von Heribert Illig (Zeitensprünge 3/2005)

Ein Jubiläum ist zu begehen, das auf keinen Fall häufig ist. Eigentlich sind es sogar zwei Jubiläen; aber das Aufstellen einer Arbeitshypothese (vor 15 Jahren) ist weniger selten als ihr Fortbestehen über 10 Jahre harter Diskussion und geharnischter Anfeindungen hinweg.

Denn vor zehn Jahren begann die eigentliche Diskussion um die mittelalterliche Phantomzeitthese. Von ein paar verfrühten Verbal-Ausrutschern aus Aachen abgesehen, machte Prof. Johannes Fried im Oktober 1995 die These publik, wurde sie im Januar ‘96 zum ersten Mal öffentlich diskutiert. Als wachsamem Beobachter der Szene war Fried ein Buch aufgefallen, demzufolge Karl der Große nie gelebt hätte. Ein solche Attacke gegen zentrale mediävistische Belange hatte es lange nicht mehr gegeben – es lag 60 Jahre zurück, dass ein Lehrer den Gang kaiserlicher Geschichte als verfälscht ansah, dass die Nazis ein Umschreiben frühmittelalterlicher Geschichte verlangten. Tempi passati – doch jetzt ein Generalangriff, der so weit ging, dass einer Fakultät die wichtigsten Objekte ihrer Forschung abhanden kämen.

Damals wurde Fried gerade wegen eines Buches von seinen Kollegen sowohl attackiert wie geehrt. Nun hielt er vor dem Historischen Kolleg eine Dankesrede über Phantasie in der Wissenschaft und befand: Es gibt eine, seine positive und konstruktive Phantasie – es gibt aber auch erschreckenderweise eine negative, destruktive, illusionäre, gefährliche Phantasie, wie sie in meinem Karls-Buch zum Ausdruck komme [vgl. Illig 1996, 109-112; 1997, 278]. Allerdings hatte Fried nicht genug Phantasie, um ein Kriterium vorzugeben, mit dessen Hilfe die gute und die böse Phantasie auseinander gehalten werden könnte. Insofern fand die Phantasmagorie zwar ihren Weg in die Historische Zeitschrift [Fried 1996a], das Zentralblatt der Historiker, verschwand aber dann rasch in der Versenkung; er selbst hat sie in seinem Folgebuch über Memorik nicht mehr zitiert.

Fast gleichzeitig wollte Fried [1996b] die Fenster des mediävistischen Elfenbeinturmes aufreißen, wobei er bei einigen Kollegen Schwulitäten voraussah; er prophezeite auch ein generationenlanges Nachsitzen bei der Scheidung von guten und schlechten, sprich echten und falschen Urkunden. Doch dann warf er das Ruder neuerlich herum und interessierte sich nicht mehr um die Absichten und Vorsätze beim Fälschen, sondern ließ sich von Neuro-Wissenschaftlern leiten: Es gäbe Neuronenstürme, aus denen Wahrnehmungsdeformationen entsprängen, die in der von ihm kreierten Memorik entscheidend seien [Fried 2004].

Auch dieser Weg wird sich trotz naturwissenschaftlicher Steigbügelhilfe als Sackgasse erweisen. Aber immerhin hatte Fried den Mut für neue Würfe. Die meisten seiner Kollegen – allen voran Prof. Rudolf Schieffer – begnügten und begnügen sich mit der immer gleichen Arbeit am Pergament und beißen weg, wer immer dabei stört. So desavouierte Schieffer zuletzt einen kritischen Kollegen als Verfasser eines „Schelmenromans“ (s. S. 705).

Welche Chance sollte es da haben, die Axt an die Wurzel aller Diplomatik und Paläographie, an den Stamm der Mediävistik zu legen? Dafür, dass es keine gab, konnte ich sie dank der Medien und dank des Millenniums einigermaßen nutzen. Journalisten im Gefolge von Burkhard Müller-Ullrich zwangen Mediävisten und Physiker, Archivare und Dendrochronologen, Fälschungsaufdecker und Archäoastronomen zu Stellungnahmen. Auch traten einige von ihnen als Kontrahenten bei Veranstaltungen auf – ich bedanke mich hier ausdrücklich und ohne jeden Vorbehalt bei den Professoren Helmut Assing, Karl Brunner, Heinz Dopsch, Hermann Fillitz, Ingeborg Flagge, Jörg Jarnut, Johannes Laudage, Max Kerner, Friedrich Prinz (†), Volker Reinhardt, Rudolf Schieffer und Thomas Vogtherr für ihre persönliche Teilnahme an einem öffentlichen Streitgespräch.

Hier wurde im ritterlichen Konsens gefochten. Blieben die Mainstream-Vertreter unter sich oder traten sie allein vor die Öffentlichkeit, änderte sich die Tonlage häufig ins Grelle. Ohne irgend eine Beleidigung oder Verhöhnung ging es dann selten ab. Gravierend waren die dumpfen, weittragenden Paukenschläge. Fried selbst legte es darauf an, als er schon bei erster Gelegenheit vom „Karlsleugner“, von der „Karlslüge” und von einem in die Katastrophe führenden Denken sprach. Andere ließen sich da nicht lumpen und schlugen vorsätzlich dieselbe Trommel. Mittlerweile scheint das zum üblichen Abwehrverhalten zu gehören, obwohl Gunnar Heinsohn [2003] dringend davor gewarnt hat. Ein aktuelles Beispiel: Gerade begrüßte im Londoner Globe Theatre Theaterdirektor Mark Rylance die Autoren eines Buches über eine neue Lösung des immerwährenden Shakespeare-Rätsels (nun Sir Henry Neville, ca. 1562–1615), wobei Offenheit gegenüber neuen Ideen und ihre bösartige Abwehr dicht nebeneinander traten:

„Mit ihrem Neville hätten sie ‚ein neues Fenster‘ geöffnet und die fruchtbare Diskussion wiederbelebt. ‚Ich ziehe ein Haus mit vielen offenen Fenstern einer Hütte vor, deren Fenster zugenagelt sind.‘

Das ist ein Seitenhieb auf jene Vertreter der Tradition, die jede Diskussion für Ketzerei halten. Wer den Mann aus Stratford als Autor anzweifle, muss sich vom Shakespeare-Biografen Stephen J. Greenblatt (‚Will in the World‘) indirekt mit Holocaust-Leugnern vergleichen lassen – so geschehen in einem Leserbrief des Harvard-Professors an die ‚New York Times‘“ [Borger 2005].

1997 verglich mich Die Zeit nicht nur indirekt, sondern direkt mit den Auschwitz-Leugnern. 1999 ging es beim Leipziger Symposium der Mediävisten auch um dieses Thema; obendrein wurden die Teilnehmer beschworen, den Gedanken an eine Phantomzeit nicht in die Köpfe der Jugend zu lassen [Niemitz 1999]. Anschließend wurden die Autoren des dreibändigen Prachtkatalogs der Paderborner Karlsausstellung angehalten, kein einziges Wort über These oder Urheber zu verlieren, worauf Prof. Michael Borgolte öffentlich (26. 9. 99) die damnatio memoriae über mich und meine These verkündete. Zu seinem Leidwesen kümmerte dies seine Kollegen und das Publikum wenig. Die Medien berichteten unbeirrt weiter, und in fast jedem mediävistischen Institut wurde hinter verschlossenen Türen über die These gestritten. Die nach außen vorgetragenen Argumente kamen aber über den Generalnenner „absurd“ kaum hinaus. Ich werte dies als sicheres Zeichen dafür, dass sich innerhalb der herrschenden Lehre die These mit wissenschaftlichen Argumenten nicht abwehren lässt.

So blieb der Fakultät nur das Aussitzen. Das kann bekanntlich bis zu 16 Jahre lang gutgehen, ungeachtet aller Schwelbrände, die allenthalben aufflackern. Die Mediävistik schlägt bereits drei Kreuze, dass sie die erste große Attacke leidlich überstanden hat. Die Freude darüber wird nicht verschwiegen, geht es doch um eine höchst unangenehme Diskussion, „die erfreulicherweise wieder weitgehend aus den Medien verschwunden ist.” (s. S. 705).

Wie wahr. Das Publikum, das bislang 100.000 Mal das erfundene Mittelalter gekauft hat, wird sich kaum noch erinnern, dass Matthias Schulz [1999] im meinungsbildenden Spiegel die karleske Ketzergeschichte erzählt hat, will sich doch der selbst nicht mehr erinnern. Als er jüngst „Die Welt des Mittelalters zwischen Himmel und Hölle“ vorstellte [31.10. 05], da berichtet er zwar fleißig darüber, wie viele Schwierigkeiten wir Heutigen bei dem Versuch haben, das Mittelalter zu verstehen, ließ aber auch nicht den Schatten eines Zweifels am gelehrten Geschichtsbild aufkommen, so wenig wie bei seinem Parforceritt durch die byzantinische Geschichte [21.11. 05]. Beim Konkurrenzblatt Focus machte Roger Thiede drei Anläufe, um das Thema vorzustellen und wurde dreimal zurückgepfiffen – vielleicht war man sich bewusst, dass die Mediävisten schutzbedürftig sind.

Richard Wagner war solches Geschehen innerhalb eines elitären Zirkels eine komische Oper wert. Er schildert ein redliches, butzenscheibiges Nürnberg, in dem redliche, antiquierte Sänger einen treudeutschen Männerbund aufrecht halten, in dem sich der Adept über Singer und Dichter zum Meister emporarbeiten kann, so er nur buchstabengetreu die „leges tabulaturae“ befolgt, sprich mit Bar, Gemäß, Gesätz, Stollen, Vers und Reim samt Abgesang und Melodei zurechtkommt und Bescheid weiß um

„die ‚Frösch‘-, die ‚Kälber‘-, die ‚Stieglitz‘-Weis,
die ‚abgeschiedene Vielfraß‘-Weis“ [Wagner 16].

Bis ein Junger kommt, dem nach Singen und Liebe mehr denn nach verstaubten Regeln und Beckmessereien zumute ist. Der schreibt unter meisterlicher Aufsicht – dies nur bei Wagner – ein Lied, das bei den Meistersingern nicht auf Anhieb Beifall hervorruft:

„Wer nennt das Gesang?
’s ward einem bang!
Eitel Ohrgeschinder!
Auch gar nichts dahinter!“ [ebd., 34]

Worauf Sachs und Borgolte, nein Beckmesser den Sängerstreit auf den Punkt bringen:

„Wollt ihr nach Regeln messen,
was nicht nach eurer Regeln Lauf,
der eigenen Spur vergessen,
sucht davon erst die Regeln auf!“

Beckmessers Contra:

„Aha! Schon recht! Nun hört ihr’s doch:
den Stümpern öffnet Sachs ein Loch,
da aus und ein nach Belieben
ihr Wesen leicht sie trieben,
Singet dem Volk auf Markt und Gassen;
hier wird nach den Regeln nur eingelassen!“ [ebd., 34]

Und diese Regeln liegen eisern fest, nachdem sich noch kein Sachs der Mediävistik gefunden hat. PD Amalie Fößel hat unmissverständlich klargestellt: „Geht man dagegen methodisch korrekt vor, dann stellt sich die eingangs zitierte Frage [nach Karls Fiktionalität] nicht“ [vgl. Illig 1999, 394; Hvhg. H.I.]. Genau so ist es: Wer lieber die „‘Schwarz-Dinten‘-Weis“ einhält [Wagner 15], als selbständig zu denken, wird nicht mehr vorankommen. Denn der ist obendrein geradezu stolz, nichts von Archäoastronomie, Kalenderrechnung, naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden, chronologischen Problemen in anderen Kontinenten oder von archäologischen Befunden zu wissen – so trug es einer der reinen Schriftgelehrten in meiner Gegenwart vor über 200 akademischen Zuhörern vor und erhielt dafür auch noch Beifall (2002).

Bezeichnenderweise haben sich Archäologen praktisch gar nicht an der zehnjährigen Diskussion beteiligt, obwohl sie vielleicht am meisten zu sagen hätten und am meisten für ihr eigenes ‘Standing’ profitieren könnten. Das ging soweit, dass die Zeitschrift Archäologie in Deutschland 1999 zwar eine Diskussion zum Thema einleitete, doch kein Archäologe sich an ihr beteiligte. Wenn die Archäologen weiterhin schweigende Zuträger der Mediävisten bleiben, wenn die Mediävisten die archäologischen Ergebnisse nicht apperzipieren, werden sie auf ewig ihr Pergament wiederkäuen müssen, ohne dem Mittelalter näher zu kommen. Es gäbe im akademischen Gebäude wahrlich attraktivere Berufe als Verweser sterilen Unwissens.

Während die meistersingerliche Fachwelt glücklich ist in ihrem Fachwerkturm mit den „zugenagelten Fenstern“, treten unentwegt neue archäologische Funde ans Licht, werden unentwegt neue Ergebnisse ignoriert, revidiert und ganz auf den Kopf gestellt. Der aktuelle Berichtszeitraum bietet eine reiche Palette an Beispielen. Sie sind der Einfachheit halber alphabetisch gereiht, weil das Geschehen einem Grundmuster folgt: Irgendwo werkelt ein Bagger, worauf das von ihm gerissene Loch Anlass gibt für hörbares Aufatmen oder für stilles Kaschieren.

Ort des Baggerns: Aachen

Hier gab und gibt es „Knatsch um den Katschhof” [Schmetz 2005a], also um den Platz zwischen Dom und Rathaus. Mitte Mai rückte ein Bagger an, um neue Stromleitungen zu legen. Was außerhalb jeder Vorstellung lag – wer kennt schon die Rekonstruktion der Aachener Pfalz? –, geschah prompt: Schon bei knapp einem Meter Tiefe stellten sich dem Räumgerät Mauern in den Weg, die entschlossen zerstört wurden. Daraufhin weinten die Archäologen den als karolingisch eingeschätzten Trümmern eines Turms oder Torbaus bittere Zähren nach, obwohl doch alles „in enger Absprache mit dem Rheinischen Amt für Bodendenkmalpflege“ geschehen sei [ebd.].

Erinnerungen regten sich, wurden doch im August 2001 die Überreste eines freigelegten Römerbades an der Buchkremerstaße entschlossen binnen 24 Stunden zerstört; wenige Reste dümpeln auf einem Aachener Bauhof vor sich hin [stm/alp]. Vier Jahre lang hätte man sich überlegen können, wie Bauarbeiten auf archäologisch bedeutsamen Gelände durchzuführen sind, doch in der Karlsstadt blieb es bei der Bagger-Methode.

Erst bei diesem neuerlichen üblen Missgriff reagierte die Stadt, indem sie sogleich ankündigte, die Funde zu sichern und vielleicht unter Glas im Pflaster des Katschhofs zu zeigen [Schmetz 2005b]. Obendrein beschloss sie drei Monate später, einen Stadtarchäologen einzustellen, der mit den Bauherren und deren Archäologen zusammenarbeitet und die Position der Stadt vertritt [Peltzer/Mohne]. Der soll sich unter anderem an der Erhebung aller archäologischen Funde in der Innenstadt beteiligen – keine übereilte Absicht in einer Stadt von Weltkulturerbe. Und er muss eine heikle Entscheidung treffen: Wird der Aachener Bagger als archäologisches Handwerkszeug zugelassen? Vielleicht auch bundesweit? Doch im November neue Enttäuschung:

„Erstaunlicherweise soll die Position zunächst nur für zwei Jahre eingerichtet werden, als ginge es nicht darum, eine bisher nicht vorhandene Infrastruktur für die Stadtarchäologie aufzubauen“ [aro.]

Da will die F.A.Z. nicht begreifen, dass Aachen mit Archäologie nichts ‘am Hut’ hat: Es genießt seine historische Erinnerung am liebsten frei von jedem grobstofflich-irdischen Anteil.

Doch schon im September hat es Widerspruch gegeben. Der örtliche Mediävist Prof. Dietrich Lohrmann teilte den Zeitungslesern mit, dass die Spitzenarchäologen des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege, Bonn, die „weitere Zerstörung trotzdem genehmigten. Nun sind sie empört, dass man sich über sie empört“. So klar er hier die Schuldigen ansprach, so klar machte er einmal mehr deutlich, dass die Archäologie weiterhin hinter den Urkunden zurückstehen muss:

„Außerdem braucht die Forschung jedes nur mögliche Grabungsdetail, um die Angaben der schriftlichen Zeugnisse zu den Bauten der Aachener Pfalz überprüfen und ergänzen zu können.“ [Lohrmann]

Erstaunlich, wie wegweisend es in Aachen zugeht – denn überprüft werden hier bislang keine Schriftzeugnisse, allenfalls ergänzt.

Ort des Bröckelns: Aachen

Weil die aus der Zeit um 1350 stammende Reliquienbüste Karls bröckelte, wurde sie aufwendig restauriert. Dabei wurde auch die Schädelkalotte Karls begutachtet. Der Ausspruch von Dr. Geog Minkenberg als Leiter der Domschatzkammer: „Das Stück hat seit der ersten ‚wissenschaftlichen‘ Untersuchung des 20. Jahrhunderts an Substanz verloren“, bezog sich allerdings nicht auf die Zuschreibung des Knochenrestes, sondern darauf, dass es faktisch kleiner geworden ist, wie Bruch- und Schnittstellen bezeugen [Tondera].

Ort der Visionen: Allensbach am Bodensee

Frau Prof. Dr. Elisabeth Noelle teilt mit, dass auch die Wurzeln der Demoskopie ihre Nährsäfte aus Karl dem Großen saugen:

„Umfragen gibt es seit langem. Man fand sogar eine Umfrage, die Karl der Große im Jahre 811 organisiert hatte. Themen waren unter anderem, warum so viel Menschen anderen Menschen den Besitz neiden oder warum so viele Soldaten desertieren. Ein Fragebogen der Umfrage Karls des Großen ist erhalten.” [Noelle]

Nachdem Frau Noelle gelegentlich dem großen Karl begegnet – „Manchmal sehe ich Karl den Großen aus dem [Reichenauer] Münster herauskommen“ [vgl. 1/2002, 208] – ließe sich darüber spekulieren, ob Deutschlands erste Demoskopin nicht nur Adenauer unterstützte, sondern auch den karolingischen Fragebogen entworfen hat, doch wäre das nicht chevaleresk.

Ort der Springprozession: Altötting

Hatten die Fachgelehrten 20 Jahre lang das Oktogon der Gnadenkapelle vom 8. ins 10./11. Jh. verjüngt, so meldete sich nun Dr. Peter Moser [2004] zu Wort. Indem er nur 80 bis 130 Jahre an Verjüngung konzediert [vgl. Illig/Anwander 36 ff.], ‘raubt’ dieser Archivar das Oktogon den Agilolfingern und bezeichnet es als karolingischen Bau Ludwigs des Deutschen aus der Zeit um 830 – „wahrscheinlich an der Stelle eines früheren germanischen Lindenheiligtums“, wie seinem Interview in der National-Zeitung [dsz] zu entnehmen ist. Ihm zufolge gilt: „Altötting ist das nationale Heiligtum Deutschlands.“ Für diesen Mediävisten ist das Heilige Römische Reich eine

„religiöse ideelle Realität. […] Dieses Reich, das unter Karl dem Großen auf die Germanen übergegangen ist, ist demnach auch heute nicht tot.“

Von Einsprüchen seiner Kollegen ist mir nichts bekannt. Zur Erinnerung an das kräftig schwankende Entstehungsdatum des Altöttinger Oktogons: Benno Hubensteiner sprach (1950) von der Zeit um 748, Rudolf Pörtner (1964) von der Zeit um 600; Dehio (1990) von „noch Anfang bis Mitte 8. Jh.“, während im gleichen Jahr Gottfried Weber immer mehr Kollegen kannte, die das 10. oder 11. Jh. für wahrscheinlicher halten [Illig/Anwander 36 ff.]. Nach einem Intermezzo von „um 700“ [Altötting 2005] nun also Mosers 830. Wird es beim Nichtwissenwollen bleiben?

Ort der Erregung: Aying–Kleinhelfendorf

Am 20. 9. zog ein Bagger die Trasse für eine Stromleitung. Nahe der Marterkapelle des Heiligen Emmerams wühlte die Schaufel Skelettteile aus dem Boden. Sofort wurden Stimmen laut, dass die sterblichen Überreste Emmerams gefunden seien; der Ayinger Bürgermeister erhoffte prompt einen Aufschwung des Wallfahrtstourismus [hak].

Es blieb beim Hoffen. Zum einen soll das Skelett des anno 652 Gefolterten in St. Emmeram zu Regensburg liegen; zum anderen wäre es an den fehlenden Extremitäten zu erkennen, ist doch der Heilige laut Legende auf furchtbare Weise zerstückelt worden. Mittlerweile haben die Archäologen Entwarnung gegeben. Emmeram bleibt in Regensburg, die Kleinhelfendorfer Knochen verlieren jede Bedeutung.

Tatort Bösfeld

So ist in Mannheims Reiss-Engelhorn-Museen eine Ausstellung betitelt, die noch bis zum 22. Januar 2006 zu besichtigen ist. Drei Jahre benötigten die Archäologen der Museen, um den bisher größten Friedhof der Merowingerzeit am Oberrhein freizulegen. Er liegt auf dem Hermsheimer Bösfeld in Mannheim-Seckenheim und gab auf 10.000 Quadratmetern 940 Gräber frei, die ins 6. bis 8. Jh. datiert werden. Den Grabbeigaben nach – Langschwerter, Lanzen und Schilde, kostbare Trachten mit prächtigen Accessoires – handelte es sich um eine Siedlungsgemeinschaft aus Gefolgskriegern des fränkischen Königs [Bösfeld]. Es gibt laut Erik Weber bei diesem bemerkenswert kontinuierlich angelegten Gräberfeld überhaupt keine Hinweise für Christianisierung, dafür durchgehend Hinweise auf Speisebeigaben. Insofern erachte ich dieses Gräberfeld als einen weiteren Beleg dafür, dass die Merowingergräber mitsamt ihren Beigaben nicht bis ins zum Jahre 1000 verjüngt werden dürfen, wie Armin Wirsching vorgeschlagen hat [3/2004], sondern höchstens bis 614 reichen [1/2005] – was zwischen uns diskutiert wird.

Die Archäologen wählten den reißerischen Titel, um auf ihre detektivische Spurensuche und Beweissicherung hinzuweisen, außerdem, weil sie dem tragischen Tod einer hier bestatteten Keltin des -1. Jtsd. nachgegangen sind.

Ort der Wahrheit: ein Bachbett bei Erftstadt-Niederberg

Wie das Rheinische Amt für Bodendenkmalpflege des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) in Köln mitteilte [ORF], kamen bei der Renaturierung eines Baches plötzlich alte Holzreste anderthalb Meter unter den feuchten Lehmschichten hervor, ein „echter Überraschungsfund”.

„Die aus Eichenholz gearbeiteten Bohlen entpuppten sich bald als Reste einer Getreidemühle aus dem Jahre 886 n. Christus, ‚plus, minus zehn Jahre’, schätzen die Fachleute. Der Fund sei ‚auch deswegen so wichtig, weil gerade die karolingische Zeit schlecht erforscht ist – uns fehlen schlicht die Funde.‘” [Hvhg. H.I.]

In Anbetracht dessen, dass der fundlosen Forschung nichts besseres einfiel, als mir die phantomzeitliche Fundarmut respektive Fundleere als Konstrukt und Erfindung anzulasten [so auch Krojer 457], ist dies ein erstaunlich klares Eingeständnis.

Ort des Raunens: Externsteine

Altbraune, Neuheiden und andere Esoteriker bemüh(t)en sich stets, die Externsteine den alten Germanen zuzuordnen, Bis 1935 gab es dort keine Funde vor 1000, dann beschrieb der Grabungsleiter Julius Andree die Funde kurzerhand als germanisch. 1990 beauftragte die „Schutzgemeinschaft Externsteine“ die „Forschungsstelle Archäometrie“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften damit, die Brandspuren in den Grotten zu datieren. Eine erste Untersuchung ließ eisenzeitliche Provenienz (-1. Jtsd.) vermuten. Nun liegen nach eineinhalbjähriger Arbeit Lumineszenzdatierungen vor. Demnach brannten in der Kuppelgrotte die letzten Feuer 935±94 respektive 735±180. Damit ist nichts darüber gesagt, wann dort die ersten Feuer loderten [Jungen]. Auf jeden Fall war das erste publizierte Messergebnis ein völliger Fehlschlag und ist mit 5 Protsch zu bewerten (die neue Maßeinheit für Fehler archäometrischer Datierungen: 1 Protsch ’ 250 Jahre Abweichung).

Ort des Veralterns: Freising – Enghausen

Zu Beginn dieses Jahres war zu berichten, dass ein unbeachtetes Dorfkreuz zur ältestes Großplastik des Abendlandes seit der Spätantike erhoben worden ist: Das Enghausener Kruzifix alterte mit Hilfe ausgefeilter Labortechnik von 1200 auf ca. 900 [Illig 2005, 111-114]. Hier war Einspruch zu erheben. Nun liegt ein ebensolcher Einspruch von einer der besten Kennerin der Materie vor (ein dankenswerter Hinweis von Franz Siepe, der das Standardwerk über Triumphkreuze im Portal Kunstgeschichte rezensiert hat). Manuela Beer hat festgestellt [2005, 566 f.]:

„Eine endgültige Auswertung und Überprüfung des Ergebnisses der C-14-Untersuchung, die nicht mit der durch Stilanalyse und relativen Werkchronologie der oberbayerischen Triumphkreuze ermittelten Datierung in dieser Arbeit übereinstimmt, steht noch aus. […] Der Wert solcher Ergebnisse für die Datierung muss allerdings von Fall zu Fall vor dem Hintergrund historischer und stilanalytischer Kriterien überprüft werden. Wie irreführend auch ein vermeintlich unbestreitbarer, naturwissenschaftlicher Befund sein kann, hat vor einigen Jahren der Fall des Udenheimer Triumphkreuzes […] gezeigt [Dieses Kreuz wurde auf 750 statt auf 1070 datiert; H.I.]. Da sich die Drucklegung dieser Arbeit und die nicht abgeschlossene Verifizierung der neuen Befunde für Enghausen überschneiden, berücksichtigen die im Folgenden dargestellten Ergebnisse der stilkritischen Analyse den neuen Datierungsvorschlag nicht, zumal er sich bislang kunsthistorisch nicht überzeugend belegen lässt.“

Die selbstbewusste Leichtfertigkeit, mit der hochspezialisierte Naturwissenschaftler ganze Geschichts- wie Kunstgeschichtszweige ins Chaos treiben, ist erschreckend, aber verständlich, nachdem die einschlägig unbelasteten Schriftgelehrten derartige Ergebnisse wie das Amen in der Kirche hinnehmen. Wir kennen diese Anmaßung aus Vorgeschichte und Antike zur Genüge. Wenn dann noch die Hochstapelei und Scharlatanerie eines von keinem Kollegen kritisierten Spezialisten (Protsch von Zieten [Illig 2004]) hinzutritt, dann wird es verheerend.

Ort der Blindheit: Fulda

Im September trat im Stadtschloss und im Vonderau Museum zu Fulda ein Symposium zusammen, das sich dem Thema: „König Konrad I.: Auf dem Weg zum ‚Deutschen Reich‘?“ widmete. Dem dafür werbenden Flyer ist zu entnehmen, dass der dort faximilierte Eintrag zum Tod des König Konrad I. in den Fuldaer Totenannalen auf das „9.–10. Jahrhundert“ datiert wird. Nachdem Konrad 918 gestorben ist, scheint es sich um den zwanghaften Reflex zu handeln, Geschehnisse fast mit Gewalt in die Karolingerzeit zurückzuverlegen.

Ort des Grabens: Hamburg

Vor der Redaktion der Zeit am Speersort, auf den Überresten des Heidenwalls, wurde am 30. 6. eine Videokamera installiert, die für alle Internetbesucher jederzeit aktuelle Aufnahmen von dem großen Grabungsgelände auf dem Domplatz liefert [Hammaburg]. Ihnen zur Seite steht das gelegentlich aktualisierte Grabungsprotokoll des diensthabenden Archäologen Karsten Kablitz, das den nüchternen Grubenalltag des Archäologen ungeschminkt wiedergibt. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Keimzelle Hamburgs, die alte Hammaburg. Gegründet 817 auf einer von Alster und Bille umflossenen Landspitze, errichtete dort Missionar Ansgar eine erste Holzkirche. Nach 15 Jahren fackelten die Dänen den christlichen Spuk samt Ansgars Bibliothek ab. Die neuerlich gebaute Holzkirche wurde 1035 von Bischof Bezelin durch eine steinerne ersetzt, errichtet im Schutze von Norddeutschlands ersten Steinwällen. Soweit die Überlieferungen.

Wo aber stand die Hammaburg? Direkt vor der Zeit? Nach dem ersten Anrücken des Baggers vor sechs Monaten ist die Skepsis gewachsen, ob dort das karolingische Hamburg aus der Tiefe gehoben werden kann.

„‘Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß der älteste Dombau von Erzbischof Ansgar und damit auch die Hammaburg auf diesem Gelände errichtet wurden, einen Beleg dafür haben wir aber bislang nicht‘, sagt Grabungsleiter Kasten Kablitz. An der Hammaburg selbst sei das Ausgrabungsteam bisher ‚in keiner Weise dran‘, auch bauliche Überreste eines der Dombauten wurden noch nicht gefunden“ [Gall].

Es gibt mit Papst Benedikt V. einen Beförderer dieser Skepsis. Verbannt 964 von Otto I. nach Hamburg (Bezeichnung für eine „Befestigung im Morast“), starb er bald an „dem Regen, dem Heimweh, der Trostlosigkeit“, denn Hamburg war damals noch eine Ansiedlung von vielleicht 200 bis 300 einstöckigen Lehmhütten [Franz 2005a]. Wie soll dieses Moorkaff 150 Jahre früher ausgesehen haben? Wie eine Bischofsstadt? Oder wie Münster, wo den Archäologen zufolge der Bischof einsam seine Basilika samt Palast am Ufer der Aa baute? Immerhin hat man einen weiteren Schmuckziegel von Benedikts Scheingrab gefunden, das allerdings erst 250 Jahre nach seinem Tod errichtet worden ist, als den Hamburgern ein katholischer Märtyrer ins Konzept passte [Franz 2005b].

Wie dem auch sei: Das 16-köpfige Hamburger Grabungsteam hat noch Zeit bis Ende 2006, um die Hammaburg und den ältesten Dom zu finden. Findet es nichts, schadet das auch nichts, denn nichts kann falsifiziert werden:

„Wir erwarten den ersten Dombau im Zentrum und die Hammaburg eher in den Außenbereichen des heutigen Domplatzes, sagt Kablitz. Es sei aber unklar, ob der Außenbereich des heutigen Platzes mit dem des historischen übereinstimmt“ [Gall].

Außerdem steht mit Ole Harck der Verfechter einer konträren Meinung parat. Der Kieler Professor für Vor- und Frühgeschichte würde die Hammaburg 500 m südwestlich unter den Ruinen von St. Nikolai suchen. Für ihn hat sich bis Anfang Oktober nichts bei der Ausgrabung ergeben, was ihn an seiner These zweifeln ließe.

Zum Dritten weiß die Stadt Hamburg [Hamburg] ohnehin längst, wo die karolingische Hammaburg lag, wie lang, breit und hoch ihre Wälle waren (520 x 15 x 6 m), aus wie vielen Baumstämmen sie bestanden (10.000) und wie groß die hier verschanzte Besatzung (50 Mann) war – eine Fähigkeit der Imagination, die wirklich keiner archäologischer Funde mehr bedarf. Warum da noch eine solch’ aufwendige Grabung?

Ort der Karolinger: Krefeld

Ein 16 m langer Lastenkahn wurde in die eigens dafür errichtete Schiffshalle im Museum Burg Linn verbracht. Damit ist – nach den beiden in Utrecht und Kalkar-Niedermörmter – der dritte Bootsfund auf dem europäischen Festland gerettet, der als karolingisch gilt. Der Krefelder Fund lag rund 30 Jahre im Konservierbad und steht jetzt für das 8. Jh. [AZ]. Sofern Dietrich Hennes [2005] recht hat, bezieht er seine Datierung nicht aus dendrochronologischen Untersuchungen, sondern aus dem einzigen Fund im Bootsinneren: dem tönernen „Wackeltopf“.

Den Niedermörmter Kahn hatte 1993 ein Schwimmbagger freigespült:

„Im Schiff selbst sowie in dessen unmittelbarem Umfeld wurden sowohl ein paar stark verschliffene römische Scherben und eine fast vollständig erhaltene, viereckige Glasflasche aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. als auch einige wenige mittelalterliche Keramikfragmente des 8./9. Jahrhunderts aufgefunden“ [Köln 378].

Bevor der Flusskahn als Nullachtfünfzehn-Kahn der Römer gesehen werden konnte, sprach die Dendro-Untersuchung von einem Fälldatum bei 802 ! 5 Jahre. Insofern wären die Karolinger am Rhein subaquatisch präsent.

Ort karolingischer Abstinenz: Landshut

Ober- wie Niederbayern waren einmal Weingegend (gab es doch am Münchner Karlsplatz sogar den Weinbauern Eustachius, nach dem alle Welt den Platz „Stachus“ nennt). Doch wann florierte der Weinbau in Landshut und Umgebung? Nach

„dem Abzug der Römer scheint sich zuerst niemand mehr für den Wein interessiert zu haben, erst vom 10. bis ins 13. Jahrhundert aber lachte die Sonne den Weinbauern wieder in Herz und Garten“ [Tremmel].

Also karolingische Abstinenz, obwohl Karl per Capitular die Modalitäten für das Keltern festgelegt hätte und keine karleske Kaltzeit bekannt ist. Nach 1645 erlosch der südbayerische Weinbau dann endgültig.

Diese Kalt- und Warmzeiten werfen eine Frage auf, die Robert Zuberbühler zunächst auf derzeit ausapernde Alpenpässe richtete. Da in manch vorgeschichtlicher Zeit die Permafrostgrenze noch deutlich höher lag als heute, da es im 14. Jh. eine „Kleine Eiszeit“ gab und von 1645–1715 das so genannte „Maunder-Minimum“, dazwischen aber deutliche Warmzeiten, ist zu fragen: Wie hat damals der Mensch so viele Treibhausgase erzeugt?

Ort des Pergaments: Mainz

Ab 4. Februar 2006 lässt sich im Mainzer Dom- und Diözesanmuseum eine „karolingische“ Prunkhandschrift aus dem Vatikan bestaunen: Die Gedichtsammlung „Lob des Kreuzes“, mit eigener Hand verfasst und korrigiert von Hrabanus Maurus (angebl. † 856), der in der Bischofsliste von Mainz verzeichnet ist. Der „unbezahlbare“ Codex – Kardinal Lehmann musste sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um die fast unmögliche Ausleihe zu erreichen – hat allerdings Lücken in seinem Stammbaum:

„Er war einige Jahrhunderte im Besitz der Mainzer Dombibliothek, verschwand dann und tauchte später in Fulda wieder auf. Kaiser Rudolf II. hörte von dem märchenhaften Prachtstück und lieh sich die Handschrift im Jahre 1598 aus – sie verschwand in der Schatzkammer seiner Prager Burg. Dort fanden sie schwedische Truppen im 30jährigen Krieg – nächste Besitzerin wurde die Königin Christina, die zum katholischen Glauben übertrat und das wertvolle Stück dem Papst vererbte“ [Hock].

Seit wann also in Mainz? Und wie lange verschwunden?

Ort des Disputes: Münster

Hier wurde mit aller Kraft die Werbetrommel für die Ausstellung 805: Liudger wird Bischof. Spuren eines Heiligen zwischen York, Rom und Münster gerührt. So vertreibt der Museumsshop auch den originalen Liudger-Wacholderschnaps aus echten toskanischen Wacholderbeeren [Liudger].

Außerdem tobte eine kleine Schlacht um Münsters Ursprung, sind doch Werner Thiels Anmerkungen zu der ergebnislosen Grabung nicht nur in den Zeitensprüngen, sondern auch in einer Münsteraner Studentenzeitschrift gedruckt worden, was die dortigen Archäologen empörte. Sein Roman vom Schwert aus Pergament wird gerade in Münster und Greven viel gelesen, obwohl seine Darstellung vom Ablauf einer hochmittelalterlichen Vita-Erfindung allgemein europäischen Charakter hat.

Ort des Gedenkens: Reichenau + Silo de Carlomagno

Im Reichenauer Münster will man in den 30er Jahren das Geroldsgrab gefunden haben, also das Grab von Karls Schwager, Karls Fahnenträger, Karls Präfekten in Bayern, der am 1. 9. 799 vor den Awaren verblichen wäre. Für seine zeitweilige Ruhestätte sprechen nur Überlieferung und Größe des Grabes.

„Bei der Auftaktveranstaltung zum Themenjahr ‚Klosterinseln – Klosterspuren‘ wird das Grab erstmals für ein größeres Publikum geöffnet“ [Zoch]

– ein Vorhaben, dessen praktische Umsetzung zum Grübeln verleitet. Aktuelle Berichte über das Geschehen waren nicht aufzuspüren.

Aber die vermeintliche Grablege erinnert an eine wesentlich größere, am Jakobsweg in Spanien gelegene. Neben der bekannten Wallfahrtskirche von Roncesvalles im Valcarlos unterhalb der Rolandsbresche liegt die Gräberhalle „Silo de Carlomagno“. Sie ist letzte Ruhestätte für 18 Ritter Karls d. Gr. Sie fielen, als auch Roland fiel, im Abwehrkampf gegen die Basken. Nachdem 16 von 18 der Gräber Namensschilder tragen, ist die Überlieferung noch besser als im Falle der Reichenau. Da verschlägt es nicht, dass die Gedächtnishalle erst im 12./13. Jh. gebaut worden ist und das Rolandsgrab andernorts, in Blaye, gelegen haben soll. An die wohl älteste Gedenkstätte der Welt für Gefallene eines Feldzugs hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. erinnert, zeigt sie doch für ihn, „wie lang die Tradition ist, der im Kriegsdienst Gefallenen in besonderer Weise zu gedenken“ [Dose/Dersch].

Ort der Veralterungsfreude: Schattenhusen

Bei Büren im Kreis Paderborn wird die Siedlung Schattenhusen am Alten Hellweg ausgegraben. Die dort gefundene Keramik weist auf eine Gründung in die Karolingerzeit, ins 8. Jh. statt ins 10. Jh. „‚Die Menschen waren hier früher als vermutet‘, so Grabungsleiterin Sveva Gai“ [AiD]. Es geht hierbei um einen Weiler mit kaum mehr als fünf Höfen, der 500 Jahre lang bestanden haben soll. Die Keramik schreiben wir der Zeit vor und nach 614||911 zu.

Ort der massiven Täuschung: Schieder-Schwalenberg

Am Westhang des Kahlenberges in der Nähe von Schloss Schieder und der Burg Schwalenberg (Kreis Lippe) ist seit dem 19. Jh. die Befestigungsanlage Alt-Schieder immer wieder untersucht worden. In dieser Zeit wurde sie

„bereits für römisch, sächsisch, fränkisch und karolingisch gehalten. Dazu passt auch, dass bereits 822 eine Befestigungsanlage ‚Villa Schieder’ in einer Urkunde genannt wird“

Diese Umwallung steht nun beispielgebend für die erstaunliche Fähigkeit der Archäologen, ihre eigenen Befunde gegen den Strich zu interpretieren, um den Karolingern treu zu bleiben. Hören wir den Archäologen Kai Niederhöfer nach einer grammatikalisch verqueren Einleitung:

„Doch nachdem Niederhöfer die archäologischen Funde mit verfeinerten Bestimmungsmethoden die frühmittelalterliche und mittelalterliche Keramik untersucht hat, kommt er zu einer Datierung, die nicht zu dieser urkundlichen Erwähnung passt: ‚Die Hauptburg und die Kirche, die sich in ihrem Innenraum befunden hat, lassen sich ins frühe 11. bis 13. Jahrhundert datieren. Die Anlage ist also ottonisch und damit viel später entstanden als bisher gedacht. Die im 9. Jahrhundert genannte »Villa Schieder« verbirgt sich den neuen Untersuchungen nach wahrscheinlich in der Vorburg, die auf archäologischem Wege zeitlich nicht genauer zugeordnet werden kann‘, fasst Niederhöfer seine Ergebnisse zusammen“ [Lippe].

Der anonyme Schreiber dieser Zeilen fährt mit einem ebenso kühnen wie konsequenten „also“ fort:

„Also bestand in karolingischer Zeit (um 822) bereits ein eingefriedeter Wirtschafts- und Amtshof (Curtis) in Alt-Schieder, der ungefähr zwei Jahrhunderte später zu einer befestigten Siedlung, einer Civitas, ausgebaut wurde.“

Das hat der Schreiber offenbar Kai Niederhöfers Alt-Schieder-Führer in der Reihe Frühe Burgen in Westfalen entnommen, für den hier geworben wurde. So gesehen, werden die Karolinger noch ganz neue Evolutionen erleben. Je öfter etwas nicht gefunden wird, desto sicherer steht es für die Karolingerzeit!

Ort des Einhard: Seligenstadt

Kaum ein Ort in Deutschland ist stärker von einer karolingischen Person geprägt als Seligenstadt, wo man auf dem Stadtplan ununterbrochen über Einhard, seine Emma oder über die Karolinger stolpert (tradiert ist 828 Gründung eines Klosters und dann die Errichtung der Basilika). So gibt es auch eine Einhard-Stiftung, die Einhard-Arbeitsgemeinschaft und die Ordensbruderschaft vom „Steyffen Löffel zu Seligenstadt“. Zusammen riskierten sie die Probe aufs Exempel: Um die Frage: Liegt Einhard in seinem Sarkophag? beantworten zu können, ließen sie im Oktober 2004 die Grabruhe stören. Wie Prof. Franz-Friedrich Neubauer als Präsident der Einhard-Stiftung bei Verkündung der Ergebnisse betonte, wäre eine Umdatierung „eine Katastrophe für das Selbstverständnis der Stadt“ gewesen [es.]. Doch alles ging gut.

Im barocken Einhard-Sarkophag liegen seit 1722, wie man seit mindestens 1948 weiß, die Überreste dreier Personen: Ein unbeschriftetes Leinensäckchen enthält Teile eines männlichen und eines weiblichen Skeletts, die Aufschrift des zweiten Säckchens spricht von einer unbekannten „Domina Gisla“ [as.]. Die drei eingeschalteten Institute in Kiel, Frankfurt und Fürstenfeldbruck stellten nun fest: Es handelt sich um die Überreste eines Mannes, der 1,62 m groß, nicht verkrüppelt war und um 835 im Alter von etwa 70 Jahren gestorben ist. Einhard soll klein vom Wuchs gewesen und als ungefähr 80-Jähriger 840 in Seligenstadt gestorben sein. Ergo: „Nach Ansicht von Neubauer liegt damit eine ‘frappierende Übereinstimmung’ vor“ [es.].

Das Todesjahr der Frau wurde auf etwa 840 datiert; Emma soll um 836 gestorben sein. Irgendwelche DNA-Analysen waren nicht mehr möglich; die Leichen sind zunächst in der Erde bestattet worden, dann in einem Sandstein-Sarkophag und schließlich im 18. Jh. in dem Marmor-Sarkophag. „Neubauer hob hervor, nach menschlichem Ermessen gebe es keinen Zweifel daran, daß es sich um die Gebeine von Einhard und Imma handele.“ [es.]

Domina Gisla starb angeblich viel später, um 1025 im Alter von 70 Jahren. Warum sie in den Sarkophag gelegt wurde, ist ungeklärt.

So bleibt Seligenstadt nach menschlichem Ermessen weiterhin Einhardstadt, und die erst zehn Jahre alte Ordensbruderschaft kann weiterhin den „steyffen Löffel“ zum Willkommenstrunk reichen.

Ort des Feierns: Unteralting

Bayerns bescheidenste Gemeinde ist Grafrath mit seinem Ortsteil Unteralting. Dort rätselte man, wie alt der Ort nun wirklich sei. Denn gegründet sein muss Unteralting irgendwann im 6. oder 7. Jh., darauf scheinen Funde hinzudeuten. Allerdings: Die gesunde Skepsis kann 58 vorgeschichtliche Grabhügel ignorieren, sie kann eine Gründung im 6. Jh. favorisieren, aber sie kommt nicht an einer karolingischen Urkunde vorbei, die auf 804 verweist [Illig/Anwander 867]. Es kann sich aber auch um 805 oder die Jahre bis 810 handeln [Daschner 2005a]. Bevor es aber gar eine Höchstens-1200-Jahrfeier wird, fand Unteralting zu einer salomonischen Lösung:

„Es hat sich herausgestellt, dass wir mindestens 1200 Jahre alt sind […] Weil eine ‚Mindestens-1200-Jahrfeier‘ aber seltsam klingt, und weil der Unteraltinger an sich halt gerne feiert, traf man sich trotz der historischen Ungereimtheiten zum Festabend“ unter dem Motto: „Unteralting feiert seine 1200-jährige Geschichte“ [Daschner 2005b].

Na, dann noch einmal Prost!

Ort des Trinkens: Untersberg

Wenn die Not am größten ist, soll Kaiser Karl mit seinen Mannen aus dem Untersberg hervorbrechen, sie auf dem Walser Feld sammeln und in einer großen Endschlacht sein Reich erretten. Wie zufällig gibt es neuerdings in Wals bei Salzburg eine Firma namens Kaiser Karl, die „sagenhafte“ Alkoholika produziert: ein Pils und ein Weißbier, einen Hollerer, also einen Holunderschnaps und andere Köstlichkeiten mehr. Nun wird die Konkurrenz zu Münster und seinem Liudgerschnaps (s.o.) erdrückend werden. Aus redaktioneller Sicht liegt Wals eindeutig vorn, hat doch eine aufmerksame Abonnentin sogar ein Probebier spendiert.

Bocksgesang

Dem Alphabet folgend sind wir von der Tragödie mählich zum Bocksgesang übergewechselt. Hier, im Genre ‘Romanhafte Darstellung der mittelalterlichen Phantomzeit’ gibt es eine neue Teilnehmerin: Kathrin Lange mit dem Roman Jägerin der Zeit. Es geht unter anderem um einen

„gefährlichen byzantinischen Geheimbund. Dieser schreckt vor nichts zurück, um den wahren Grund für eine Kalenderreform zu verschleiern – ein Grund, den Theophanu kennt und dessen Bekanntgabe die mittelalterliche Welt aus den Angeln heben würde“,

so der Klappentext. Mit von der Partie, über die ich nichts verrate, sind Gerbert von Aurillac alias Silvester II., Otto III. und Konstantin VII. Dementsprechend üppig fiel mit eineinhalb Buchseiten die Danksagung an alle möglichen Menschen aus. Der Urheber der Phantomzeitthese fehlt freilich, ging es Lange doch um etwas anderes, das sie ans Ende ihres Nachwortes gestellt hat:

„Die Freiheit, mit der ich die Quellen ausgelegt habe, darf als Antwort auf die Frage dienen, wie die Autorin zur Theorie der erfundenen Jahrhunderte steht: Ich wollte eine Geschichte erzählen, kein Plädoyer halten für irgendeine These!“ [Lange 520]

Da darf ich mich dafür bedanken, dass mein grobes Material als Rohstoff für einen fein gesponnenen Roman zu gebrauchen war. Es freut mich auch, dass eine solche Veredlung schon zum zweiten Mal geglückt ist. Beim ersten Mal profitierte der Jahrtausendkaiser von Richard Dübell, der sogar angefragt hatte, ob er den ‘Plot’ für einen Roman nutzen könne, auch wenn die Danksagung dann wie bei Lange ausfiel.

Es scheint nun so zu sein, dass es für derartige Romane eine Vorschrift für den Auftakt gibt. Der eine Roman beginnt mit einer ersten, lapidaren Zeile:

„Der Mann stank.“

Danach Absatz, neue Zeile. Der andere Roman beginnt ebenso lapidar:

„Die Kaiserin sah bleich aus.“

Danach Absatz, neue Zeile.

Wer daraus auf das Geschlecht des/der Schreibenden schließen möchte, wird zum richtigen Ergebnis kommen, auch wenn er die beiden vertauschen sollte.

Ein solcher Artikel entsteht nur mit Hilfeleistung. Für ihre Wachsamkeit bedanke ich mich bei Günther Braun, Berthold Giese, Hugo Godschalk, Gunnar Heinsohn, Dieter Helbig, Hans-Ulrich Niemitz, Franz Siepe, Werner Thiel, Erik Weber, nicht zuletzt aber bei dem ‚anonymen Zeitenspringer‘, weil ich leider nicht immer den Absender eines Fundes notiere, ihn gelegentlich auch gar nicht erfahre.

Literatur

AiD = Siedlung 200 Jahre älter als angenommen. Landschaftsverband gräbt Schattenhusen aus; in: Archäologie in Deutschland, 4/2005, S. 41
Altötting = Wallfahrts- und Kulturkalender der Stadt Altötting zum Weltjugendtag 2005 (Broschur)
aro (2005): Stadtarchäologe. Aachen schreibt endlich eine Stelle aus; in: F.A.Z., 24. 11. 05
as. (2005): Nach Sarkophag-Öffnung: Vorstellung der Ergebnisse [in Seligenstadt]; in: F.A.Z. vom 29. 8. 05
AZ (2005) = Kurzbericht über Karolinger-Kahn in Krefeld; in: Aachener Zeitung, 4.5.05
Beer, Manuela (2005): Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert; Regensburg
Bösfeld = www.rem-mannheim.de/rem_ausstellungen/d5_tatort_boesfeld/index.html
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Daschner, Andreas (2005b): Unteraltings ”Mindestens-1200-Jahr-Feier“; in: Münchner Merkur, 27. 9. 05
– (2005a): Viel Eigenleistung erbracht [Unteralting]; in: Münchner Merkur, 11. 6. 05
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