von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 2/2014)
Bauforschung
Über Aachens kulturelle Schätze wird ein voluminöses Buch nach dem anderen publiziert. Besonderes Gewicht hat der 611 Seiten starke Band des großen, von Stadtarchivar Dr. Thomas R. Kraus herausgegebenen Werks: Aachen · Von den Anfängen bis zur Gegenwart 2. Band: Karolinger – Ottonen – Salier · 765–1137. Als Autoren waren, in alphabetischer Reihenfolge, die Wissenschaftler Franz-Reiner Erkens, Judith Ley, Dietrich Lohrmann, Harald Müller, Frank Pohle, Sebastian Ristow und Stadtarchäologe Andreas Schaub beteiligt. Mit den im Juni erschienenen drei Ausstellungskatalogen tritt eine zweite Publikation mit 1.104 Seiten neben ihn [AA1-3]. Nachdem Prof. Dr. Frank Pohle wie etliche seiner Autoren bereits bei dem ersten, ‘zielgenaueren’ Buch beteiligt waren – dort als Autor übergangen [Kraus, 611] –, wird primär auf dieses zurückgegriffen, aber die Weiterungen aus seitdem sechs Monaten Forschung werden beachtet.
Die detaillierten Ausführungen erbringen eine verbesserte Bauabfolge beim Aachener Zentrum. Bislang ging man davon aus, dass über den Resten römischer Thermen eine Kapelle Pippins d. J. stand, deren Platz vom karolingischen Oktogon eingenommen worden ist. Dazu gibt es jetzt neue Ergebnisse, die außerdem mit altvertrauten Fehlurteilen aufräumen wollen:
„Dabei spielte die Auseinandersetzung der Grabungsleiter mit Interpretationen von Schriftquellen der karolingischen und nachkarolingischen Zeit eine wichtige Rolle, denn sie neigten vielfach dazu, ihre Befunde nach den Erkenntnissen mediävistischer Forschung zu deuten. Mitunter wurden Befunde, die zunächst nicht in das aus den Quellen gewonnene Bild passten, gewaltsam umgedeutet und so lange interpretiert, bis Stimmigkeit gegeben war. […]
In vielen Fällen kann nicht mehr gesagt werden, was einen Ausgräber dazu veranlasst hat, eine Mauer oder ein Gefäß als karolingisch, merowingisch oder fränkisch einzustufen, da die Dokumentationen vielfach unzulänglich oder die Ansprachen ohne Begründung überliefert sind. Erschwerend kam hinzu, dass die ältere Forschung dazu neigte, karolingisch und karlszeitlich gleichzusetzen.“ [Pohle in Kraus, 15]
Bei dieser selbstkritischen Einstellung kann auch unser Blick mit größerer Schärfe und Objektivität die einzelnen Ergebnisse prüfen und koordinieren.
Römische Zeit
Als Besonderheit Aachens ist sein römischer Straßenplan nicht nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet, sondern um 39° von Nord nach Ost gedreht. Hier gab die Fernstraße, die zwischen Maastricht und Köln über den Höhenzug des Markthügels lief, die Orientierung [Ley in Kraus, 176].
Nach den Zerstörungen durch Germanen im Jahr 275 sind mindestens noch zwei spätrömische Bauphasen belegt [Schaub in Kraus, 47]. Im 4. und frühen 5. Jh. wurden innerhalb der intakten kleinstädtischen Struktur Umbauarbeiten an den Thermen am Büchel vorgenommen, woraus Badebetrieb erschlossen wird. Nördlich davon wurde Ende des 4. Jh. „ein aufwändig mit Fußbodenheizung und Marmorausstattung versehenes Gebäude völlig neu errichtet“; außerdem werden funktionierende Handelsrouten durch importiertes Tafelgeschirr belegt [ebd. 43]. Demnach ist das Gemeinwesen damals noch weitgehend intakt und nicht (durchwegs) verarmt.
Spezielle Betrachtung (s.u.) verdient die Ende des 3. oder im 4. Jh. [ebd. 43] gebaute Wehrmauer – zunächst ungeklärt, ob zum Schutz der Stadt oder eines Kastells auf dem Markthügel [Schaub in Kraus, 45], doch mittlerweile von Ristow klar als „burgus“, als „Rest einer spätantiken Wehranlage“ bezeichnet [AA2, 230]. Sie maß ca. 8 m in der Höhe, mehr als 4,60 m in der Breite, der vor ihr laufende Graben spannte sich ca. 6 m. Beide liefen direkt vor der Aula (heute Rathaus) auf der Seite der Pfalzkirche [ebd.].
Merowingische Zeit
Auf dem Gelände der Pfalzkirche entstand zu Anfang des 8. Jh. ein Friedhof, drei seiner Bestattungen wurden unterm Oktogon gefunden. Auf diesem Niveau sind bauliche Strukturen errichtet worden, die als Mauern und als Altar gedeutet werden [Schaub in Kraus, 47]. Lange hat man sie einer ersten Pfalz von Karls Vater Pippin d. J. zugerechnet, weil es für 765/66 Berichte gibt, wonach er 103 Tage in Aachen verbracht habe [Müller in Kraus, 56]. Zu ihr habe eine Kapelle gehört, die heute unterm Oktogon liegt. Tatsächlich ist von dieser ‘Kapelle’, heute Apsidenbau benannt [Ristow in Kraus, 121] kein aufgehendes Mauerwerk erhalten, die Grabungsbefunde geben „kaum Anhaltspunkte“ [Pohle in Kraus, 37]. Ein Blick auf die Pläne zeigt, dass die hier rekonstruierbare halbrunde Apsis über den Römermauern errichtet wurde, aber noch entsprechend römischer Orientierung und Stadtplanung.
Karlszeit
Es folgen die dem großen Karl zugeschriebenen Bauten:
- Phase: Zu ihr gehören die Nordbasilika (bisher Nordannex; bei Kraus findet sich die neue Bezeichnung nur im Bauphasenplan [Kraus, 120]) und der bald zerstörte Südwestbau. Beide verfehlen die Nord-Süd-Richtung um 4°; sie rangieren zeitlich knapp vor der großen, nächsten Phase.
- Phase: Nun gilt die exakte Nord-Süd-Ost-West-Orientierung für Pfalzkirche, Südannex, Atrium und die anschließend oder fast gleichzeitig gebaute Aula samt Granusturm. Dank der Forschungen der letzten Jahre ist Aachen überzeugt davon, die Pfalzkirche sei nicht vor 793 begonnen worden, wäre im Sommer 798 als Rohbau nutzbar und sicher vor 813 vollendet gewesen [AA3, 99; Schaub in Kraus, 151 f.]. Aula und Verbindungsgang sind wohl wenige Jahre später als die Kirche begonnen, der Granusturm ist zu Lebzeiten Karls nicht fertiggeworden [Kraus, 122, 152; AA2, 230].
- Phase: Aufgrund naturwissenschaftlicher Datierungen ist der große Mittelbau erst in der 2. Hälfte des 9. Jh. eingefügt worden [ebd. 157].
Kommentar: Jedes dieser Bauwerke weist andere Spezifika und damit auch Probleme auf. So war der sog. Nordannex falsch benannt, weil er nicht mit der Pfalzkirche, sondern vor ihr gebaut worden ist. Er ist eine Basilika: dreischiffig mit erhöhtem Mittelteil und einer auch außen sichtbaren Stirnapsis. Weil bereits unterm Oktogon eine ältere Kapelle vermutet wird, darf es sich um keine Kirche handeln; der Bau wird lieber als Bibliothek oder Skriptorium bezeichnet. Dabei wäre für Schreiber zumindest der höhere Mittelteil unpraktisch, weil in Tischhöhe schlechter beleuchtet und kälter. Da seine Ostwand noch bis ins 19. Jh. stand, ist dank einer Fotografie zu erkennen [Kraus, 132], dass dieser Mauerteil anders, ‘primitiver’ als das Oktogon gemauert ist. Die Mittelhöhe der Basilika ist belegt, weil eine der Türen mit Bronzeflügeln von der Empore des Sechzehnecks zum Nordannex hinüberführte.
Der Südwestbau lag nördlich des Kirchenwestbaus, war ca. 12,50 m breit, durch Quermauern unterteilt. Ihm ist keine Funktion zuzuweisen, da er beim Bau des Verbindungsgangs im Westen zerstört wurde [Ley in Kraus, 133].
Der mit dem Apsidenbau zeitgleiche Südannex wird als Sakristei angesprochen. Das muss verwundern, weil er keinen direkten ebenerdigen Zugang zur Pfalzkirche hatte [vgl. Abb. bei Kraus, 120].
Das Atrium ist bald nach seiner Erbauung in einer zweiten Bauphase mit Arkadenstellungen versehen worden. Dem heutigen, etwa gleich großen Domhof fehlt nur die 4,25 m tiefe Arkadenhalle im Westen [ebd. 131].
Die einstige Aula wird häufig mit dem heutigen Rathaus gleichgesetzt. Tatsächlich handelt es sich bei ihm um einen gotischen Neubau auf älteren Fundamenten, die stärker ausgelegt waren, als für den Neubau (1330–1349) notwendig. Für den Vorgänger lässt das an die schwere Massenbauweise der Romanik denken. Wie jüngste Untersuchungsergebnisse belegen, liegt die Oberkante des alten Fundaments bis zu 2,30 m unter der Laufebene der Gotik. Deshalb muss der Marktplatz nach Bau der Aula um diese Höhendifferenz aufgeschüttet worden sein [Hinrichs]. Die Archäologen sprechen heute flapsig von einer „Mehrzweckhalle“ mit westlicher Apsis, da es sich um Thron- und Speisesaal zugleich gehandelt haben könnte [Kraus, 270]. Zwei Anfügungen sind strittig geworden: Die nördliche Apsis könnte auch erst später angefügt sein, die südliche Apsis nie existiert haben [AA2, 236].
Zur Aula gehören auch der halbrunde Marienturm und der rechteckige Granusturm. Am Marienturm sind romanische Strukturen erkannt worden [Pohle in Kraus, 396; Hinrichs], die jetzt für eine deutliche Verjüngung sprechen (Josef Buchkremer hat sie „irrtümlich“ 1925 ins erste Aachener Modell aufgenommen [AA1, 186]). Der Granusturm gehört bis zu einer Höhe von 20 m zur Bauphase der Aula und ist im 14. Jh. um 14 m erhöht worden. Er wirft besonders viele Rätsel auf. Denn er enthält ein Treppenhaus, das so kaum bezeichnet werden kann. Die Treppe wechselt mehrmals die Richtung, weshalb die von ihr umschlossenen Binnenräume beim Aufstieg durchquert werden müssen. Alle diese Räume sind gewölbt, aber kaum belichtet und dementsprechend schwer nutzbar gewesen. Wie man auf nachfolgendes Urteil kommen kann, ist kaum nachvollziehbar:
„In seiner Struktur ähnelt er repräsentativen byzantinischen Treppenhäusern, einem Bautyp, der im Mittelalter zu Gunsten der Freitreppe wieder aufgegeben wurde“ [Kraus, 271].
Was mag hier repräsentativ gewesen sein? Dunkel bleibt auch, warum schon zur Karolingerzeit ein Turm angefügt gewesen wäre, denn Kirchtürme sind erst ab dem späten 10. Jh. gebaut worden, Türme an Profangebäuden noch später, wie etwa die Geschlechtertürme in der Regensburger Altstadt bezeugen, die ab dem frühen 12. Jh. entstanden [HLB / Geschlechtertürme]. In diesem Turm hat Karl der Große auch für die herrschende Lehre mit Sicherheit nie gewohnt [Kraus, 271], verweisen doch Holzdatierungen auf die zweite Hälfte des 9. Jh. [Kraus, 272].
Maueraussparungen erlauben es, entlang von Turm und Aula einen vorgelegten Gang, den nördlichen Verbindungsgang zu rekonstruieren [Ley in Kraus, 138]. Er muss fast auf dem Fundament der römischen Wehrmauer errichtet worden sein.
Auch der 127 m lange nord-südliche Verbindungsgang ist in seiner Funktion nicht klar zu erkennen. Da er doppelstöckig angelegt und der untere Gang gewölbt war, will man Warteräume vermuten, in denen sich Gesandtschaften oder fränkische Besucher aufhielten, bevor sie in der Aula zugelassen wurden [ebd. 270].
Am rätselhaftesten ist die heute Mittelbau genannte Einfügung in den Gang: ein mächtiges Bauwerk von ca. 450 m² Grundfläche, mit einem Außenfundament in Breiten zwischen 2,44 und 4,90 m [Kraus, 369]. Teile dieses Fundaments waren sogar breiter angelegt als die der Pfalzkirche; das kann bislang nicht motiviert werden [Kraus, 141, 369]. Früher war von Torbau die Rede, doch die Archäologen haben klargestellt, dass eine Durchfahrt nie möglich gewesen ist. Bei einem solchen Fundament wäre ein mehrstöckiger Bau zu erwarten, aber für die Karolingerzeit kann kein entsprechendes Bauwerk motiviert werden. Da erst nach Karls Tod errichtet, kann die Karlsfamilie hier nicht gewohnt haben. So bleibt der Kaiser unbehaust.
Aber vielleicht hielt er sich – um ein wenig über Horst Bredekamp hinauszugehen – als „schwimmender Souverän“ ständig im Wasser auf? [vgl. Illig 2014] Doch haben die karolingischen Thermen einen schweren Stand. Stadtkonservator Leo Hugot entwickelte 1964/65 ein ‘aktives’ Pfalzmodell: „Es band […] das Modell den Badebezirk am Büchel an und rekonstruierte […] das karolingische Badehaus“ [AA1, 188], dazu „ein großes, von Arkaden gesäumtes (imaginäres) Freibad über teilergrabenen römischen Grundrissen“ [AA2, 224]. Bei seinem Modell von 1981 ließ er den Badebezirk weg; nach seinem Tod fügte das Stadtgeschichtliche Museum einen Teil als „erkennbares Addendum“ wieder an [AA1, 189]. Das heuer präsentierte Modell verzichtet auf archäologisch Unnachweisbares und folglich auf die karolingischen Thermen.
Neues zur Aachens Pfalzkirche
Der wunderbare Bau steht auf von West nach Ost abfallendem Gelände, weshalb der Ostteil bis zu 2,5 m aufgehende Mauern erhielt, die mit Erde und Schutt aufgefüllt worden sind. Im Süden stehen die Fundamente auf Fels, im Norden im Löss, der an einem Oktogonpfeiler wegen Feuchtigkeit eine Eichenpfahlgründung erhielt [AA2, 367; Kraus, 148]. Dazwischen liegen auch römische Überreste einer Therme.
Nachdem Aachen mehrere Jahrhunderte lang erfolglos nach dem unterirdischen Karlsgrab gesucht hat, sucht man sein Heil in einem oberirdischen Aufbau. Dies wird möglich, indem jetzt die Berichte des 11. Jh. über die Graböffnung durch Otto III. unter die „fiktionalen Erzählungen“ eingereiht werden, womit sie keine „Aussagen über tatsächliche Sachverhalte“ enthalten können [AA2, 385].
„Bayer legt sich fest auf ein Nischengrab – bestehend aus dem Proserpina-Sarkophag (heute in der Domschatzkammer) und einem darüber gemauerten Bogen – im Südost-Joch des 16-Ecks des Domes“ [J/P].
Diese Kombination gab es bis 1788 im Dom und wurde als Karlsmemorie bezeichnet. Doch sie hat zwei Nachteile: Niemand weiß, wann sie errichtet worden ist, und gerade der Proserpina-Sarkophag wird in den zeitgenössischen Quellen, allen voran Einhard, nicht genannt; niemand weiß, wann er nach Aachen gebracht worden ist. Beim Thron wird ein derartiger logischer Bruch nicht hingenommen (s.u.), hier aber mit Freuden, um geschmeidig von dem unauffindbaren Boden-Grab zu einer oberirdischen Bestattung wechseln zu können. Die unterirdische Bestattung ist für Clemens M. M. Bayer durch die Grabungen von Andreas Schaub „ganz eindeutig“ widerlegt; der schon mehrmals über Karl gestrauchelte Max Kerner hält sich ein Hintertürchen offen und nennt sie „eher unwahrscheinlich“ [J/P].
Der Quadriga-Stoff, 1999 im Vorfeld der Ausstellung von Stiegemann und Wemhoff als Leichentuch Karls bezeichnet, ist schon im Katalog von diesem Ruch befreit worden [vgl. Illig 1999, 404]. In Aachen, das den Stoff in der Domschatzkammer hütet, wird er zum Stoff der Kreisquadratur, zeugt er doch gerade mangels Stringenz besonders stringent für ein Kaisergeschenk:
„Traditionell wurde diese Seide als byzantinische Schenkung an Karl den Großen gesehen, obwohl keine Quelle dies erwähnt und der Quadrigastoff auch nicht nachweislich im Karlsschrein aufgefunden wurde. Dennoch spricht einiges für die Überlieferung. Es handelt sich also um ein kaiserliches Geschenk“ [AA1, 255].
Auf diesem Satz von Monica Paredis-Vroon ließe sich eine nichtklassische Logik gründen, die damals entstehende sog. karlische Logik.
„Und mehr als das. Denn auch die Wiedergeburt des logischen, überprüfbaren Regeln unterworfenen Denkens ereignete sich am Hof Karls des Großen“ [AA2, 282].
Auf der Empore steht der berühmte Thron, an dem jetzt stört, dass er erst in ottonischen Quellen, für 936, genannt wird. Nach Harald Müller und Kerner hat sich auch Bayer gegen einen Karlsthron ausgesprochen, doch er zieht daraus einen verblüffenden, da ungedeckten Schluss: „Sicher ist, dass der Thron aus karolingischer Zeit stammt“ [J/P]. Schüttes Argumente für einen Hochsitz um 800 stören ihn nicht: „Sven Schütte soll sein [seit 14 Jahren; HI] angekündigtes Buch vorlegen, dann kann man weiter diskutieren“ [J/P]. Wie den Zeitensprünge-Lesern bekannt, hat Schütte die Datierung auf 800 ungewollt als höchst unprofessionell dargestellt: „Statistiker rüttelten die Kurven – und siehe da: Der große Karl darf wieder Platz nehmen“ [vgl. Illig, 2001, 520].
Von den vier Eisenankern im Kuppelansatz ist bekannt, dass sie nicht später eingebaut worden sein können. Da sie aus zwingenden technischen Gründen nicht vor 1100 geschmiedet worden sein können, muss der Bau um mindestens 300 Jahre verjüngt werden [vgl. Illig 2013]. In Aachen hat man sich jedoch entschlossen, dem Dombaumeister zu folgen, der messerscharf und eisenhart folgert, damit sei nachgewiesen, dass die Karolinger 795 bereits schwere Eisenanker schmieden konnten. Diese Notlüge hat sich bislang behauptet. Wir begegnen ihr abgeschwächt bei Judith Ley:
„Gleichzeitig wurden in Aachen hochqualifizierte Handwerker aus unterschiedlichen Gewerken zusammengezogen, die verschiedene antike Techniken beherrschten. Die Arbeit der Steinmetze, Maurer und Zimmerleute ist bereits durch die Beobachtungen an den Bauten selbst gewürdigt worden. Fragen hinsichtlich des Schmiedeprozesses werfen die besonders harten eisernen Ringanker auf“ [Ley bei Kraus, 186].
Notlüge insofern, als mit keiner antiken Technik solche Eisenanker geschmiedet werden konnten und folglich auch nirgends Handwerker aufzutreiben waren, die eine revolutionäre Methode beherrscht hätten. Mittlerweile stellt sich das Problem für Ulrike Heckner etwas anders dar:
„Alle Eisenanker sind in den karolingischen Mörtel eingebettet und gehören zweifelsfrei der Erbauungszeit an. Das Eisen wurde im Rennofenverfahren gewonnen und ist sehr gut geschmiedet. […]
Die Eisenanker am karolingischen Bau des Aachener Doms sind seit den Restaurierungen im 19. Jahrhundert bekannt. In die wissenschaftliche Literatur zur Entwicklung historischer Bautechniken hat dieses einzigartige Beispiel einer Eisenkonstruktion aus dem späten 8. Jahrhundert aber bisher kaum Eingang gefunden. Neue statische Berechnungen belegen, dass die beiden Hauptanker des Oktogons präzise dimensioniert und positioniert sind. Es ist rätselhaft, woher die karolingischen Baumeister ihre hoch entwickelten Kenntnisse bezogen haben. Generelle Verweise auf römische oder byzantinische Bautechnik bleiben vage, solange kein Bauwerk benannt werden kann, das eine vergleichbare Ringverankerung besitzt. Der Aachener Zentralbau kann daher bisher seine Stellung als frühestes bekanntes Beispiel einer Eisenringverankerung behaupten. Die Technik ist allerdings so ausgefeilt und professionell angewendet, dass sie nicht ohne Voraussetzungen entstanden sein kann“ [AA2, 362].
Aachen braucht also dringend einen Vorläufer: für die Konstruktion wie für die Schmiedetechnik. Römische Zivilisation ist lange genug durchforstet worden. Solange sich die Forscher weigern, die Vorläufer im späten 11. Jh. und um 1100 zu suchen, werden sie nicht fündig werden.
Auch bei der ursprünglichen Dekoration der Kuppel gibt es noch Probleme. Denn in der Ausstellung zeigt man 124 goldene und 30 blaugrüne Mosaiksteine, ein halbes Promille des Bestandes an „karolingerzeitlichen Glasmosaiksteinen“ [AA1, 105], dessen Größe auch daran erkennbar ist, dass separat weitere 81 Steinchen gezeigt werden [AA1, 181, 250 f.]. Für die lokalen Forscher sind sie karolingerzeitlich, weil sie mit den „mutmaßlich karolingerzeitlichen Glasproduktionsreste[n] von drei verschiedenen Fundstellen im direkten Umfeld der Pfalz“ weitgehend übereinstimmen [ebd.]. Deswegen wird davon ausgegangen, dass schon beim Bau selbst das Kuppelmosaik gelegt worden ist, obwohl eine Dissertation darauf hinweist, dass diese Mosaike auch erst zu Beginn der Barbarossa-Zeit gelegt worden sein könnten [Wehling 1995], da erstmals 1166 auf sie Bezug genommen wird [AA1, 181]. Es gibt auch eine ‘mittlere’ Einschätzung:
„Um den Bau nutzen zu können, hatte man ihn nach kürzester Bauzeit eingerichtet und wohl auch zunächst mit Fresken ausgemalt, denen später Mosaiken gefolgt sind“ [Ristow in Kraus, 122].
Nachdem es keine Kleinigkeit ist, ein 30 m hohes Arbeitsgerüst in einer fertigen Kirche mit ihren empfindlichen Baugliedern zu errichten, muss ernsthaft gefragt werden, ob sich das die Karolinger zugemutet haben.
Im Übrigen ist festzuhalten, dass nach der jüngsten Untersuchung durch Ulrike Heckner [2012] der Pfalzkirche ein Fußmaß von 32,24 cm und eine klare, einfache und elegante Konstruktion zugrunde liegt. Dieses Maß kommt dem Pariser Königsfuß von 32,48 cm deutlich näher als dem karolingischen Fuß von 33,29 cm. Der Königsfuß wurde aber erst im Hochmittelalter benutzt [Ley in Kraus, 237-239] – ein weiterer Hinweis auf einen Bau des 12. Jh.
Abschließend sorgen die karolingerzeitlichen Bezeichnungen der Aachener Bauten für ein maliziöses Lächeln. Denn eine Konkordanz bei Kraus [408] offenbart, dass mit zwei Ausnahmen kein einziger Bau „präzise bezeichnet“ wird. Da sind Granusturm, Mittelbau, Nebengang oder Südwestbau „nicht identifizierbar“, andere Bauteile tragen Fragezeichen, als hätten die Schreiber nicht gekannt, was sie beschreiben sollten. Die Bezeichnungen für Pfalzkirche und Aula (Königshalle) wirken austauschbar und vage: Die Pfalzkirche wird genannt „aula, basilica, ecclesia (sanctae mariae), capella, templum, oratorium, monasterium (auch die Kirche umfassend)“ – die beiden ersten Benennungen sind grob irreführend. Und die Königshalle? „unsicher – wohl regia, palatium (was beides aber auch die Gesamtpfalz meinen kann); basilica humana (Notker)“ [ebd.]. Nur der erst 912 gestorben sein sollende Notker Balbulus verwendet eine halbwegs richtige Bezeichnung, allerdings fehlen für eine Basilika die beiden Seitenschiffe. Offenbar kannte keiner der karolingischen Schreiber die Aachener Pfalz.
Die römische Wehrmauer
Ebenso wichtig wie alle Details der Pfalzanlage ist ein im herrschenden Bild verquerer Befund. Die Römer haben nach 275, als Germanen u.a. die Thermen auf dem Markt zerstört hatten, den Markthügel schwer befestigt: Eine mehr als 4,60 m breite und 8 m hohe Mauer, vor ihr ein 6 m breiter Wehrgraben [Kraus, 45; Hautermans]. Die Datierung wird durch 12 Münzen aus der Brandschicht gestützt [Kraus, 43].
„Der befestigte Markthügel diente danach wohl als Fluchtburg. Errichtet wurde die Mauer aus wiederverwendeten Steinen“ [Hautermans].
Der Graben wurde im mittleren 5. Jh. verfüllt, wie eine spätantik-frühchristliche Sigillata-Scherbe belegt [Kraus, 45; AA2, 230]. Für das Verfüllen
„ist eine nennenswerte Anzahl von hier lebenden Menschen vorauszusetzen, die diese Leistung umsetzen konnten. Man muss davon ausgehen, dass man solche umfangreichen Arbeiten nur mit der Intention neuer Nutzungskonzepte in Angriff nahm. Man hatte also vor, auch über die Mitte des 5. Jahrhunderts hinaus weiterhin am Ort zu bleiben“ [Kraus, 45].
Auch dieser Befund bestärkt die Forschung mittlerweile darin, dass es zwischen römischer Siedlung und frühmittelalterlicher Nutzung Siedlungskontinuität gegeben hat [Kraus, 42]. Aber es
„scheinen zumindest die bisher westlich des Rathauses und in der Krämerstraße nachgewiesenen Teile der Wehrmauer noch bis in das hohe Mittelalter aufrecht gestanden zu haben“ [Kraus, 45].
Die Krämerstraße beginnt an der Ostseite des Rathauses und läuft zum Domchorhaupt. Da durch jüngste Grabungen an der Westseite der Aula nachgewiesen ist, dass das Niveau von Aula und Marktplatz beim Bau der Aula „gut zwei Meter“ tiefer lag als heute, wie Monika Krücken als Leiterin des Denkmalamts konstatierte [Hinrichs], wirkte die Mauer umso imposanter [Hautermans]. Aber warum blieb sie stehen, obwohl sie störend im Weg stand?
„Wahrscheinlich, so vermutet Stadtarchäologe Andreas Schaub, weil der Frankenkönig mit dieser für die damalige Zeit gewaltigen Mauer Eindruck machen wollte, etwa auf Gesandte aus Sachsen“ [Hautermans].
Mitten im karolingischen Ensemble eine nutzlos gewordene römische Wehrmauer als Raumteiler zwischen Kirche und Aula; ausgerechnet dort, wo man einen freien Platz mutmaßen möchte? In einem Computer-Modell fehlt die Mauer nur direkt vor Aula und Granusturm, abgetragen für den nördlichen Verbindungsgang [Hautermans]. Es wäre deutlich einfacher gewesen, die Aula in einer gewissen Entfernung von der Wehrmauer zu bauen, ob näher an der Kirche oder etwas weiter auf dem Hügel. Denn bereits die Aula-Apsis wäre von der Riesenmauer verdeckt gewesen. Und das ließ man bis ins 12. Jh. stehen, um zum Königsgeschlecht avancierten Sachsen zu imponieren?
Das für die Ausstellungen von 2014 gebaute Pfalzmodell lässt diese mächtige Wehrmauer einfach weg, wohl weil sie das Ensemble aus Aula, Verbindungsgang, Mittelbau und Pfalzkirche allzu sehr beeinträchtigen würde. Sie fehlt auch im derzeit besten Pfalzplan [Kraus, 120; AA2, 227]. Insofern entspricht auch das neue Modell nicht ‘karolingischer’ Realität: Die Mauer entstammt zwar nicht der Karolingerzeit, hätte aber die karolingische Gegenwart maßgeblich geprägt.
Die Aula hatte ein Fundament, das „mit etwa 2,40 Metern Breite rund 80 Zentimeter mächtiger ist als die Grundmauern des »neuen« Rathauses, die darauf errichtet wurden“ [Hinrichs]. Weil das gotische Rathaus erst ab 1330 hochgezogen worden ist, bleibt aus hier vertretener Sicht Zeit genug für einen romanischen Bau, der zeitgleich mit der Beseitigung der Wehrmauer nach 1100 errichtet wurde. Die Spolien im Fundament und in den aufgehenden Mauern des heutigen Rathausbaus sind noch zu untersuchen:
„Die Forscher wollen auch das Mauerwerk unter die Lupe nehmen, um dessen offenbar im romanischen Stil gehaltene Bogenstrukturen zu analysieren“ [Hinrichs].
„… auch wenn sich gerade am Marienturm noch heute ganz offensichtlich Mauerwerk abzeichnet, das nur aus romanischer Zeit stammen kann, ist es weder eindeutig datiert noch kontextualisiert“ [Kraus, 396].
Die Bogenstrukturen sind „offenbar“ gut erkennbar, aber mit einem karolingischen Bau nicht zu vereinen. Sie bestätigen das hier entwickelte Zeitgerüst. Das wiederum gibt dem ab 1100 in Aachen zu konstatierenden Bauboom (s.u.) sein Zentrum.
Auf dem Markthügel ist nach Verfüllen des Wehrgrabens und der damit verbundenen Aufgabe der spätrömischen Wehranlage ein Friedhof angelegt worden, der bis in spätmerowingische Zeit belegt worden ist [Kraus, 45]. Er wäre sehr schnell mit der Aula überbaut worden. Aus christlichen Pietätsgründen wäre dem Friedhof eine längere Ruhephase zu gönnen, die im hier präsentierten Schema bis ins 11. Jh. reicht.
Aachen um 800 – ein Phantom
Rings um die Pfalz aber hat sicher der Bär gesteppt, stand doch sogar sein bronzenes Konterfei in der Pfalzkirche? Mitnichten. Die Grabungen der letzten Jahre bestätigen, dass Aachen grosso modo zwischen 800 und 1100 als nennenswertes Gemeinwesen nicht existiert hat.
„Zwar hat die Stadtarchäologie in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht und konnte karolingisches Leben an vielen Orten im innerstädtischen Bereich nachweisen, eine genaue Vorstellung davon, wie das damaligen Aachen jenseits von Königshalle und Marienkirche aussah, besitzen wir jedoch noch nicht“ [Müller in Kraus, 311].
„Wo sich der Marktplatz für den Umschlag der Grundnahrungsmittel wie der außergewöhnlicheren Güter befand, ist offen. [… wobei] der Markt zugleich die öffentliche Mitte der Siedlung war […] Auch die eng mit dem Markt verknüpfte Münzprägestätte bleibt im Dunkel“ [ebd. 317].
„Die Siedlung bei der Pfalz, für die sich der Begriff des vicus eingebürgert hat, bleibt in ihrer Bausubstanz beinahe ein Phantom“ [ebd. 318; Hvhg. HI].
„Die Existenz des vicus als von der Kernpfalz gesondert wahrnehmbarer Bereich ist nicht zu bezweifeln, seine konkrete Gestalt bleibt aber aus historischer wie archäologischer Perspektive recht vage“ [Müller in Kraus, 336].
„Bemerkenswert ist der fehlende Nachweis ›dorfüblicher‹ Handwerke. […] Ungewöhnlich scheint auch der Umstand, dass trotz langjähriger archäologischer Grabungen insgesamt nur zwei karolingerzeitliche Münzen aus Aachen bekannt sind (Dom und Neupforte)“ [Schaub in Kraus, 330].
„Wo die Amtleute, Bediensteten und Gäste des Hofes, die Handwerker, Kaufleute, Knechte, Mägde und Tagelöhner wohnten, bleibt genauso im Dunkel wie die Lage der von der herrscherlichen Familie bewohnten Gemächer“ [Müller in Kraus, 335].
In einem unguten Verschnitt aus schriftlichen und archäologischen Belegen haben sich Harald Müller und Andreas Schaub daran gemacht, gleich noch einmal die ‘Realitäten’ vorzuweisen. Sieht man von zahlreichen Scherben ab, die den Karolingern zugeschrieben werden, gähnt trotz vielfacher Pergamenthinweise nur die Leere:
„So gab es mit Ausnahme der großen karolingerzeitlichen Pfalzbauten praktisch keine nachweislich in dieser Zeit entstandenen Häuser“ [AA2, 246],
weil man damals wohl römische Bausubstanz weiter nutzte. Urkundlich genannte Unterkünfte, „die zumindest teilweise Sammelherbergen gewesen sein dürften“, bleiben in Lage und Aussehen „gänzlich unbestimmt“ [AA2, 248]. Der Marktplatz „konnte bislang nicht lokalisiert werden“ [AA2, 249].
„Da kein Hinweis auf eine karolingische Wehrmauer gegeben ist, welche die (oder das) Pfalzgebäude umgab, könnten Hecken oder bloße Wegverläufe die Grenzen des Sonderbezirks palatium optisch markiert haben“ [AA2, 250].
„Nach den bisherigen Innenstadtgrabungen ist festzustellen, dass es typische frühmittelalterliche Häuser in Form einfacher Pfostenbauten oder sogenannter Grubenhäuser in Aachen allenfalls selten gegeben hat“ [ebd.].
„Auffallend ist das Fehlen »dorfüblicher« Handwerke im vicus. Die wenigen Belege beschränken sich auf Gewerke, die mit den Pfalzbauhütten zusammenhängen (Buntmetallschmelze vom Katschhof, Produktion von Goldglasmosaiksteinen am Hof), somit temporär waren und kaum das alltägliche Bild widerspiegeln“ [AA2, 252].
„Möglicherweise gab es abseits des Zentrums Zonen, in denen sich Handwerk und Handel abspielten“ [ebd.].
„In lockerer Streuung um die Kernpfalz lassen sich Hinweise auf begüterte Personenkreise in Form luxuriöser Bauausstattung finden. Möglicherweise waren es Gehöfte, die mit Gräben umfriedet waren“ [AA2, 253].
Auch Einhards lediglich literarisch überliefertes, unauffindbares Haus wird so gesehen: „vermutlich ein Gehöft mit einfacher Kapelle“ [AA2, 247].
„In Aachen ist bislang nur ein einziges sicheres Grubenhaus des 10. Jahrhunderts am Hof nachgewiesen“ [AA2, 250].
„Gerade das 10. Jahrhundert lässt sich in der überlieferten Sachkultur Aachens kaum wiederfinden. Sieht man einmal von dem genannten Brunnen ab, gibt es noch das ebenfalls schon erwähnte Grubenhaus des 10. Jahrhunderts vom Hof sowie möglicherweise Funde des 10. Jahrhunderts aus dem Bereich der Bendelstraße.“ [Kraus, 394]
„Wir können all diese Beobachtungen noch nicht abschließend deuten“ [AA2, 252].
Das dürfte im herrschenden Geschichtsbild auch noch dauern. Bis dahin gilt:
„Auch wenn künftig einmal wieder archäologische Funde und Befunde des 10. und 11. Jahrhunderts in Aachens Untergrund auftauchen sollten, so wird sich das Bild nicht grundlegend ändern. Wir müssen für diese Zeit zumindest einen erheblichen Siedlungsrückgang konstatieren“ [Schaub in Kraus, 394].
Während um 800 alle Welt nach Aachen strebt – „Immer mehr Gelehrte strömten an des Königs Hof“ [AA2, 280] – , will weder damals noch in den folgenden Jahrhunderten irgendjemand in diesem Ort leben und arbeiten. Es ist deshalb schwer vorstellbar, wie in dieser Zeit die Pfalzkirche für Krönungen genutzt werden konnte, scheint es doch auch keinerlei Reparaturarbeiten an ihr gegeben zu haben.
Aachen um 1100 – Boomtown
Aachen erwacht erst mit dem 12. Jh. aus seinem Dornröschenschlaf nach Römer- und Merowingerzeit.
„Eine wirkliche Boom-Phase erlebt Aachen aus archäologischer Sicht erst wieder in den Jahren um 1100. […] In diesen Jahren werden offenbar erst die jüngsten römischen Steingebäude, darunter auch die mächtige Wehrmauer am Markthügel, in großem Stil und endgültig abgebrochen, um das Steinmaterial für neue Bauzwecke verwenden zu können. Im selben Zeitraum scheint auch der Nordannex in Teilen niedergelegt worden zu sein. Überall in der Innenstadt kommen bei Grabungen besonders viele Funde aus dem frühen 12. Jahrhundert zum Vorschein, die Beleg für gewaltige Erdbewegungen dieser Zeit sind“ [Kraus, 394].
Nicht angesprochen wird dort, warum die römische Wehrmauer drei Jahrhunderte lang im Zentrum Aachens stehen blieb. Und für welche Großbauten ihre Steine wiederverwendet worden sind? Und warum „gewaltige Erdbewegungen“ diesen Neubeginn begleitet haben?
Zwei Bauphasenabfolgen
Aachens Pfalz in herkömmliche Sicht und Datierung
- Römische Bausubstanz, aber nicht näher bestimmbar;
- Erstes Badegebäude, zum Teil auf Altmauern, Mitte des 1. Jh.;
- Umbau und dann Bau einer größeren Therme, um 100;
- Nach langjähriger, durch Sinter belegter Nutzung Bauänderungen und Reparaturen, 3. Jh. [Siebigs, 18 f.];
- Ende des 3. oder im 4. Jh. Bau von Wehrmauer und Graben beim Marktplatz;
- Therme im 5. Jh. umgebaut und damit damals noch in Betrieb [Kraus, 120]; Wehrgraben um den Markthügel wird damals verfüllt.
- Friedhof wird auf dem Markthügel angelegt und bis in die späte Merowingerzeit belegt. Nach 700 entsteht ein Friedhof auf dem Gelände der späteren Pfalzkirche.
- Erster, von mindestens drei Gräbern umgebener Apsidenbau (früher als Pippins Kapelle gesehen), dazu Nordbasilika und Südwestgebäude;
- Ab 793/94 folgt der erste Teil des Kernensembles: Pfalzkirche, Atrium in seiner ersten Ausbaustufe mit westlicher Arkadenhalle, Südannex, nördlicher Teil des Verbindungsganges;
- Noch während des Kirchenbaus folgen Aula mit Granusturm, der erst nach Karls Tod fertig wird (bei Wikipedia [/ Granusturm, gelesen am 20. 07.] liegt seine Fertigstellung weiterhin bereits bei 788).
- Zweite Ausbaustufe des Atriums, zwischen 800 und 850;
- Mittelbau zwischen 850 und 900 [Ristow in Kraus, 120];
- Römische Wehrmauer zwischen Aula und Pfalzkirche nach 1100 niedergelegt.
- Gotisches Rathaus von 1330 bis 1349, Granusturm wird um 14 m erhöht;
- Gotische Chorhalle von 1355 bis 1414.
Demnach folgen sich hier 6 römische, 6 karolingische (davon 2 Karls-) und 3 hochmittelalterliche Bauphasen. Von irgendwelchen Katastrophenhorizonten ist nirgends die Rede. Die Quintessenz:
„So wenig tatsächlich gesichert scheint und so viele Möglichkeiten für Spekulationen sich damit eröffnen – was hier durch ein häufiger inseriertes »vermutlich« oder »vielleicht« angedeutet wird –, eines ist klar: Die Aachener Marienkirche wurde im Auftrag Karls des Großen errichtet“ [Markschies in AA3, 107].
Nun wird die bisherige Phase 7 aufgeteilt, die jüngeren Bauten werden neu datiert. So ergeben sich 6 hochmittelalterliche, 2 merowingische und wie bisher 6 römische Bauphasen:
Aachens Pfalz in kritischer Sicht und Datierung
- Römische Bausubstanz, aber nicht näher bestimmbar;
- Erstes Badegebäude, zum Teil auf Altmauern, Mitte des 1. Jh.;
- Umbau und Bau einer größeren Therme, um 100;
- Nach langjähriger, durch Sinter belegter Nutzung Bauänderungen und Reparaturen, 3. Jh. [Siebigs, 18 f.];
- Ende des 3. oder im 4. Jh. Bau von Wehrmauer und Graben beim Marktplatz;
- Therme im 5. Jh. umgebaut und damit damals noch in Betrieb [Kraus, 120]; Wehrgraben um den Markthügel wird damals verfüllt.
- Friedhof wird auf dem Markthügel angelegt und bis 614||911 (späte Merowingerzeit) belegt. Noch in merowingischer Zeit entsteht ein Friedhof auf dem Gelände der späteren Pfalzkirche.
- Merowingisches Apsidengebäude unterm Oktogon, noch römisch orientiert, von merowingischen Gräbern umgeben, 6. Jh.;
- Nach Besiedlungspause Nordbasilika und Südwestgebäude, 11. Jh.;
- Ab 1100 folgt das Kernensemble: Pfalzkirche, Atrium in seiner ersten Ausbaustufe mit westlicher Arkadenhalle, Südannex, nördlicher Teil des Verbindungsganges und Aula mit Granusturm, alles romanisch, 12. Jh. Dazu wird die römische Wehrmauer auf diesem Gelände niedergelegt.
- Zweite Ausbaustufe des Atriums, späteres 12. Jh.;
- Mittelbau, spätes 12. Jh.;
- Gotisches Rathaus von 1330 bis 1349, Granusturm wird um 14 m erhöht;
- Gotische Chorhalle ab 1355, bis 1414.
Kommentar
Der Verfasser hat bereits 1994/96 den Bau der Pfalzkirche aus bauhistorischen Gründen in diese Boom-Phase gelegt, obwohl sie damals noch gar nicht bekannt war. Für diese Kirche und die übrigen Pfalzgebäude wurden die Steine benötigt, wurde eine einheitliche Fläche angelegt, auf der die Römermauer nun störte. Nur so bekommt die Entwicklung Sinn und Zweck. Mittlerweile sind im Fundament der Pfalzkirche viele große römische Spolien nachgewiesen worden. Bislang wurde daraus geschlossen, dass die Ruinen vieler stattlicher Bauten eines römischen Aachens, das über verschlafene Veteranenthermen weit hinausging, dafür benutzt worden sind. Nun lässt sich überlegen, wie viele dieser Quader nach der Germanenzerstörung zunächst in die Wehrmauer und dann im 12. Jh. in die Pfalzbauten gewandert sind.
Mit dieser Neudatierung wird einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten Rechnung getragen, die in herrschender Sicht nicht berücksichtigt werden können, etwa wenn sie eine langjährige „innovative Großbaustelle [voraussetzt], auf der zahlreiche Handwerker mit spezialisiertem Wissen von weither zusammengezogen wurden“ [Ley in Kraus, 272].
- Der Bezug auf Pippin ist allein der Literatur geschuldet und nicht aufrechtzuerhalten.
- Der Apsidenbau unterm Oktogon ist anders orientiert als die mit ihm zeitgleich gesetzten Bauten; sie müssen getrennt gesehen werden.
- Für den Nordannex muss der Begriff Nordbasilika durchgehend verwendet werden: primär, weil er der Pfalzkirche nicht angefügt, sondern vor ihr errichtet worden ist, zum anderen, weil er eine Kirche gewesen sein dürfte.
- Rings um die Pfalzgebäude sind keine karolingische Spuren von Leben im vicus zu erkennen (s.u.). Die Schriften berichten Fiktives.
- Die archäologisch nicht nachweisbare Zerstörung durch die Normannen im Jahr 881 entfällt.
- Aachen besteht gemäß den Ausgrabungsergebnissen im 10. und 11. Jh. wohl nur als Dorf [Schaub in Kraus, 394]:
- Wie man sich die Krönungen bis Ende des 11. Jh. in einer praktisch unbewohnten Siedlung vorzustellen hat, bleibt im Dunkeln.
So bleibt als Quintessenz: Das karolingische Aachen ist ein Phantom, das gestrichen werden muss, um dem materiellen Befund gerecht zu werden.
P.S. Max Kerner sei Dank. Als Einziger hat er es gewagt, auf den besprochen eintausendeinhundert Seiten der Neuerscheinungen eine wohlbekannte, von ihm oft und oft bekämpfte Gegenmeinung zu erwähnen: „Was ist von der nachgerade abenteuerlichen These zu halten, Karl der Große habe gar nicht existiert?“ [AA2, 400]. Freilich gibt er keine Antwort auf seine rhetorische Frage, freilich nennt er weder Urheber noch Quelle. Aber ein Aachener Mediävist kann nicht beliebig weit über seinen Karlsschatten springen; da ist dieser Hinweis das Äußerste der Möglichkeiten.
Literatur
AA1 = Pohle, Frank (Hg. 2014): Karl der Große · Charlemagne. Orte der Macht · Katalog; Sandstein, Dresden (Im Auftrag der Stadt Aachen für die Ausstellungen vom 20. 06. bis 21. 09. im Krönungssaal des Aachener Rathauses, im Centre Charlemagne und in der Domschatzkammer)
AA2 = Pohle, Frank (Hg. 2014): Karl der Große · Charlemagne. Orte der Macht · Essays; Sandstein, Dresden
AA3 = Brink, Peter van den / Ayooghi, Sarvenaz (Hg. 2014): III: Karl der Große · Charlemagne. Karls Kunst; Sandstein, Dresden
dpa (2014): Ein Modell-Versuch zur Kaiserpfalz; Mittelbayerische, Regensburg, 22. 05.
Hautermans, Heiner (2014): Karl ließ seine Königshalle auf römischen Mauern gründen; Aachener Nachrichten, 04. 04.
Heckner, Ulrike (2012): Der Tempel Salomos in Aachen: Datierung und geometrischer Entwurf der karolingischen Pfalzkapelle; Die karolingische Pfalzkapelle in Aachen. Bauforschung – Bautechnik – Restaurierung (= Arbeitsheft der Rheinischen Denkmalpflege, 78); Worms
Hinrichs, Matthias (2014): Karls Spuren führen tief unters Rathaus; Aachener Zeitung, 07. 01. (Eschweiler Nachrichten, 08. 01.)
HLB = Historisches Lexikon Bayerns; http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/base/start
Illig, Heribert (2014): Fluxus – Karl – geschwurbelt. Eine Bredekamp-Rezension; Zeitensprünge 26 (1) 45-54
– (32013): Aachen ohne Karl den Großen. Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Gräfelfing
– (2001): Vom Rütteln (an) der Wahrheit. Zur weiteren Diskussion der Phantomzeitthese; Zeitensprünge 13 (3) 513-523
– (1996): Das erfundene Mittelalter; Econ, Düsseldorf (heute Ullstein, Berlin)
– (1994): Hat Karl der Große je gelebt?; Mantis, Gräfelfing
J/P = Jansen, Guido / Pappert, Peter (2014): Thronfrage bleibt offen, Grabfrage scheint geklärt; Aachener Zeitung, 18. 06.
Kraus, Thomas R. (2013): Aachen · Von den Anfängen bis zur Gegenwart 2. Band: Karolinger – Ottonen – Salier · 765–1137; Stadt und Aachener Geschichtsverein e.V., Stadtarchiv; Aachen
Maintz, Helmut (o.J.): Steckbriefe · Dom zu Aachen; http://www.dombaumeisterev.de/steckbriefe/aachen_html_m20040d.jpg
Siebigs, Hans-Karl (2004): Der Zentralbau des Domes zu Aachen – Unerforschtes und Ungewisses; Worms
Wehling, Ulrike (1995): Die Mosaiken im Aachener Münster und ihre Vorstufen; Köln · Bonn