsgeschichte im Bann der Rechtsgeschichte zwischen den Kriegen – Heinrich Mitteis und Otto Brunner; Dendorfer/Deutinger, 57-77; Ostfildern

Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte (Hg. 2013): Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert; Ostfildern

Mitteis, Heinrich (1933): Lehnrecht und Staatsgewalt; Weimar
– (1940): Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters; Weimar

Patzold, Steffen (2013): Das Lehnswesen im Spiegel historiographischer Quellen des 12. und 13. Jh.; Konstanzer Arbeitskreis, 269-305; Ostfildern

Reynolds, Susan (1994): Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted; Oxford · New York

Spieß, Karl-Heinz (1978): / Lehn(s)recht, Lehnswesen; Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Sp. 1727 ff.; Berlin

wiki (2014): Lehnswesen; http://de.wikipedia.org/wiki/Lehnswesen; aufgerufen am 16. 05. 2014