von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 1/2013)
[S/G =] Schütte, Sven / Gechter, Marianne (2012): Von der Ausgrabung zum Museum – Kölner Archäologie zwischen Rathaus und Praetorium · Ergebnisse und Materialien 2006–2012; Köln, 330 S., 402 Abb., mit Beiträgen von zwölf weiteren AutorInnen; wohlfeil
„Ich beobachte die Tätigkeiten von Sven Schütte nolens volens seit inzwischen weit über fünfzehn Jahren. Er stellt sich grundsätzlich nicht der Wissenschaft, sondern hat sich vielmehr darauf verlegt, das, was er meint erforscht und an angeblich Neuem und Sensationellem herausgefunden zu haben, immer und immer wieder über die Presse in die Welt zu setzen und zu verstetigen.“
Prof. Dr. Heinz Günter Horn [2008; vgl. Illig 1/2009, 226]
Horn zum Trotz hat Schütte etwas ganz Erstaunliches geleistet: Seine Ausgrabung erhält bereits vor ihrem Abschluss eine opulente Publikation! Leider ist es ansonsten Normalität, dass Ausgrabungsfunde Jahrzehnte in Magazinen schlummern, bis eines schönen Tages, sofern der Ausgräber während seiner Pensionierung noch genügend Arbeitskraft besitzt, die Öffentlichkeit einen Bericht seiner Ausgrabung erhält. Nachdem das Erstaunliche in Köln passiert ist, ließe sich an die Heinzelmännchen und an das Gedicht von August Kopisch denken:
„Das ging so geschwind wie die Mühl’ im Wind!
Die klappten mit Beilen, die schnitzten an Speilen,
die spülten, die wühlten und mengten und mischten
und stopften und wischten“.
Aber wir sprechen von Sven Schütte und Marianne Gechter, die als Grabungsleiter (Archäologe) bzw. seine Stellvertreterin (Historikerin) windschnell eine Riesenübersicht vorgelegt haben: Von den Alleinstellungsmerkmalen des Projekts über Grabungsmethodik, die Beschreibung der römischen und mittelalterlichen, insbesondere jüdischen Bauten – also die vorläufigen Resultate im Anschluss an ein erstes großes, wissenschaftliches Kolloquium [S/G, 17] – bis hin zur Entstehungsgeschichte des dereinstigen Museum mitsamt Lichtplanung, Farbführung, Besucherzahlenprognose und allen möglichen Events. Formidabel! Der Laie staunt und der Fachmann wundert sich, lässt doch derselbe Schütte die Welt seit nunmehr 13 Jahren auf seine oft angekündigte Monographie zum von ihm mutwillig veralteten Aachener Thron warten.
Es geht aber auch um viel: Die Stadt Köln, ein Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, die Regionale 2010, die Europäische Union und andere Sponsoren kämpfen um das Projekt Archäologische Zone und Jüdisches Museum, sogar in Hinsicht auf den Adelstitel „UNESCO-Weltkulturerbe“ [S/G, 243]; sie brauchen Zuspruch und Unterstützung, subventionieren deshalb dieses Buch und bieten bereits im Vorspann den (abgetretenen) Bundespräsidenten auf. Denn eines ist allen Beteiligten klar: Wenn dieses Buch „den Prozess der Entstehung eines Museums von den Anfängen bis zur endgültigen Entscheidung über die Finanzen und damit über die sichere Realisierung“ dokumentiert [S/G, 17], dann ist eines ganz und gar nicht sicher: die Realisierung!
Gegenwärtig geht es im politischen Köln drunter und drüber: Während Schütte schon letztes Jahr die Bohrpfähle für den Museumsbau setzen lassen wollte [vgl. Illig 3/2012], wird unverändert darüber palavert, ob sich Köln, ob sich Nordrhein-Westfalen dieses 52 Mio. teure Museum überhaupt leisten kann, das selbstverständlich auch beachtliche Folgekosten verursachen wird. Andere laufen Sturm gegen die damit verbundene, sehr dichte Platzbebauung gleich neben dem Rathaus, wieder andere wollen offenbar keine Gedenkstätte für jüdische Kultur in Köln [Rüdemer]. Wir sind hier nur Zaungast, möchten aber einigermaßen die Streitigkeiten verstehen und die bisherigen Ausgrabungen würdigen, soweit sie für diese Zeitschrift relevant sind.
Fehlende und irritierende Fakten
Eine durchgehende Schwierigkeit des Buches ist seine dezente Unschärfe. Zwar wird enorm viel präsentiert, doch mit zum Teil markanten Auslassungen.
So wird beispielsweise der Wettbewerb für das Museum dargestellt, mit Auslobung, Bewertung, Jury, Bezirksvertretung, Ratsbeschlüssen und Wissenschaftlichem Beirat, doch gerade zwei spektakuläre, ja peinliche Ereignisse werden übergangen: Im März 2008 verließ mit Prof. Günther Binding der ehemalige Rektor der Kölner Universität und Direktor des Kunsthistorischen Instituts, also der angesehenste Kölner Fachmann den Beirat unter Protest, wobei er schwere Vorwürfe gegen den damaligen Oberbürgermeister und gegen den Grabungsleiter erhob. Dieser wollte aus Sicht von Binding in völliger unwissenschaftlicher Weise aus Synagoge und Mikwe des frühen 12. Jh. karolingische und antike Bausubstanz herauslesen [vgl. Illig 1/2008, 212]. Das geschah zur dritten Sitzung des Beirats, doch bei Schütte/Gechter ist von einer Umbesetzung keine Rede; außerdem wird nur die erste Sitzung kommentiert: „Gleichwohl wurde im Beirat anfangs heftig und angeregt diskutiert und gestritten“ [S/G, 228]. Auch in der Beiratsliste [S/G, 305] gibt es weder einen Hinweis auf Bindings Ausscheiden noch auf das von Prof. Ulrich Großmann, Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg.
So wird von 13.500 m² Bruttofläche der Archäologischen Zone gesprochen [S/G, 23], doch da ist auch das gesamte, zum großen Teil längst ausgegrabene Praetorium unterm Rathaus enthalten, dazu die langen Abwasserkanäle. Mittlerweile ist diese stolze Zahl auf 10.000 m² korrigiert worden [Damm 2013b]. Die laufende, in der Diskussion stehende Ausgrabung findet hingegen konzentriert auf ca. 2.300 m² statt, ein durchaus erwähnenswertes, doch fehlendes Faktum.
So sprach Schütte bei Präsentation dieses Buches von „etwa 250.000 Artefakte[n] und 120.000 Proben aus Fauna und Flora“ [Haridi], was Wikipedia [/ Archäologische Zone] ohne Quellenangabe aufgegriffen hat und was zu Recht kritisiert worden ist. Mittlerweile wurde vom Kölner Stadt-Anzeiger aufgedeckt, dass der Wikipedia-Text von einer Grazer Firma stammt, die ihn im Auftrag der Stadt Köln für stolze 750.000 € erstellt hat. Motto: „Optimale kommunikations- und marketingstrategische Begleitung des Projektes bis zur vollständigen Umsetzung“ [Damm 2013b]. Das ist doppelt peinlich: Einmal mehr wird sichtbar, wie Kulturreferent Quander hinter Schütte steht und seinen Frontmann stützt, dessen Abberufung der Landschaftsverband verlangt, bevor er die Archäologische Zone kostenmäßig übernimmt. Und zum anderen wird Wikipedia als Unternehmen entlarvt, das einfach jene Meinung unterstützt, für die am meisten spricht – ob das nun viele Universitätsmitarbeiter sind oder viele Euros. Wie konsequent und brutal Wikipedia-Einträge von besseren Meinungen freigehalten werden, ist denen, die sich mit der Phantomzeit befassen, hinreichend bekannt [etwa Beaufort 2008; Illig 2/2010].
Könnte die Masse an Artefakten die geplanten 7.500 m² Ausstellungsfläche sogar überfordern? Schütte wusste, warum er dazu keine Vergleiche anstellt: Die parallel laufenden U-Bahn-Ausgrabungen in der Kölner Innenstadt haben mit bislang 2.500.000 Artefakten die zehnfache Menge an Objekten erbracht [museen], ohne mehr als eine vorübergehende Ausstellung auf 1.000 m² zugestanden zu bekommen, hat doch das gesamte Römisch-Germanische Museum weniger Ausstellungsfläche als das neu geplante Jüdische Museum. Auch bei der Grabung am Kölner Heumarkt ist auf 17 x 17 m „ungeheuer großes Fundmaterial“ geborgen worden, dessen Keramikmengen sogar in ein absolut-chronologisches Gerüst eingeordnet werden konnten [S/G, 51], obwohl Schütte auf derselben Seite eine zuverlässige Keramikchronologie für Köln als „Desiderat“ bezeichnet. Aber auch diese Keramikmassen erhalten kein eigenes Museum. Und warum auch, nachdem nur Spezialisten sie im Magazin wirklich nutzen können?
So bezeichnet Schütte das Aachener Oktogon als „Nachfolgebau“ des Praetoriums-Oktogon [S/G, 65], verrät aber die ganz unterschiedlichen Bauweisen und die Maße beider Bauten nicht. Bei Wolff [169] wird für den Praetoriumsbau ein Innendurchmesser von 11,30 m genannt; die etwa 16 m des Aachener Oktogons [uni-protokolle] sind dann doch um mehr als 40 % größer. Die Höhe des römischen Oktogons kann ohnehin nur geschätzt werden. Ob die direkte Nachfolge gegeben ist, wie Schütte und Gechter unterstellen, ist in dieser Zeitschrift oft genug bestritten worden. Für den einst in Köln tätigen Ausgräber Dr. Gundolf Precht steht seit 2009 fest, dass das Kölner Oktogon bald nach seiner Vollendung eingestürzt sein dürfte und damit im 8. Jh. gar nicht als Vorgängermodell dienen konnte [vgl. Illig 1/2009, 227].
So werden die beiden besten Exponate nur unzureichend kommentiert: ein goldener Ohrring, „möglicherweise aus imperialem Umfeld“ aus der Zeit um 1000 [S/G, 193], und die 3.500 Fragmente der Bima, also der gotischen Lesekanzel aus der Synagoge, die sich aus ihnen rekonstruieren lässt. Die Maße des Ohrrings werden ebenso wenig wie die Höhe der Bima (Bimah, Almemor) mitgeteilt. Ihre vielleicht 24 Pfeiler standen auf einem „Podest von circa 3,2 x 4 Metern“ [S/G, 140].
Wie zum Ausgleich für so manche Lücke gibt es vier Seiten voller Maßtabellen für Haustierknochen, deren lateinische Fachtermini nicht übersetzt, deren Abkürzungen nicht erklärt, deren Dimensionen nicht benannt werden [S/G, 327-330] – ein Privatissimum für Archäo-Zoologen und -Veterinäre.
Wie steht es um die Museumswürdigkeit?
Es ließe sich durchaus kritisch fragen, ob vom Judenviertel mehr als ein Dutzend Artefakte als Exponate geeignet sind. Denn natürlich geht es um unendlich viele Funde, primär aber Tonscherben und Tierknochen, selbst um Körbe voller Glühbirnen und Töpfe voller Soleier aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Einstiger Alltag im jüdischen Viertel lässt sich natürlich heutigen Betrachtern auf engem Raum nahe bringen. Was ist außer den beiden genannten Hauptfunden noch ausstellungswürdig? Es gibt über 100 epigraphische Zeugnisse aus dem jüdischen Viertel auf Stein und auf Schiefertafeln. Darüber hinaus eigentlich nur gewöhnliche Zeugnisse, auch noch aus der Zeit ab 1374, als sich die Gemeinde noch einmal konstituiert, bis die Synagoge 1424 endgültig durch die gotische Ratskapelle ersetzt wird. Die zugehörigen Kloaken haben manches, darunter ein Siegel und einen Schlüsselanhänger freigegeben, während Metallteile immer herausgefischt wurden und deshalb fehlen. Aber derartige Kleinfunde können zwar ein kleines Museum füllen, aber ein großes nicht rechtfertigen, zumal erst 2010 die Stadt Essen für 7,8 Mio. € in der Alten Synagoge ein Haus jüdischen Kultur eröffnet hat [waz]. Außerdem existiert längst das Kölnische Stadtmuseum, das „Objekte und Kunstwerke zur Geschichte Kölns vom Mittelalter bis in die Gegenwart zeigt, sammelt und bewahrt“ [museen].
Weil das Schütte und Gechter besser als alle anderen wissen, haben sie bereits verschiedene Korkmodelle in Auftrag gegeben, die als spektakulärer Blickfang dienen sollen. Deutschlands letzter Phelloplastiker hat u.a. bereits Modelle des spätantiken St. Gereon, des Kapitolstempels und des sog. Ubiermonuments gefertigt [S/G, 245 f.]. Sie geben tatsächlich einen erstaunlich guten Eindruck der Architektur, wie die entsprechenden (antiquierten?) Sammlungen auf den Schlössern Wilhelmshöhe, Johannisburg und Ludwigslust noch immer demonstrieren – doch einige dieser rekonstruierten Bauten gehören gar nicht zur Archäologischen Zone.
Demnach läuft hier die Planung in direkter Konkurrenz zum nur 250 m entfernten Römisch-Germanischen Museum, das dem archäologischen Erbe von Stadt und Umland bis ins Frühmittelalter gewidmet ist. Dieser Eindruck bestätigt sich dadurch, dass von Schütte zwei Kopien Kölner Diatret-Gläser angekauft worden sind. Bei ihnen ist das eigentliche Glasgefäß von einem durchbrochenen Glasnetz eingehüllt; sie stellen das Maximum dar, das römische Glashersteller im 4. Jh. erzielt haben. Deshalb ist das Römisch-Germanische Museum besonders stolz darauf, das wiederhergestellte Diatret aus Köln-Braunsfeld präsentieren zu können; Schüttes Museum will nun die beiden in der Kölner Benesisstraße gefundenen Gläser als Kopien präsentieren [S/G, 275], von denen das eine 1945 in Berlin zugrunde gegangen ist, das andere in München verwahrt wird.
Diese kostspielige Konkurrenz muss angesichts der ständigen Streitereien nicht verwundern. Im Römisch-Germanischen Museum war Prof. Hansgerd Hellenkemper Direktor von 1980 bis 2010. Obwohl eigentlich zuständig für alle Funde und Ausgrabungen im Stadtgebiet, entzog ihm das Kulturreferat im Oktober 2006 die Archäologische Zone. Denn die Stadt Köln hatte Dr. Sven Schütte drei Jahre zuvor seinen Arbeitsplatz aufgekündigt, aber übersehen, dass sie ihm einen gleichwertigen Arbeitsplatz bieten muss. So hatte Hellenkemper zu weichen. Schütte überhöhte seinen Erfolg dadurch, dass er sich im September 2010 gegen Hellenkempers Ehrung mit dem Bundesverdienstkreuz aussprach, worauf sich alle Kölner Museumsdirektoren von ihm distanzierten. (Der Kölner Stadt-Anzeiger hat die ganze Schmutzwäsche gesammelt und aufbereitet: „Was bisher geschah“ [KStA]).
Auf jeden Fall wird Schütte die Römerfunde aus der Archäologischen Zone nicht ans dafür eigentlich zuständige Römisch-Germanischen Museum abgeben, weil er sonst die ihm so wichtige Zeit vor 1000 überhaupt nicht präsentieren könnte. Der aktuelle Band bringt außer einigen nicht einmal fotografierenswerten Bauresten keinen einzigen Franken-, speziell Merowinger- oder Karolingerfund. Präziser: Während Schütte und Gechter die römischen Funde auf 40 Seiten besprechen [S/G, 53-92], genügen ihnen für die Befunde aus dem Frühmittelalter 16 unbebilderte Zeilen [S/G, 93]. So bliebe im Jüdischen Museum die Zeit zwischen ca. 400 und fast 1000 ohne zeitgenössisches Exponat. Dabei hat ja Schütte längst klargestellt, dass er nicht nur mehrere mittelalterliche Synagogen- und Mikwebauten übereinander sieht, sondern auch entsprechende Baustrukturen aus der Karolingerzeit und der Spätantike. Wie gut kann er das belegen?
Mittelalterliche Synagoge und Mikwe
Diese Zeitstufe war bereits durch die Ausgrabungen ab 1950 durch Doppelfeld hinreichend geklärt. Bis zur großen Zerstörung von 1349 diente als Männersynagoge ein hohes rechteckiges Gebäude mit Zinnenkranz, der das Dach den Blicken entzog. Im Inneren stand wie in einem Hochparterre die rechteckige Bima im Zentrum, allerdings nicht ganz identisch fluchtend; darüber gab es noch ein Geschoss mit einer Reihe kleiner Fenster. Im Norden war die niedrigere Frauensynagoge angebaut, im Westen ein Fachwerkbau gleicher Höhe. Separat davor stand im Süden die Mikwe, oberirdisch gestaltet wie ein kleiner Turm mit seitlichen schmalen Gängen. Im Osten lag vor der Synagoge der Waschbrunnen [vgl. S/G, 121]. Nach 1372 konnte die Synagoge noch einmal wiederaufgebaut und genutzt werden. 1424 wurde bei der endgültigen Vertreibung der Juden aus der Stadt Köln die Synagoge in die Ratskapelle umgestaltet; Reste von ihr sind noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt worden. Die dort erste Synagoge – nicht nur in Köln lag das jüdische Viertel dicht am Rathaus – sieht man gemeinhin kurz nach 1000 entstehen und nach dem Pogrom von 1096 in veränderter Form weiterbestehen. Davor beginnt das Reich schüttesker Entdeckungen und Mutmaßungen.
Karolingische Synagoge und Mikwe?
Ein Dreh- und Angelpunkt ist das ominöse Erdbeben von 780/90, für das Schütte eintritt, während andere Forscher seine Interpretation keineswegs teilen, aber im Buch nicht zu Wort kommen. Wir erfahren:
„Ein Erdbeben Ende des 8. Jahrhunderts beschädigte den Bau IV des Praetoriums und die Synagoge und Mikwe so schwer, dass Abriss bzw. Neubau erforderlich wurden“ [S/G, 63].
Die Datierung auf „ca. 790/800“ stützt sich allein auf Thermolumineszenz-Messungen [S/G, 107], also auf die schwächste aller Datierungsmethoden. Um so ‘zwingender’ wird hingegen der Hinweis auf eine Synagoge und eine Mikwe bereits vor 790 gestaltet. Hier drängt sich Schüttes Vorliebe für Superlative einmal mehr nach vorn, hat er doch auf seinem ‘Kerbholz’ bereits die älteste karolingische Großplastik, die älteste Lisenengliederung, „den frühesten erhaltenen Monumentalskulpturenzyklus in Europa nach der Antike“, den „im Abendland einzigartige[n] Nachweis lückenloser kirchlicher Nutzung (alles St. Pantaleon in Köln [Illig 2007]) oder den auf Karolingisch veralteten Aachener Thron. Nun sieht er in Köln die älteste Synagoge Europas, dazu zumindest eine karolingische Mikwe. Bislang galt, dass in Speyer ein entsprechendes Bauwerk steht, 1104 eingeweiht, mit einer 1126 genannten Mikwe, „der älteste, noch sichtbare Überrest eines Synagogenhauses in Mitteleuropa“ [judenhof]. Aber was ist schon Speyer gegen Köln? Wie kann Schütte seine unterstellte karolingische Synagoge mit Belegen oder Beweisen unterfüttern?
Beim Hinabsteigen durch Kölns Jahrhunderte wird der Boden schnell dürftig und schütter. Allgemein wird davon ausgegangen, dass im frühen 11. Jh. im jüdischen Viertel eine Synagoge gebaut worden ist. Aber der älteste Beleg dafür stammt von 1426; er spricht von der 414 (oder 386) Jahre alten „joedenschule“ [S/G, 102]. Das ist nicht gerade ein Beweis für eine karolingische oder gar spätantike Synagoge – ganz im Gegenteil. Aber sehen wir weiter. Da könnte es theoretisch Zerstörungen durch die Normannen (881) und nachfolgenden Wiederaufbau gegeben haben:
„An der schweren Zerstörung Kölns durch die Normannen ist nicht zu zweifeln. Sie wird in verschiedenen Quellen beschrieben, allerdings wieder nur in außerkölnischen, eine Kölner Überlieferung aus dieser Zeit ist nicht erhalten. Wenn man ein entwickeltes städtisches Gemeinwesen und eine weitgehend intakte römische Mauer in Köln voraussetzt, erhebt sich natürlich die Frage, wie es zu einer Eroberung kommen konnte“ [S/G, 101].
Die Eroberung ist also schwer vorstellbar und selbst in schriftlicher Form nur mangelhaft zu greifen, aber gleichwohl nicht zweifelhaft. Kann ein Archäologe heute noch so argumentieren?
Und nun die Erbauung der karolingischen Synagoge? Schütte wollte sie schon 2008 aufgedeckt und bis 2010 bereits als gesicherten Tatbestand etabliert haben [vgl. Illig 1/2010, 206]. Sie macht sich an dem Erdbebendatum 780/90 fest, weil unter der mittelalterlichen Synagoge Zerstörungen nachgewiesen worden sind:
„Der nördliche und der südliche Teil [des antiken Bauwerks; HI] stürzten mit ihren Hypokausten während des Erdbebens ein und wurden mit Bauschutt einplaniert. Der mittlere Teil verblieb intakt und wies nur Risse im Boden auf. Zumindest im nördlichen Teil wurde ein Reparaturboden um 800 aufgebracht, der auch flächig im zentralen Teil nachzuweisen ist. Leider ist hiervon nur die Stickung, jedoch nicht der Belag erhalten. Es kam bei der Zerstörung zu einer Veränderung des Grundrisses“ [S/G, 98].
Diese Passage beinhaltet alles, womit Schütte die karolingische Synagoge belegen kann: eine Stickung, worunter ein Unterbau aus ungefähr passenden, rohen Steinen zu verstehen ist, aber kein datierbarer Bodenbelag. „Auch wenn Fundmaterial der Zeit des frühen Mittelalters erhalten ist, so sind doch die Befunde spärlich“ [S/G, 93], im Wesentlichen „einige unscheinbare Mauerbefunde, zumeist Reparaturen an älterer Substanz, die eine frühmittelalterliche Nutzung belegen“ [ebd.]. Allerdings spricht er anderer Stelle auch von einem Wiederaufbau und suggeriert damit, nicht nur der Boden, sondern der gesamte Mittelteil sei ein karolingischer Bau.
Der partielle Wiederaufbau des antiken Mittelteils ist nur solange karolingisch, solange das Erdbeben auf 780/90 datiert werden kann. Über dem fehlenden Bodenbelag „um 800“ liegen zwei Böden aus römischen Ziegeln: der „vor 1000“ besteht aus zweitverwendeten Ziegeln verschiedenen Formats, der „um 1000–1096“ auch aus Hypokaustenziegeln [S/G, 125 ff.]. Diese sind viel älter und könnten auch in der Zeit vor 614 neu gelegt worden sein, wenn entsprechende Keramikfunde vorlägen. Ungeachtet aller Zweifel befindet Schütte für die Karolingerzeit:
„In dieser Zeit ist die Existenz der Synagoge archäologisch nachgewiesen, ohne, dass wir einen direkten schriftlichen Beleg für Köln hätten“ [S/G, 101].
Das muss so sein, geht es doch für Schütte um mehr. Er hat 2004 postuliert, dass sogar noch Karl der Große das Praetorium genutzt habe, um nach den dortigen Erdbebenschäden ins noch stärker erdbebengefährdete Aachen auszuweichen und dort seine Pfalzkapelle errichten zu lassen [Stellpflug; vgl. Illig 3/2004, 634 f.], denn das Kölner Oktogon „ähnelt im Inneren vom Aufbau in einfacherer Form dem Aachener Oktogon“ [S/G, 65]. Entsprechend mutmaßt Schütte, man habe sogar Spolien des Praetoriums in Aachen verbaut [S/G, 66], wofür allerdings nicht einmal die jüngste Aachener Domgrabung einen Beleg erbracht hat. Wichtiger ist der schon auf die Grabungen nach 1950 zurückgehende Praetoriumsbefund,
„dass man offenbar die gewaltige Baumasse in kurzer Zeit einheitlich abtrug. […] Die Keramikfunde, aber auch das Parzellar zeigen, dass gerade nicht ein langsam vor sich hin rottendes Ruinenfeld für Jahrhundert dort lag, sondern der Bau rasch beseitigt wurde“ [S/G, 66].
Bei Streichung der Phantomzeit könnte das bedeuten: Das Praetorium ist im späten 6. Jh. eingestürzt und im 10. Jh. abgeräumt worden, denn die dem 9. bis 13. Jh. zugeschriebene Pingsdorfer Keramik [wiki / Pingsdorf] beginnt nun erst nach 911. Entfällt die vage Datierung 780/90 und die ebenso vage Thermolumineszenzdatierung für die Bodenreparatur von 800 [S/G, 103], dann entfällt auch die karolingische Synagoge.
Schütte geht es auch um eine ebensolche Mikwe. Wie kann er sie belegen? Auf keinen Fall durch karolingerzeitliches Holz, stammt doch das älteste dortige Stück Holz zwar von ganz unten, aus 16 m Tiefe, aber doch erst aus der Zeit AD 1240 ± 16 (Konfidenzintervall von 1s) [S/G, 38, 166, 171]. So bleibt ihm nur ein letzter Strohhalm:
„Da die ältesten Reisigfragmente im unteren Bereich ausweislich einer AMS-Datierung [Accelerator Mass Spectrometry: Beschleuniger-Massenspektrometrie; HI] bereits zu einer dritten Beckenphase in der Zeit um 1000 gehören, es aber ältere Phasen gibt, wird man davon ausgehen müssen, dass die Mikwe in die Zeit vor 780 zu datieren ist“ [S/G, 165].
Diese (Tauch-)Beckenphasen ließen sich in der Zeit zwischen 400 und 614 ebenso unterbringen wie im 10. Jh., vor allem wenn man den Wiederaufbau des antiken Gebäudes an dieser Stelle in ottonischer Zeit sieht. Aber es geht ja dank Schütte noch tiefer.
Antike Synagoge und Mikwe?
Mit Hilfe des griffigen Arguments ‘Ortskonstanz’ muss unter der Synagoge des 11. Jh. eine solche der Karolinger und eine antike gelegen haben, wie Schütte vice versa aus einem antiken Thermenteil den rituellen Wassergebrauch vom 4. bis hinauf ins 11. Jh. für diesen Ort ‘nachweist’. In diesem Bereich changiert der Text ständig zwischen gesichertem und wahrscheinlichem Befund, was zu schwer greifbaren Einschätzungen führt.
Römische Therme
Die Rede ist von einer letzten größeren Thermenanlage über mehreren Vorgängerphasen, insgesamt „eine Fläche von mindestens 600 m²“ [S/G, 77]. Vier Seiten weiter ist von „ihrer Gesamtgröße von mindestens 21 x 16 m“ die Rede [S/G, 81], womit freilich nur 336 m² garantiert werden. Die Klärung der Raumabfolge ist noch nicht gelungen, nicht einmal der Typus – „sowohl Reihen- als auch Blocktyp“ [S/G, 80] – ist geklärt. Wie ‘gut’ der Bau erkundet ist, illustriert nachfolgender Satz auf derselben Seite: „Sicher ist, dass sich der Zugang zur Anlage entweder im Norden oder im Westen befunden haben muss.“ Die immer wieder betonte Ortskonstanz – das Warmbad des mittelalterlichen jüdischen Viertels liege über dem Becken aus Phase E [S/G, 81] – ist den verschiedenen Grundrissen im Buch nur schwer zu entnehmen. So wird auf derselben Seite nicht die Badeanlage in Phase E, sondern in D gezeigt, obwohl sich danach „zum Teil auch die Funktion der Räume innerhalb der Anlage geändert“ hat, ohne dass ein weiterer Grundriss weiterhelfen würde. Die Ortskonstanz fällt demnach eher unter die Rubrik Glaubensartikel.
Dunkel bleibt auch die römische Architektur insgesamt, liegt doch der Thermenbereich direkt hinter der repräsentativ gestalteten Südapsis des Praetoriums, von der aber wiederum sieben Hauptphasen ergraben worden sind, die sich ganz erheblich voneinander unterscheiden [Grundrisse vgl. S/G, 70 f.]. Der jeweilige Bezug zwischen Apsis und Therme bleibt angesichts der schlechten Thermenbefunde dunkel. Bei Datierungen hält sich der Grabungsleiter deutlich zurück: Die ersten beiden Phasen sollten ins 1. Jh., die 7. Phase „kann eventuell schon in das beginnende vierte Jahrhundert datiert werden“ [S/G, 76]. Damals wäre auch der Brunnen angelegt worden, der dann vor der Mitte des 10. Jh. repariert wird und später als Waschbrunnen vor der Synagoge bezeichnet worden ist [S/G, 69-76]. Nicht nur an dieser einen Stelle steuern die Ausgrabungen einen hervorhebenswerten Effekt bei:
„An zahlreichen Stellen des Geländes lässt sich der Effekt feststellen, dass sich auf römischen Estrichen Schichten des ausgehenden frühen Mittelalters, also des neunten und 10. Jahrhunderts finden, ohne dass eine Humusbildung oder Eintrag humoser Erde festzustellen ist. Das trifft auf das gesamte Gelände zu [ca. 2.300 m²; HI], in dem keinerlei Bodenbildung zwischen Spätantike und Frühmittelalter festzustellen ist. Auch im Fundmaterial sind, soweit man es beurteilen kann, keine Unterbrüche vorhanden, auch wenn die Keramikchronologie nicht so engmaschig ist, dass man auf das Jahrzehnt genau datieren könnte. Fast immer zeigt sich, dass Funde nur in den Boden gelangen, wenn Umbauten oder Katastrophen stattfinden – während der Nutzung werden die Gebäude sauber gehalten und es lagert sich kein Abfall oder Schutt an. Auch dieser Effekt beweist über das gesamte Gelände, dass es kontinuierlich genutzt worden ist. Der Befund entspricht dem der kontinuierlich belegten Gräberfelder, besonders dem schon genannten Beispiel von St. Severin. Zumindest im zentralen Bereich der Stadt hat es offensichtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine kontinuierliche Entwicklung zwischen Antike und Frühmittelalter gegeben.“ [S/G, 92]
Dieser letzte Satz ist von allgemeiner Bedeutung.
Spätrömische Therme
‘Ganz unten’ ist auf jeden Fall ein römisches Gebäude mit rundem Vorhof und einem Becken nachgewiesen. Hier widerstehen selbst Schütte und Gechter der Versuchung, sofort eine Synagoge zu unterstellen, aber indem wiederum die Ortskonstanz bemüht wird, bleibt zwar die Nutzung unbekannt, soll aber bereits auf die erhoffte Synagoge des 4. Jh. verweisen. Das führt nebenan, unter der späteren Frauensynagoge, zu einem skurrilen Befund. Hier liegt das Becken einer Therme, von dem man annimmt, dass sie erst gegen 800 aufgegeben worden ist [S/G, 165; ähnlich 81]. Indem die karolingische Mikwe in die Zeit vor 780 datiert wird (s.o.) und damals in der Südwestecke des dreigliedrigen römischen Bauwerks gebaut worden sei [ebd.], wäre hier ein jüdisches Tauchbad in eine immer noch von den Karolingern betriebene, antike Therme hineingebaut worden – eine durchaus überraschende Vorstellung.
Schütte hat mit seinem ständigen Beharren auf einer antiken und einer mittelalterlichen Synagoge den entrüsteten Binding bereits im März 2008 aus dem Wissenschaftlichen Beirat getrieben hat [vgl. Illig 1/2008]; heute macht er zwischendurch ein ‘Teilgeständnis’ [S/G, 95]:
„Zwar ist die Frage, ob an dieser Stelle eine antike Synagoge stand – man muss es klar sagen – auch heute noch nicht befriedigend und erschöpfend beantwortet. Dennoch ist man der Lösung der Frage deutlich näher gekommen“, weil „die Struktur des Bauwerks unter den mittelalterlichen Synagogen inzwischen bekannt“ ist.
Und Schütte ist unverdrossen auf Superlative aus. Übers Buch hinaus macht er aktuelle Anstrengungen, um sogar eine antike Mikwe aus dem 4. Jh. zu präsentieren. Es gebe da eine mögliche Treppe und sie müsse nur noch durch den „Mikwenpapst“ und Schütte-Freund Ronny Reich ‘abgesegnet’ werden, sprich, es fehlt noch der Nachweis des Treppen- oder Stufenzugangs zum lebendigen Wasser [Willmann 2012]. Dann wäre die Sensation perfekt: eine sieben Jahrhunderte ältere Mikwe als alle anderen erforschten! In Deutschland sind etwa 400 Mikwaot bekannt, die ältesten aus dem 12. (Speyer) und 13. Jh. Sie würden alle zu viel späten Erinnerungen an den Kölner Bau. Wikipedia führt in der Rubrik „Antike Synagogen“ sieben Bauten aus dem östlichen Mittelmeerraum, doch bei ihnen wird ebenso wenig wie unter der Suchrubrik „Antike Synagogen in Galiläa“ ein Tauchbad vermerkt. Keine wirkliche Ausnahme ist der Befund in der Synagoge in Priene: „in der Synagoge fand sich ein Marmorbecken, das wahrscheinlich als Ritualbad diente“, fehlt ihm doch jenes lebendige Wasser, das für die Reinigung notwendig war und durch die Mikwe in der Tiefe erreicht werden sollte. Dagegen waren antike Mikwaot ohne Synagoge häufiger anzutreffen, etwa in Qumran [vgl. Illig 3/2012, 554-558].
Auch unter Kölns mittelalterlicher Frauensynagoge gab es Vorgängerbauten, insbesondere ein antikes Becken des 4. Jh., das einer Privattherme des Statthalters zugeordnet wird, der in nur 30 m Entfernung residierte [S/G, 80].
„Die Thermenanlage war über mehrere Jahrhunderte in Benutzung. Die Wasserversorgung erfolgte über die öffentliche Wasserleitung. Ab dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts nach Aufgabe der Eifelwasserleitung muss die Anlage aus anderen Quellen mit Wasser gespeist worden sein. Genutzt wurde sie, möglicherweise in kleinerem Maßstab, offenbar noch bis ins 8. Jahrhundert. Darauf lässt die Keramik in der Verfüllung über dem Becken aus Phase E schließen. Bemerkenswert ist, dass an gleicher Stelle im Mittelalter das Warmbad des jüdischen Viertels gelegen hat“ [S/G, 81].
Das 8. Jh. wird keramikmäßig durch Badorfer Keramik abgedeckt, die vom 8. bis 10. Jh. angesetzt wird. Badorf und Pingsdorf liegen fast in Sichtweite zueinander und 13 km von der Kölner Altstadt entfernt; ihr Zusammenspiel ist von Niemitz [1994] früh behandelt worden. Aus phantomzeitlicher Sicht spricht Badorfer Keramik für die Zeit vor 611.
Köln als älteste jüdische Gemeinde?
Die Nutzung der einmal gesicherten, einmal unterstellten Synagoge wirkt dank Schütte bis 1424 äußerst homogen [S/G, 107]:
4. Jh. – ca. 780 | Nutzung als Synagoge vermutet / dann Erdbeben |
ab 790/800 | Nutzung als Synagoge, unterbrochen von Wikingerangriff (881/82), Pogromschäden (1096; bis vor 1105), Pogromfolgen (1349; bis 1372). |
Die Auflistung von den Anfängen bis ins 10. Jh. wirkt wie ein Konstrukt auf Basis eines Konstantinserlasses von 321, der eine Anfrage des Kölner Stadtrats beantwortet hat:
„Der Kaiser erlaubt den Decurionen von Köln, Juden in die Kurie zu benennen […] die jüdische Gemeinde hatte im Jahr 321 bereits eine Bedeutung erlangt, die sie befähigte, Ratsmitglieder zu stellen. Eine solche Blüte erfolgt natürlich nicht ohne die entsprechenden Voraussetzungen, sondern bedingt eine längere Entwicklung. Spätestens seit dem Ende des 1. Jahrhunderts ist die Präsenz von Juden in Köln anzunehmen […] Köln ist damit die einzige Gemeinde in Deutschland und nördlich der Alpen, die bereits in der Antike belegt ist. Da eine Entwicklung bis ins Mittelalter ununterbrochen sehr wahrscheinlich ist, liegen damit auch die Wurzeln des aschkenasischen Judentums hier“ [S/G, 93 f.].
So gewinnt Schütte in einem einzigen Absatz aus einer Textstelle des 4. Jh. jüdische Präsenz ab dem 1. Jh., eine Gemeinde im 4. Jh. und sogar die Wurzeln des gesamten aschkenasischen Judentums, womit er die erhoffte Synagoge des 4. Jh. erzwingen will. So ist Schütte immer dicht vor seiner nächsten Weltsensation. Bezüglich der ununterbrochenen jüdischen Präsenz in Köln – eine Gemeinde ist freilich etwas anderes als jüdische Einzelpersonen – könnte man ihm zustimmen, sofern er mit Streichung der Phantomzeit einverstanden wäre. Da er sie aggressiv abgelehnt hat, stehen ihm unbelegbare, aber wesentliche Jahrhunderte entgegen. Außerdem müsste er auch noch Prof. Michael Toch widerlegen, der den Begriff „jüdisches Frühmittelalter“ 2001 als leer empfand, findet er doch nirgends in Europa jüdisches Gemeindeleben, ausge nommen vielleicht im spätantik gebliebenen Süditalien [vgl. Illig 1/2001]. Der Konstantinserlass sollte einmal unter dem Aspekt geprüft werden, dass die nächste Nennung der Kölner Judengemeinde erst für 1012 erfolgt ist (s.o.).
Positive Ergebnisse
Schütte und Gechter machen es nicht leicht, erwünschte und tatsächliche Ergebnisse der Ausgrabung zu trennen. Was gehört zu den Fakten? Etwa der Umstand, dass das Oppidum Ubiorum erst nach der Zeitenwende entsteht, um +50 zur Stadt erhoben zu werden.
„Hieraus ergibt sich, dass man möglicherweise nach der »Frühphase Kölns« etliche Jahrzehnte vor Chr. Geb. gar nicht zu suchen braucht, weil sie sehr wahrscheinlich gar nicht existiert“ [S/G, 55].
Das Ubiermonument ist keines, sondern der in den Jahren 4/5 begonnene steinerne Eckturm der geplanten Stadtbefestigung, an den dann in großer Eile eine Holz-Erde-Mauer angefügt worden ist [S/G, 53]. Der Charakter als Befestigungsturm ist allerdings schon lange vor der laufenden Ausgrabung bekannt gewesen [Wolff, 124]. Ebenso war bereits bekannt, dass Kölns Oppidum nicht vor der Zeitenwende, sonders erst ab ihr nachgewiesen werden kann [S/G, 55].
Schütte und Gechter liefen selbst ein Argument gegen das von ihnen vertretene ‘gewaltige’ Erdbeben, wenn es um die Ausdehnung des Praetoriums geht:
„Hier zeigt sich schon jetzt, dass offenbar in der Spätantike andere Verhältnisse herrschten als in den ersten Jahrhunderten der Römischen Kaiserzeit, denn während das Praetorium in einem Erdbeben untergeht und nicht wieder aufgebaut wird, besiedelt man den südlichen Bereich sehr dicht und nimmt Rücksicht auf die vorhandenen Baulichkeiten der Antike“ [S/G, 60].
Das bestätigt massiv die Ansicht anderer Archäologen, dass im Bereich des Praetorium Setzungen zum Einsturz dieses dicht am Fluss liegenden Gebäudes führten. Denn danach wäre dieses Gebiet gemieden worden, während die südlichen Bereiche ohne Angst besiedelt worden wären [zur Erdbebendiskussion vgl. Korth]. Schlussendlich räumt auch Schütte ein, weder übers Erdbeben noch über die daraus resultierenden Schäden Genaueres zu wissen:
„Ein schweres Erdbeben Ende des 8. Jahrhunderts beschädigte den Bau IV des Praetoriums und die Synagoge und Mikwe so schwer, dass Abriss bzw. Neubau erforderlich wurden. Auch hier stecken die Forschungen erst in den Anfängen“ [S/G, 63].
Insoweit sind Schüttes immer wieder aufflammende ‘Bekenntnisse’ zu antiker wie karolingischer Synagoge samt Mikwe auf Sand gebaut. Das gilt im übertragenen wie im direkten Sinn für die Synagoge:
„Sehr schwierig ist die Baugeschichte nach 800 zu beurteilen. Sicher ist, dass der Bau wiederhergestellt wurde und, dass er offenbar schwer unter den Einfällen der Wikinger 881 gelitten hat. Aber auch hier wurde in relativ kurzer Zeit aufgebaut und renoviert. Im Gegensatz zu der Annahme, der Bau habe möglicherweise einige Zeit leer gestanden, wegen einer Humussschicht, die Doppelfeld in einem antiken Kastenfundament gefunden hatte, lässt sich diese These heute nicht mehr aufrecht erhalten. Relativ zügig wird der Boden aufgefüllt und es entsteht der Boden, den Doppelfeld als ältesten Synagogenboden annahm und auch richtig datiert hat [vor 1000; HI (S/G, 125]); …] Schwer fassbar ist nun ein Phänomen, das bis heute nicht befriedigend erklärt werden kann: Der Synagoge fehlt ein großer Teil der Nordwand. Stattdessen erstrecken sich hier gewaltige Gruben mit Keramik des 10. Jahrhunderts, sodass man entweder annehmen muss, dass hier Kalkstein einer römischen Struktur ausgebeutet wurde oder dass ein Erdfall durch Ausschwemmung von Sanden im Untergrund den Einsturz der Nordwand verursacht hat. Jedenfalls wird die Grube aufgefüllt und planiert und eine neue Nordwand errichtet“ [S/G, 104].
Wer solches liest, hat unmittelbar den Eindruck, der Grabungsleiter hätte besser so lange geschwiegen, bis er mit seinen Ergebnissen zu Rande gekommen ist, denn eine Synagoge ohne Nordmauer war ein offener Schuppen oder eine Ruine.
Bei der Bima erfahren wir etwas vom ‘Innenleben’ dieses Einbaus, das sich mit den Aachener Ringankern vergleichen lässt. Er ist um 1266 entstanden und wie das ganze Judenviertel am 23./24. 08. 1349 zerstört, geschändet und geplündert worden:
„Alle Teile waren mit Eisenklammern in Bleiverguss verbunden. Bei circa 450 Werkstücken waren allein im Bereich der Pfeiler 88 Eisenklammern und Blei vonnöten, vom Ringanker ganz zu schweigen. […] Man benötigte allein dort also mehr als 100 kg Eisen und ca. 50 kg Blei“ [S/G, 141 f.].
Was die Römer nur ansatzweise konnten, war Mitte des 13. Jh. Routine. Die Handwerker kamen – erfreulicherweise ohne religiöse Beschränkungen – von der Dombauhütte.
Schütte versteht es nach wie vor, sich ins rechte Licht zu rücken; Heinz Günther Horn hat schon 2008 von der „inzwischen unerträglichen Selbstdarstellung von Sven Schütte“ gesprochen [Illig 1/2009, 226]. Diesmal zitiert er mehrmals Prof. Max Polonovski, wichtigster Kenner und Bewahrer des jüdischen Kulturerbes in Frankreich, und Prof. Samuel Gruber, Gründungsdirektor des Jewish Heritage Council of World Monuments, die hier wohl Gefälligkeitsgutachten zugunsten der Wahrung jüdischer Kultur abgegeben haben. Da wird über den Schellenkönig gelobt: „Archäologie vom Feinsten“, „ein einzigartiges Projekt“, „Die archäologische Zone hat Standards gesetzt, die zukünftig eine große Rolle spielen werden in Bezug auf jüdische Archäologie“, „the gold standard“ [S/G, 250, 28; Grubers Äußerungen auch 26, 244, 253 und 283]. Das ist sehr viel Beifall für eine zeitgemäße Grabung. Denn laut Schütte wird „nach der international anerkannten und üblichen stratigrafischen Methode ausgegraben“, „Diese Methode des Grabens Befund für Befund (single context planning) ist europaweit Standard“ [S/G, 34], also Routine, kein neuer Kölner Standard; es wird auch „ein ausführliches Grabungstagebuch“ geführt. Insofern wird von den jüdischen Gelehrten eigentlich nur betont, wie wichtig diese Ausgrabung in einem innerstädtischen Kontext für die jüdische Kultur ist, was unstrittig ist.
Zur Realisierung des Projekts
Es wäre eine dramatische Entscheidung, wenn die Ausgrabung wieder zugeschüttet werden müsste, sähe man doch hier die Südapsis des Praetoriums mit mittelalterlichen Einbauten, die Überreste der Synagogen und etlicher gotischer Häuser. Aber Stadtkämmerer und -rat haben das letzte Wort. Es bleibt spannend, was sich Köln noch gönnen kann. Immerhin wird der Wiederaufbau des Historischen Archivs mit 86 Mio. € veranschlagt, die Kosten der Restaurierung des gesamten Bestandes mit 400 Mio. € [presse; archiv]. Die Archäologische Zone samt jüdischem und archäologischem Museum ist ursprünglich auf 14 Mio. [vgl. Illig 1/2008, 212], dann ‘nach einigen Abspeckmaßnahmen’ bereits auf 45 Mio. € taxiert worden; sie liegt heute bei 52 Mio. und dürfte weitere Kostensprünge vor sich haben. Die Schätzung der jährlichen Betriebskosten ist zwischenzeitlich von 2,9 auf 5,7 Mio. € geklettert [Damm 2013].
Nachdem die neue U-Bahn Kölns Wahrzeichen in seinen Grundfesten vibrieren lässt, mag auch hier noch eine Menge an Geld fällig werden, damit die U-Bahn in diesem Bereich schneller als derzeit 20 kmh fahren kann, ohne den Gottesdienst zu stören und den Dom zum Einsturz zu bringen [wdr]. Aber stürzende Kulturbauten liegen ja seit dem Historischen Archiv in Köln im Trend. Vielleicht deshalb forderte der Landschaftsverband Rheinland in Gestalt von Museumsarchitekt Wolfgang Lorch einen Grabungsstopp. Für ihn gehen Fortsetzung der Grabungen und Museumsbau nicht zusammen, zumal er die Statik im Bereich der Renaissancelaube für gefährdet hält.
„In einer Vorlage für den heutigen Kulturausschuss des Verbandes warnt LVR-Kulturdezernentin Milena Karabaic, das Projekt weise nach wie vor ungelöste Probleme auf. »Hier sind insbesondere die Anforderungen an die Statik, die nicht abgeschlossenen Grabungen und die fehlende Feinkonzeption zu nennen.«“ [Rudolph].
Aber wegen Kleinigkeiten werden die Kölner ihr Selbstvertrauen nicht verlieren. So ist auch die Gefährdung der Rathauslaube umgehend als Tatarenmeldung zurückgewiesen worden. Und wie sagt de kölsche Jung bislang: „Et hät noch immer joot jejange.“
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Nach Abschluss dieses Artikels äußerte sich am 17.03. mit Thomas Fischer der Vorstand des Archäologischen Institutes der Uni Köln [Damm 2013c]:
„Schüttes These von einer spätantiken Synagoge ist »genauso absurd, als wenn jemand käme und sagen würde, Köln ist nicht von den Römern, sondern von den Ägyptern gegründet worden«. Eine im vierten Jahrhundert auf dem jetzigen Rathausvorplatz errichtete Synagoge sei »durch nichts belegt«, so Fischer. Wissenschaft lebe von Kommunikation und Kontrolle. Schütte gebe indes zu wenig Informationen heraus, um auf wissenschaftlichem Standard über die Ergebnisse diskutieren zu können. Der veröffentlichte Grabungsbericht enthalte »Nebelkerzen und Fehlinformationen«.“
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Kulturdezernent Georg Quander, der immer wieder Sven Schütte den Rücken gestärkt hat, bekam sein Amt nicht über den 31. 05. hinaus verlängert.
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Nachtrag vom 4.5.2013: Ein Teil der weiteren Geschehnisse nach Redaktionsschluss des Heftes ist in der Fundsache “AusgeSchüttet?” dokumentiert.
Literatur
archiv = http://www1.wdr.de/themen/archiv/sp_stadtarchiv_ubahn/archiveinsturz658.html
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Damm, Andreas (2013a): Finanzierung falsch eingeschätzt; Kölner Stadt-Anzeiger, 15. 01.
http://www.ksta.de/innenstadt/archaeologische-zone-finanzierung-falsch-eingeschaetzt,15187556,21471500.html
– (2013b): Stadt ließ Wikipedia-Text schönen; Kölner Stadt-Anzeiger, 25. 01.
http://www.ksta.de/innenstadt/ueber-archaeologische-zone-stadt-liess-wikipedia-text-schoenen,15187556,21559776.html
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http://www.ksta.de/innenstadt/archaeologische-zone-uni-institut-kritisiert-grabungs leiter,15187556,22140412.html
Haridi, Pamela (2012): Über 250.000 Artefakte und 120.000 Proben aus Fauna und Flora. Präsentation des Grabungsberichts 2006 bis 2012; Kölner newsjournal, 20. 08.
http://www.koelner-newsjournal.de/lokales/uber-250000-artefakte-und-120000-proben-aus-fauna-und-flora-praesentation-des-grabungsberichts-2006-bis-2012?
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– (2/2007): St. Pantaleon – vier Rekorde fürs Guinness. Sven Schütte als karolingischer Lückenbüßer; Zeitensprünge 19 (2) 341-368
– (1/2008): Köln im Frühdatierungsfieber. Wie oft wird Sven Schütte noch zum Auslöser? Zeitensprünge 20 (1) 210-217
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