von Detlef Suhr (überarbeitet aus Zeitensprünge 3/2012)
Wie und woran starb Karl der Große? Was geschah in jenem schicksalhaften Januar anno domini 814? Scheinbar eine simple Frage, denn es herrscht allgemeiner Konsens: Die zum Tod des größten Kaisers führende Erkrankung war eine Rippenfellentzündung, eine Pleuritis.
1. Die berühmteste Pleuritis der Geschichte
Es ist beinahe unglaublich, aber dennoch wahr: Es gibt für die schicksalhafte Erkrankung, die dem Leben des ersten und größten Kaisers des europäischen Mittelalters ein Ende setzte, nur eine einzige Quelle. Diese Quelle ist Einhard, der über die letzte Erkrankung Karls des Großen in Aachen berichtet:
„Im Januar wurde er dort während seines Winteraufenthaltes von hohem Fieber befallen und musste das Bett hüten. Er beschloss zu fasten, wie er es bei Fieber immer getan hatte, denn er glaubte, durch Enthaltsamkeit die Krankheit zu vertreiben oder wenigstens zu mildern.
Zu dem Fieber stellten sich Schmerzen in der Seite ein, die von den Griechen mit Pleuritis bezeichnet werden. Trotzdem bestand er darauf, weiterhin zu fasten, und stärkte sich nur ab und zu durch wenig Trinken. Er starb, nachdem er die heilige Kommunion erhalten hatte, am achtundzwanzigsten Januar in der dritten Stunde des Tages, sieben Tage nach seiner Erkrankung, im zweiundsiebzigsten Lebensjahre und seinem siebenundvierzigsten Regierungsjahr.“ [Einhard, 57]
Karl der Erste und Größte litt und starb also an einer Komplikation, einer Erkrankung „quem Greci pleuresin dicunt“ – „von den Griechen mit Pleuritis bezeichnet“. Das jedenfalls ist Einhards Diagnose. Einhard schrieb es, und seither schreibt es ein Autor vom anderen ab. Bis heute. Deshalb ist diese Pleuritis extrem wichtig für die Wahrheitsfindung bezüglich der Überlieferung Einhards. Hier drei Beispiele:
1. Felix Dahn [799]:
„Im Januar wurde er zu Aachen von heftigem Fieber ergriffen nach dem Bad. Wie er pflog bei Fieberanfällen, legte er sich sofort strenges Fasten auf, in der Meinung, durch solche Enthaltung die Krankheit, wie schon oft, vertreiben oder doch lindern zu können: nur ein wenig Wasser nahm er zur Erfrischung: aber die Schwäche nahm zu, Seitenschmerz, »welchen die Griechen ›Pleuresis‹ nennen« (Rippenfellentzündung), trat hinzu.“
2. Ernst W. Wies frohlockt: „Über Karls Tod und Sterben wissen wir gut Bescheid“, zitiert Einhards bekannte Passagen und fügt explizit den Begriff „Rippenfellentzündung“ hinzu:
„Zu dem Fieber stellten sich Schmerzen in der Seite ein, die von den Griechen mit Pleuritis (Rippenfellentzündung) bezeichnet werden“ [Wies, 8].
3. Dieter Hägermann [623] lobt den Hofchronisten:
„Während des sehr harten Winters von 813 auf 814 befiel ihn im Januar heftiges Fieber, vermutlich in Abwehr einer Lungenentzündung, die eine Rippenfellentzündung nach sich zog, eine Pleuritis, wie Einhart sachkundig und richtig bemerkt.“
Sind Einhards Einlassungen wirklich sachkundig und richtig? Woher stammt diese medizinische Weisheit, diese (für mittelalterliche Verhältnisse) unglaublich messerscharfe Diagnose? Dazu muss zunächst die Grundfrage geklärt werden:
2. Was ist eine Pleuritis?
Aus den Symptomen Fieber plus Brustkorbschmerzen kann man verschiedene Diagnosen ableiten: Bronchitis und Pneumonie (Lungenentzündung) sind die wahrscheinlichsten. An einer Pneumonie konnte man in der Vor-Antibiotika- Ära und kann man auch heute noch versterben. Aber eine Pleuritis?
Die Pleura, das »Brustfell«, ist eine hauchdünne Haut, die den Brustraum vollständig auskleidet. Ein Teil (Pleura pulmonalis) überzieht die Lungenoberfläche, der andere Teil (Pleura parietalis) die innere Brustkorbwand. Bei jeder Atembewegung gleiten beide Pleurateile im wahrsten Sinne des Wortes reibungslos aufeinander. Bei Entzündungen im Brustraum, Bronchitiden und Lungenentzündungen, reagiert die Pleura gelegentlich mit. Zunächst gibt es eine trockene Entzündung, die Pleuritis sicca. Die Pleurateile reiben dann aufeinander, was sich durch deutliche, atemabhängige Schmerzen bemerkbar macht.
3. Wie diagnostiziert man das Krankheitsbild?
Die Diagnose der Pleuritis stützt sich in erster Linie auf den Auskultations- (Abhör-)befund eben dieses Reibegeräusches. Es klingt, als rieben zwei Lederhäute aufeinander. Seitens der klinischen Untersuchung gilt: ohne Hörbefund des Pleurareibens keine Pleuritis.
Die uns heute geläufige Auskultationstechnik (indirekte Auskultation mittels Stethoskop) geht auf den Franzosen René Théophile Hyazinth Laennec (1781–1826) und das Jahr 1816 zurück [ Suhr, 120].
4. Konnte man in Westeuropa um 800 die Diagnose überhaupt stellen?
Würde man einfach in Ermangelung eines Stethoskops zur Karolingerzeit die Diagnose »Pleuritis« komplett verwerfen, wäre das tatsächlich ignorant und sachlich unzutreffend. Es gibt eine viel ältere klinische Untersuchungsmöglichkeit: die direkte Auskultation, das Legen des ärztlichen Ohres an die Brustkorbwand des Patienten. Diese Technik existierte schon lange vor Laennec. Laennec seinerseits, der des Griechischen hervorragend mächtig war, fand den entscheidenden Hinweis für seine bahnbrechende Entwicklung bei den antiken Griechen, wie er auch stets unumwunden eingeräumt hat.
Falls also ein fränkischer Arzt die Technik der Diagnostik (inklusive direkten Abhörens des Brustkorbes) beherrscht haben sollte, war dieser – niemand sonst – theoretisch in der Lage, die Diagnose einer Pleuritis zu stellen. Theoretisch!
Praktisch aber gab es im Frankenreich keine ärztliche Ausbildungsstätte, in der man Derartiges hätte erlernen können. Bis ins 10. Jh. hinein gab es im Frankenreich keine Ärzte von Bedeutung. Das zeigte sich deutlich, als Karl der Einfältige 904 einen Arzt aus Salerno kommen lassen musste.
In jenem Salerno entwickelte sich unter arabischem Einfluss bereits im 10. Jh. eine Medizinische Schule. Die
„Ärzteschule von Salerno ist eine rein weltliche Enklave inmitten der alleinherrschenden Klerikermedizin. Ihre Leiter und Lehrer sind verheiratet. Neben den männlichen unterrichten auch weibliche Professoren. Angehörigen jeder Nation und jedes Glaubensbekenntnisses sind ihre Tore geöffnet. Ihr Ursprung verliert sich im Gestrüpp von Legenden; doch wie jede Legende haben auch sie einen Zipfel der Wahrheit eingefangen“ [Hunke, 161; vgl. Illig, 127].
Die großen westeuropäischen medizinischen Fakultäten eröffneten erst im 12. Jahrhundert (Paris 1110, Bologna 1113, Oxford 1167 und Montpellier 1181).
Die erste europäische Ärzteordnung erlässt der sizilianische Normannenkönig Roger II., um 1140 [Stein, 487]. Die Berufsgruppe der Ärzte existiert in Westeuropa offiziell erst seit 1231, als an der medizinischen Fakultät in Salerno als erster medizinischen Fakultät in Westeuropa ein ärztliches Examen und eine ärztliche Berufserlaubnis eingeführt wurden. Als Erfinder des medizinischen Staatsexamens gilt der Barbarossa-Enkel Kaiser Friedrich II. Das heißt: Erst von diesem Zeitpunkt an gibt es im westlichen Europa Ärzte im heutigen Sinne [Suhr, 108]. Und weil das unbestreitbar so war, setzte ein Internet-Kommentator auf „Informationstransfer“ zwischen Konstantinopel und Aachen.
„Als wenn es keinen Wissenstransfer auch über große Distanzen gegeben hätte. Und als wenn es die Schriften des Isidor von Sevilla nicht gegeben hätte, der den fraglichen Begriff bereits einige Generationen vor Einhards Diagnose in die lateinische Literatur eingeführt hätte“ [altfried II].
Abgesehen davon, dass nicht Isidor den Begriff „Pleuritis“ prägte, müsste ein solcher Transfer im konkreten Fall erst einmal bewiesen werden. Der Transfer allein hätte auch nichts genutzt, denn eines unterscheidet die Medizin von allen theoretischen Wissenschaften: Man muss etwas nicht nur wissen (oder glauben zu wissen) – man muss es auch praktisch (anwenden) können. Insofern hätte dem Patienten Karl auch das Theoretisieren eines Isidor von Sevilla absolut nicht weiter geholfen.
5. Wer stellte die Diagnose und behandelte?
Was geschah, als es im Januar 814 um Leben und Tod des prominentesten Patienten seiner Zeit ging? Nichts!
Man mag es nicht für möglich halten: Es gibt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Therapiebemühungen, wie sie Griechen, Römer und Byzantiner bei einem derartig bedeutenden Patienten an den Tag gelegt hätten.
Wie wir bei Einhard lesen, behandelte der Patient sich selbst. Karl, der Patient, bestimmt die Therapie – von einem Arzt ist nie die Rede. Wir erfuhren bereits, welche Therapiestrategie Karl dabei verfolgte. Bei Fieber wenig trinken, nichts essen – mehr kann der Patient eigentlich nicht falsch machen. Verschlimmern könnte das Ganze höchstens noch ein schöner Ausritt bei minus 20 Grad in die verschneite Aachener Landschaft.
Wenn Einhard Karls Eigentherapiebemühungen schildert, gäbe es keinen logischen Grund, nicht auch professionelle Behandlung zu erwähnen. Aber kein Chronist bezeugt die Gegenwart eines Arztes am kaiserlichen Krankenbett. Da es keinen in der klinischen Untersuchungstechnik versierten Leibarzt gab, gab es auch definitiv niemanden, der die Diagnose stellen konnte.
Die einzige aktiv handelnde Person in Thegans Schilderung, die Hägermann [623] wiedergibt, ist Bischof Hildebold von Köln, der dem Patienten die Sterbesakramente erteilte.
Wo waren die Kräuter der Lorscher Rezepturen? Offenbar war keine einzige der durch die Chroniken geisternden Heilpflanzen zur Anwendung vorrätig. Es wird nichts darüber berichtet. Bei wem, wenn nicht beim Kaiser, konnte das medizinische Wissen der Zeit denn überhaupt angewendet werden?
6. Das Ende
So nahte in Aachen im Januar 814 AD unaufhaltsam das Ende. Nach einem Krankheitsverlauf von sechs Tagen und offensichtlicher Tatenlosigkeit seitens der Anwesenden verschlechterte sich der Allgemein- und Kräftezustand des Patienten erheblich.
Was genau passierte am siebten Tag? Gehen wir (wie alle Autoren seit über 1.000 Jahren) zunächst von der Pleuritis-Diagnose aus. Demnach müsste Folgendes geschehen sein:
Nach der trockenen Phase der Pleuritis folgt die feuchte Phase, in der es zu massiver Flüssigkeitsproduktion kommt, dem sogenannten Pleuraerguss, wie er auch im Rahmen einer schweren Lungenentzündung oder eines Linksherzversagens auftritt. Die Flüssigkeit sammelt sich im Brustraum und verdrängt das Lungengewebe.
Die unausweichliche Folge ist Atemnot, die (der Logik der Physik folgend) stark zunimmt, wenn der Patient sich flach hinlegt, weil die Flüssigkeit sich dann noch besser im Brustraum verteilt. Deshalb kann der Patient mit einem Brustraumerguss und/oder Flüssigkeit im Lungengewebe logischerweise nicht flach liegen. Was aber tat unser Patient Karl? Thegan schreibt:
„Als der Morgen des nächsten Tages anbrach, streckte er in vollem Bewusstsein dessen, was ihm bevorstand, die rechte Hand aus und machte mit letzter Kraft das Zeichen des heiligen Kreuzes auf die Stirn, über die Brust und den ganzen Körper.
Schließlich legte er die Füße zusammen, breitete Arme und Hände über den Körper aus, schloss die Augen und sang leise den Psalmvers: ›In Deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist.‹ Gleich darauf verschied er in Frieden, in hohem Alter und in Erfüllung seiner Tage.“ [Thegan, 187]
Das ist extrem beeindruckend! Fassen wir kurz zusammen: Ein todkranker Patient, der infolge seines schweren Leiden massive Luftnot haben müsste und daher, sofern er noch bei Bewusstsein ist, unmöglich flach liegen kann, tut genau dieses und singt auch noch, um gleich darauf im anzunehmenden Herzversagen zu versterben.
So stirbt man vielleicht in Hollywood. So stellt sich der Laie möglicherweise ein friedliches Ableben vor, doch so ist es nicht. Heute nicht und nicht vor 1.200 Jahren.
Sollte Thegans Schilderung auch nur annähernd der Realität entsprechen, schließt sie praktisch jede mit Flüssigkeitsbildung einhergehende Erkrankung im Brustkorb aus. Logischerweise ist demnach entweder Thegans Überlieferung falsch oder Einhards Diagnose [Suhr, 126 f.].
Woran könnte der Kaiser theoretisch gestorben sein? Welche Krankheitsbilder sind für einen Patienten im 72. Lebensjahr in der geschilderten Situation diskutabel?
- Lungenentzündung mit trockener Begleitpleuritis ( Der Patient kann flach liegen, solange es nicht zur Flüssigkeitsproduktion kommt.)
- Lungenembolie bei Thrombose ( infolge langem Liegen)
- Akuter Herztod infolge Herzinsuffizienz, Herzmuskel- oder Klappenentzündung und Rhythmuskomplikationen.
Das alles wäre möglich. Aber in allen diesen Fällen spricht etwas Fundamentales gegen Thegans Schilderung: Kein Patient erwartet seine unmittelbar bevorstehende Lungenembolie oder tödliche Rhythmuskomplikation singend. Und weil auch das unbestreitbar ist, versuchte man mit Hilfskonstruktionen den Heldentod zu begründen – so die Feststellung, Thegans Schilderung mag literarisch „überhöht“ sein:
„Dass Thegan die letzten Minuten Karls literarisch überhöht, dass auch Einhard diese Technik anwandte, dass sie zu den Stereotypen mittelalterlicher Literatur gehört, erst recht, wenn es um die Schilderungen von Heiligen und Wundern ging, bezieht Suhr in seine Überlegungen nicht mit ein“ [altfrid II].
Im Gegenteil. Eine gewisse literarische Übertreibung bezog ich durchaus in meine Überlegungen mit ein. Genau aus dieser Überlegung resultieren meine Zweifel an der Existenz Karls.
Denkt man sich nämlich gerade dieses Argument konsequent bis zum Ende, liegt der Schluss nahe: Wenn das Ende des Helden „literarisch überhöht“ ist, wieso dann nicht seine ganze Geschichte?
Es könnte ebenso die gesamte Karlsgeschichte „literarisch überhöht“ – sprich im Stil der Zeit erfunden – sein. Wenn die Schilderung der Todesumstände nicht stimmt, wenn die Diagnose nicht stimmt, was stimmt dann überhaupt? Dann braucht man auch anderen Details der Karlsgeschichte ebenso wenig Glauben zu schenken.
Ziehen wir zunächst das medizinische Fazit:
- Karl der Große starb gemäß Einhards Überlieferung an einer Krankheit bzw. Komplikation, die von den „Griechen“ mit „Pleuritis“ bezeichnet wurde.
- Es ist unklar, wer diese Diagnose stellte. Es ist unklar, wie diese Diagnose gestellt wurde.
- Es ist davon auszugehen, dass der wissenschaftliche Stand der Medizin im Frankenreich um 800 die Stellung dieser Diagnose nicht erlaubte.
- Einhard und Thegan erwähnen keinerlei medizinische Aktivität.
- Die seitens der Chronisten geschilderten Todesumstände sind medizinisch unsinnig. Thegans Schilderung schließt Einhards Diagnose praktisch aus.
Somit hält die überlieferte Geschichte von der Pleuritis Karls des Großen einer faktenorientierten medizinischen Betrachtung nicht stand und der Tod des ersten Kaisers Westeuropas ist damit ungeklärt.
Sind also Einhards Bemerkungen wirklich, wie Hägermann [623] schreibt, „sachkundig und richtig“? Für den Urkundentheoretiker vielleicht. Doch alles, was medizinisch fassbar ist, spricht dagegen. Man kann an Einhard höchstens glauben oder nicht. Aber Medizin ist keine Glaubensfrage.
Eigentlich könnte der Artikel an dieser Stelle zu Ende sein, denn die Fragwürdigkeit der Überlieferung Einhards ist hinreichend bewiesen. Aber es drängt sich eigentlich von selbst die logische Frage auf: Woher könnte Einhards Diagnose stammen? Wenn es keinen diagnostisch versierten Arzt gab, wenn niemand die Pleuritis- Diagnose stellte – wie kam diese Diagnose dann in Einhards Feder?
Ist alles nur erfunden? Alles nur ausgedacht? Unmöglich. Es ist leichter, zwanzig Urkunden zu fälschen, als eine reale Krankheit zu erfinden. Wurde die Pleuritis-Diagnose einfach abgeschrieben? Wenn ja: bei wem?
Eine Erklärungsmöglichkeit für die Quelle der Pleuritis Karls des Großen stammte aus dem Internet.
Internetdiskussionen unterscheiden sich stark von ‘normalen’ zwischenmenschlichen Debatten. Abgeduckt hinter ihrem Monitor, im Schutz der Anonymität des Web, meilenweit vom ‘Diskussionspartner’ entfernt und getarnt durch irgendwelche Alias-Namen lassen manche Zeitgenossen alle sprachlichen, sittlichen und moralischen Hemmungen fallen. Derartige Foren sind geeignet, bei einigen Menschen die finstere Seite ihrer Psyche an den Tag zu fördern, und es wird ungewollt deutlich, dass der eine oder andere User oder Kommentator der ärztlichen, mindestens aber der psychotherapeutischen Hilfe bedarf.
Erfreulicherweise findet man manchmal unter einem Berg von Verbalmüll ernstzunehmende Argumente und diskussionswürdige Probleme.
Ein/e etwas ungnädige/r Internetnutzer/in meinte wohl, den Stein von Einhards Weisheit ausgegraben zu haben und gab zu bedenken, der Begriff der „Pleuritis“ stamme aus der Feder des Isidor von Sevilla (Isidorus Hispalensis, ca. 560–636) und dessen Etymologiae (Originum seu etymologiarum libri XX).
„davon kann sich jeder überzeugen, der schon mal den Namen Isidor von Sevilla gehört hat […] nun ja, und vielleicht sogar weiß, daß der u.a. die berühmten ›Etymologiarum sive originum libri XX‹ verfaßt hat. Schaut man da nämlich in IV.6.8. nach, ist sofort klar, woher Einhard seine (vielleicht) laienmedizinische Diagnose über Karls Erkrankung herhat“ [fantomzeit1].
Der/die User/in ergänzte später: „Ich gebe gerne zu, selbst keinen blassen Schimmer zu haben, ob Einhards gegebene Diagnose das Richtige trifft –“ [fantomzeit2].
Das will ich gerne glauben. Der Einwurf, Isidors Einlassungen zum Thema „Pleuritis“ seien von mir in meinem Buch Zweifel – Gab es Karl den Großen wirklich? nicht ausreichend beachtet, berücksichtigt und gewürdigt worden, ist berechtigt. Dafür gibt es einen guten Grund: Isidor von Sevilla war weder Arzt noch Grieche. Einhard bezieht sich nicht auf Isidor, sondern auf „die Griechen“. Daher ist der „Lehrmeister Spaniens“ für unser Problem ohne Belang.
Oder wollte man vielleicht postulieren, die Pleuritis der Griechen sei etwas völlig anderes gewesen als die Pleuritis zur Zeit Karls des Großen und späterer Zeiten oder gar heute? Dazu müssen wir die Frage klären, was „die Griechen“ unter dem Begriff „Pleuritis“ verstanden. Das ist ohne Mühe durch einige Blicke in ein wirkliches Standardwerk, die Illustrierte Geschichte der Medizin möglich.
Es wird schnell klar: Bereits im -4. Jh. beherrschten die Ärzte der Schule von Knidos die Technik der direkten Auskultation.
„Das Horchen auf Geräusche im Körper wurde von den knidischen Ärzten übrigens ebenso beharrlich wie zuverlässig praktiziert. So konnten sie etwa einen Erguss im Pleuraraum genau lokalisieren, bevor sie einen Eingriff wagten. Der Kranke wurde dazu auf einem festen Sitz platziert. Ein Gehilfe hielt seine Hände fest. Der Arzt ergriff ihn bei den Schultern und versetzte ihm einen Stoß, wobei er das Ohr auf die Rippen legte, um den Hydrothorax zu erkennen.“ [Bourgey/Martiny, 324]
Im Traktat „Über die Krankheiten II“ der »Knidischen Sentenzen« las schon Laennec zum Thema „Lungenwassersucht“:
„Wenn sich eine Wassersucht in der Lunge herausbildet, so hat der Kranke Fieber und Husten. Der Atem ist beschleunigt. Die Füße schwellen an. Alle Nägel verkümmern. Wenn man das Ohr an die Brust legt und lange Zeit horcht, so gärt es darin wie Essig (Knisterrasseln)“ [Laennec, 324].
Perfekt. So und nicht anders klingt der entsprechende Hörbefund.
„In dem Traktat »Über die inneren Krankheiten« (Littré VII, 224-226) wird ferner der Hydrops des Pleuraraumes erwähnt. Zur Behandlung wird eine Durchtrennung der Rippe empfohlen. […]
Ein Hydrothorax wird durch »berstende Wasseransammlungen« hervorgerufen.“ [ebd. 325]
Auf Basis der physikalischen Untersuchung punktierten die Ärzte aus Knidos (mit Messern) Ergüsse im Brustkorbraum, die sie vorher auskultatorisch geortet hatten.
„Hier ist bereits der Tätigkeitsbereich des Chirurgen berührt, dessen Eingreifen bei vielen Krankheitszuständen entscheidende Bedeutung zukommt, man denke nur an die Entleerung von Eiteransammlungen. Nieren- und Pleurapunktionen werden häufig angewandt.“ [ebd. 326]
Es ist unbestreitbar: Wenn „die Griechen“ von „Pleuritis“ sprachen, dann meinten sie die Pleuritis – so, wie wir sie auch heute noch definieren.
Etwa 400 Jahre später schildert Aretaios von Kappadokien (80/81–130/138) im Anschluss an die klinische Symptomatik und Pathophysiologie der Lungenentzündung die Pleuritis:
„Wenn aber außerdem auch eine der sie [die Lunge; DS] umgebenden Häute entzündet ist, ist auch Schmerz damit verbunden; die Atmung ist beeinträchtigt, der Atem heiß; sie wollen in aufrechter Haltung sitzen, um atmen zu können; denn dies ist die bequemste Haltung; […] Die Extremitäten sind kalt; die Nägel sind bläulich verfärbt und gekrümmt; der Puls ist klein, sehr gedrängt, er setzt aus, wenn der Patient dem Tode nahe ist. Denn sie sterben in der Regel am siebten Tag“ [Aretaios von Kappadokien, in Kollesch/Nickel, 134].
Warum die Patienten am siebten Tag zwangsläufig sterben, bleibt das ewige Geheimnis des Aretaios von Kappadokien. Medizinisch ist das nicht begründet. Doch der Satz wird für spätere Überlegungen noch bedeutsam sein, denn er entlarvt eine mögliche Quelle „Einhards“: Am wievielten Tag seiner Krankheit starb Karl doch gleich? Der Ausflug in die antike Medizin gestattet folgendes Zwischenfazit:
- Die Griechen und Römer kannten die Anatomie des Brustkorbes, die Pleura, ihre Funktion und Erkrankungen.
- Sie spezifizierten das Krankheitsbild der Pleuritis exakt und wussten, wovon sie sprachen.
- Sie stellten die Diagnose mit und ohne Auskultation.
- Ihr Vorstellung vom Krankheitsbild war exakt die gleiche wie unsere heutige.
Alle anderen Überlegungen und Spekulationen, was wer wann und wie auch immer darunter verstanden haben könnte, sind damit ohne Belang. Einzig auf „die Griechen“ bezieht sich Einhard.
Warum ließ Einhard ‘seinen’ Karl ausgerechnet an einer Pleuritis versterben? Kein Herzkreislaufleiden, kein Tumorleiden, nicht einmal eine Lungenentzündung, keine ‘Schwindsucht’ (Tuberkulose), kein ‘Fieber’? Möglicherweise kam dem Chronisten Einhard, der vor der extrem anspruchsvollen Aufgabe stand, seinem literarischen Helden einen angemessenen Abgang in die Ewigkeit zu verschaffen, ihn quasi ‘kaiserlich’ ableben zu lassen, zu Ohren, woran mehrere Kaiser von Byzanz („die Griechen“) litten und starben, wenn sie nicht ermordet wurden: Pleuritis.
Einhard muss ein Vorbild gehabt haben. Fälscher besitzen immer Vorbilder und in unserem Fall könnte dieses Vorbild Michael Psellos (1018–1078) gewesen sein: Universalgelehrter, Staatssekretär, Erster Minister und Chronist in Konstantinopel.
Michael Psellos, der Kronzeuge für die Erkrankungen der Byzantinischen Kaiser von Basileios II. (reg. 976–1025) bis Isaak I. (reg. 1057–1059) liefert uns Staunenswertes, was unseren Blick weg von den glasklaren Fakten in die faszinierende Welt der Spekulation lenkt.
Wenn wir in die Chronographia des Michael Psellos blicken, finden wir praktisch alle Diagnosen und Krankheiten, die im Zusammenhang mit den Karolingern in Einhards Vita Caroli Magni (und den ihm mittlerweile aberkannten Reichsannalen) auftauchen. Um nicht zu weit abzugleiten, beschränken wir uns auf die beiden bedeutendsten aller Karolinger: Pippin den Kleinen und Karl den Großen.
- Die „Wassersucht“ Pippins I., die kardiale Dekompensation, die Herzleistungsschwäche, an der er auch am 24. September 768 in Paris starb [Einhard, 13], finden wir klinisch eindrucksvoll beschrieben bei Romanos III. Argyros (reg. 1028–1034). [Chronographia III, 26]
- Karl der Große litt an Arthritis/ Gicht/ Gelenkleiden [Einhard, 45]. Gelenkleiden suchten Konstantin VIII. (reg. 1025–1028) [Chronographia II, 7] heim, und Konstantin IX. (reg. 1042–1055) litt an der Gicht [Chronographia VI, 106]. Allerdings ist die Gicht in medizinischer Hinsicht kein besonders spezifisches Krankheitsbild, sondern stellt eine klassische Erkrankung der Oberschicht praktisch jeder vergangenen Gesellschaftsordnung dar, die aus den üppigen Essgewohnheiten derer, die sich das leisten konnten, resultiert. Bereits bei Augustus ist das Krankheitsbild nachgewiesen.
- Und schließlich finden wir auch die berühmte ‘Karl-der-Große-Pleuritis’. Bei zwei byzantinischen Kaisern des 11. Jh. ist diese dank Michael Psellos glaubhaft belegt. Zuerst traf es Konstantin IX. (reg. 1042–1055). Psellos beschreibt eindringlich das chronische Leiden des Kaisers, der offenbar an einer rheumatischen Arthritis mit schwersten Deformierungen der Finger, Kniegelenke und Füße litt. Zur Physiotherapie seines Rheumas nahm Konstantin regelmäßig mehrere Stunden am Tag im Manganenkloster Bäder (vergleiche Karls Bäder in Aachen!) .
Im Herbst 1054 scheint er (wie Norwich schreibt, der sich auf Michael Psellos stützt [Chronographia VI, 201 f.]) bei zunehmend kühler werdenden Außentemperaturen ein wenig zu lange im Wasser verweilt zu haben. Es folgte eine fieberhafte Erkrankung, die als „Pleuritis“ gedeutet wurde.
„In diesem Bad pflegte Konstantin IX. mehrere Stunden am Tag zu liegen, um seine chronischen Schmerzen etwas zu lindern. Und irgendwann im Herbst des Jahres 1054, als die Luft bereits etwas kühler geworden war, muß er sich zu lange im Wasser aufgehalten und sich eine Brustfellentzündung geholt haben. Zuerst schien er sich wieder zu erholen, doch dann begann sich sein Zustand rasch zu verschlechtern. Er siechte noch bis ins nächste Jahr dahin. Dann starb er am 11. Januar des Jahres 1055“ [Norwich, 407].
Der Nach-Nachfolger Konstantins IX., Kaiser Isaak I. Komnenos (reg. 1057–1059), litt ebenfalls an einer Pleuritis, hervorgegangen aus einem „Fieber“, das er sich auf der Jagd zugezogen hatte [Chronographia VII, 77]. Bei eben jenem Isaak I. finden wir in der Chronographia sogar fast das byzantinische Originalzitat „der Griechen“. Michael Psellos schreibt:
„Ich kehrte ziemlich früh am nächsten Morgen zurück. Kurz bevor ich die Türen erreichte, teilte mir jemand die alarmierenden Neuigkeiten mit: Der Kaiser litt an einem stechenden Schmerz in seiner Seite, seine Atmung war schwer und nicht sehr stark“ [Chronographia VII, 77].
Und wie wir wissen, ist dieses exakt das Phänomen, welches „die Griechen“ mit „Pleuritis“ bezeichneten. Was spricht dagegen, dass dieser Satz des Michael Psellos Einhard zu seiner Diagnose ‘inspirierte’? Mehr noch: Hatte Einhard womöglich auch noch bei Aretaios gelesen, die Patienten mit Lungen- und Bronchienleiden „sterben am siebten Tag“? [Aretaios von Kappadokien in Kollesch/Nickel, 134] Nach berechtigten Zweifeln an Einhards Diagnose haben wir einen begründeten Verdacht:
Gängige Meinung ist, als ‘Vorlage’ für die Vita Caroli Magni dienten Suetons Kaiserbiographien. Das ist sicher so gewesen. Als Vorlage für Karls Ende diente aber mit einiger Wahrscheinlichkeit die Chronographia des Michael Psellos (ergänzt durch das Werk des Aretaios von Kappadokien).
An irgendeinem Punkt, den wir noch nicht kennen, mit Sicherheit in einem Kloster (das wir auch noch nicht kennen), wahrscheinlich nach 1100 könnten sich die Wege von Exemplaren der drei Bücher gekreuzt haben. An diesem Punkt kann der Mensch vermutet werden, der sich hinter dem Pseudonym „Einhard“ verbarg.
Literatur
altfried II = http://forum.grenzwissen.de/showpost.php?p=160496&postcount=7409
Aretaios von Kappadokien (1979): Über Ursachen und Zeichen akuter Krankheiten, Buch II, Kap 1; in Kollesch, Jutta / Nickel, Diethard (Hg.): Antike Heilkunst; Leipzig
Astronomus (1995): Das Leben Kaiser Ludwigs / Vita Hludowici imperatoris. (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [64], hg. u. übers. v. Ernst Tremp, Hannover: Monumenta Germaniae Historica, Digitalisat)
Bourgey, Louis / Martiny, Marcel (1992): Hippokrates und die griechische Medizin des klassischen Zeitalters; in Toellner, Richard (Hg.): Illustrierte Geschichte der Medizin. Bd 1 (von 6 Bänden); Erlangen
Dahn, Felix (1899): Die Franken; Berlin (Reprint 1996 Phaidon Verlag, Essen)
Einhard (1986): Jahrbücher; Essen:
– (1995): Vita Karoli Magni. Das Leben Karls des Großen; Stuttgart
etymologiae = http://de.wikipedia.org/wiki/Etymologiae
fantomzeit1 = http://www.fantomzeit.de/?p=3355#comments (27. Februar 2011 um 23:34)
fantomzeit2 = http://www.fantomzeit.de/?p=3355#comments (3. März 2011 um 20:13)
Hägermann, Dieter (2000): Karl der Große, Herrscher des Abendlandes. Berlin
Hunke, Sigrid (1991): Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe; Frankfurt a. M.
Illig, Heribert (1992): Alles Null und richtig. Zum Verhältnis von arabischer und europäischer Kultur; Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 4 (4-5) 119-131
Norwich, John Julius (1998): Byzanz. Aufstieg und Fall eines Weltreichs. Auf dem Höhepunkt der Macht 800-1071, Düsseldorf · München
psellos = http://www.documentacatholicaomnia.eu/03d/1017-1078,_Michael_Psellos,_Chronographia,_EN.pdf
psellus = http://www.fordham.edu/halsall/basis/psellus-chronographia.asp
Stein, Werner (1987): Der große Kulturfahrplan; München
Suhr, Detlef (2010): Zweifel – Gab es Karl den Großen wirklich?; Jena
Thegan (Trevensis; 1995): Die Taten Kaiser Ludwigs / Gesta Hludowici imperatoris; Hannover
Wies, Ernst, W. (1986): Karl der Große. Kaiser und Heiliger. Esslingen · München
Vorbemerkung: Nachdem ich vom vorzeitigen Ableben Detlef Suhrs erfahren hatte, habe ich überlegt, ob es vertretbar sei, zu seiner These im Hinblick auf Einhards Vita Caroli magni noch einmal Stellung zu nehmen, der Dr. Suhr selber darauf nicht mehr antworten kann. Ich habe aber beschlossen es zu tun, da die Diskussion einer These über die Lebenszeit ihres Urhebers weitergefürt werden kann und sollte.
Da Detlef Suhr in seinen Artikel in den Zeitensprüngen auch mich zitiert hat, möchte ich dazu ein paar Worte sagen, um damit einige Stellen aufzuzeigen, an denen Dr. Suhrs Argumentation ins Leere läuft, da er wesentlich mediävistische Grundlagen nicht berücksichtigt hat, soweit ich das sehe.
So schreibt er:
„Es ist beinahe unglaublich, aber dennoch wahr: Es gibt für die schicksalhafte Erkrankung, die dem Leben des ersten und größten Kaisers des europäischen Mittelalters ein Ende setzte, nur eine einzige Quelle.“
Da möchte man fragen, warum das „beinahe unglaublich“ sei. Weiter schreibt er:
„Karl der Erste und Größte litt und starb also an einer Komplikation, einer Erkrankung „quem Greci pleuresin dicunt“ – „von den Griechen mit Pleuritis bezeichnet“. Das jedenfalls ist Einhards Diagnose. Einhard schrieb es, und seither schreibt es ein Autor vom anderen ab. Bis heute. Deshalb ist diese Pleuritis extrem wichtig für die Wahrheitsfindung bezüglich der Überlieferung Einhards“,
und kommt damit zu dem, was er für eines seiner zentralen Argumente hält, nämlich der Frage, ob Einhard überhaupt in der Lage gewesen wäre, eine Pleuritis zu diagnostizieren, bzw. ob die Diagnose falsch sei. Er formuliert deshalb die Frage:
„Wenn die Schilderung der Todesumstände nicht stimmt, wenn die Diagnose nicht stimmt, was stimmt dann überhaupt? Dann braucht man auch anderen Details der Karlsgeschichte ebenso wenig Glauben zu schenken.“
Diese Ansicht mag dem beruflichen Selbstverständnis geschuldete sein, aber die Korrektheit der Diagnose, die Einhard in seiner Vita Caroli Magni niederschrieb, war den Zeitgenossen wohl eher sekundär. Auch wenn es dem rezenten Arzt am Selbstwertgefühl kratzt, muss man fragen, warum den ma. Zeitgenossen dieser Punkt eigentlich „so wichtig“ gewesen sein sollte, zumal die wenigsten Menschen des Mittelalters überhaupt gewusst haben dürften, dass es so etwas wie eine Pleuritis gibt, bzw. dass sie, wenn sie das Pech hatten daran zu erkranken, von einer Pleuritis aus dem Leben befördert wurden.
Suhr stellt dann fest, dass Einhard nicht in der Lage gewesen sein könne, die Diagnose zu stellen, sondern besten Falls ein Arzt das hätte tun können. Da muss man ihm wohl zustimmen, da selbst in unserer Zeit die meisten Menschen – abgesehen von den Ärzten – dazu nicht in der Lage sein dürften.
Um seine oben geschilderten Zweifel zu untermauern, geht er dann auf einige Details der Beschreibung Einhards ein, die er für verdächtig hält. So mokiert er etwa:
„Was geschah, als es im Januar 814 um Leben und Tod des prominentesten Patienten seiner Zeit ging? Nichts!
Man mag es nicht für möglich halten: Es gibt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Therapiebemühungen (…)“
Was letztlich nicht überraschen kann, denn warum hätte Einhard diese auch beschreiben sollen? Sie hätten nichts zum Sinn seines Werkes beigetragen. Und diesen zu klären wäre eine Aufgabe, der sich Detlev Suhr noch hätte stellen müssen. Dann hätte er bemerken können, dass es sich bei Einhards Werk nicht um eine minutiöse Darstellung der letzten Stunden des Kaisers und ebenso wenig um ein wissenschaftliches Geschichtswerk in unserem heutigen Sinn handelt, welches die von Suhr geforderten Einzelheiten durchaus erwähnen müsste. Einhards Karlsvita gehört hingegen in den Bereich der Panegyrik, des Herrscherlobes also, die sich an antiken Vorbildern orientierte. Es ging ihm also darum, seinen Kaiser möglichst vollkommen darzustellen. Die Therapiebemühungen eines Arztes hätten da kaum zu beitragen können und können daher getrost unerwähnt bleiben. Damit ist auch Suhrs Frage beantwortet, die in seinem Aufsatz als nächste folgt:
„Wie wir bei Einhard lesen, behandelte der Patient sich selbst. Karl, der Patient, bestimmt die Therapie – von einem Arzt ist nie die Rede.“
Dass kein Arzt am Sterbelager und keine medizinische Bemühung erwähnt wird, ist den anderen mir bekannten Herrscher- und Heiligenviten übrigens allen zu eigen, Einhards Vita Caroli in dieser Hinsicht als kein Einzelfall, im Gegenteil, sie entspricht dem Gesamtbild. Was Herrn Suhr weiterhin irritiert ist seine Beobachtung, dass wohl Karls „Eigentherapie“ beschrieben wird, jedoch nicht die eines Arztes.:
„Wenn Einhard Karls Eigentherapiebemühungen schildert, gäbe es keinen logischen Grund, nicht auch professionelle Behandlung zu erwähnen.“
Doch, den Grund gibt es. Einhard wollte schließlich nicht die letzten Lebensstunden Karls korrekt darstellen. Er schreibt panegyrisch, das heißt, dass er Karl als guten Kaiser und Christenmensch darstellen musste. Und ein solcher guter Christenmensch, der ein gerechtes Leben gelebt hat und daher keine Furcht vor dem Jenseits haben muss (und dass Karl in Einhards Augen und denen seiner fränkischen Zeitgenossen ein solcher Mensch war, steht außer Frage), der kann den Tod in Bescheidenheit und Würde erwarten. Das (angebliche?) Fasten Karls ist als ein Zeichen solcher Demut und Würde zu sehen. Die Schilderung ärztlicher Therapiebemühungen würden da nur stören, zumal der Kampf um das Leben da bereits aufgeben war, der Kaiser sein Schicksal in Demut angenommen hatte und sich zuversichtlich in die Hände seines Schöpfers begab. Das jedenfalls soll Einhards Schilderung vermitteln, ganz im Einklang mit den Charakteristika der Panegyrik. Dazu gehört auch fast zwangsläufig die Schilderung, die wir bei Thegan finden, dass der Bischof von Köln dem Kranken die Sterbesakramente erteilt.
Womit Suhrs Frage:
„Wo waren die Kräuter der Lorscher Rezepturen? Offenbar war keine einzige der durch die Chroniken geisternden Heilpflanzen zur Anwendung vorrätig. Es wird nichts darüber berichtet. Bei wem, wenn nicht beim Kaiser, konnte das medizinische Wissen der Zeit denn überhaupt angewendet werden?“
ebenfalls hinreichend beantwortet ist, da Einhards Schilderung des Ablebens Karls des Großen nicht der Ort gewesen ist, solche Überlegungen anzustellen.
Alle weiteren weitere Unstimmigkeiten zwischen der Schilderung Thegans und Einhards sowie dem Verlauf einer Pleuritis und deren Auswirkungen, die Detlev Suhr dann aufzeigt, ergeben sich aus dem panegyrischen Topos:
„Was genau passierte am siebten Tag? Gehen wir (wie alle Autoren seit über 1.000 Jahren) zunächst von der Pleuritis-Diagnose aus. Demnach müsste Folgendes geschehen sein:
Nach der trockenen Phase der Pleuritis folgt die feuchte Phase, in der es zu massiver Flüssigkeitsproduktion kommt, dem sogenannten Pleuraerguss, wie er auch im Rahmen einer schweren Lungenentzündung oder eines Linksherzversagens auftritt. Die Flüssigkeit sammelt sich im Brustraum und verdrängt das Lungengewebe.
Die unausweichliche Folge ist Atemnot, die (der Logik der Physik folgend) stark zunimmt, wenn der Patient sich flach hinlegt, weil die Flüssigkeit sich dann noch besser im Brustraum verteilt. Deshalb kann der Patient mit einem Brustraumerguss und/oder Flüssigkeit im Lungengewebe logischerweise nicht flach liegen. Was aber tat unser Patient Karl? Thegan schreibt:
„Als der Morgen des nächsten Tages anbrach, streckte er in vollem Bewusstsein dessen, was ihm bevorstand, die rechte Hand aus und machte mit letzter Kraft das Zeichen des heiligen Kreuzes auf die Stirn, über die Brust und den ganzen Körper.
Schließlich legte er die Füße zusammen, breitete Arme und Hände über den Körper aus, schloss die Augen und sang leise den Psalmvers: ›In Deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist.‹ Gleich darauf verschied er in Frieden, in hohem Alter und in Erfüllung seiner Tage.“ [Thegan, 187]
Das ist extrem beeindruckend! Fassen wir kurz zusammen: Ein todkranker Patient, der infolge seines schweren Leiden massive Luftnot haben müsste und daher, sofern er noch bei Bewusstsein ist, unmöglich flach liegen kann, tut genau dieses und singt auch noch, um gleich darauf im anzunehmenden Herzversagen zu versterben.
So stirbt man vielleicht in Hollywood. So stellt sich der Laie möglicherweise ein friedliches Ableben vor, doch so ist es nicht. Heute nicht und nicht vor 1.200 Jahren.“
Nun möchte fast sagen: aber so stirbt man in der panegyrischen Überhöhung. Ein christlicher Kaiser wie Karl stirbt eben nicht lamentierend, röchelnd und wehklagend, sondern im Frieden mit der Welt und dem Herrn und diesem psalmodierend. Und Thegan lässt Karl nicht zufällig den genannten Psalm singen.
Detlef Suhr fährt dann fort:
„Das alles wäre möglich. Aber in allen diesen Fällen spricht etwas Fundamentales gegen Thegans Schilderung: Kein Patient erwartet seine unmittelbar bevorstehende Lungenembolie oder tödliche Rhythmuskomplikation singend. Und weil auch das unbestreitbar ist, versuchte man mit Hilfskonstruktionen den Heldentod zu begründen – so die Feststellung, Thegans Schilderung mag literarisch „überhöht“ sein:
„Dass Thegan die letzten Minuten Karls literarisch überhöht, dass auch Einhard diese Technik anwandte, dass sie zu den Stereotypen mittelalterlicher Literatur gehört, erst recht, wenn es um die Schilderungen von Heiligen und Wundern ging, bezieht Suhr in seine Überlegungen nicht mit ein“ [altfrid II].
Im Gegenteil. Eine gewisse literarische Übertreibung bezog ich durchaus in meine Überlegungen mit ein. Genau aus dieser Überlegung resultieren meine Zweifel an der Existenz Karls.
Denkt man sich nämlich gerade dieses Argument konsequent bis zum Ende, liegt der Schluss nahe: Wenn das Ende des Helden „literarisch überhöht“ ist, wieso dann nicht seine ganze Geschichte?
Es könnte ebenso die gesamte Karlsgeschichte „literarisch überhöht“ – sprich im Stil der Zeit erfunden – sein. „
Nein, das kann sie eben nicht, da es ja gerade ein Kennzeichen der Panegyrik ist, reale Begebenheiten überhöht darzustellen. Auch in anderen literarischen Genres des Mittelalters ist das üblich. Dies zu missachten heißt, die grundlegenden Regeln der mittelalterlichen Literatur misszuverstehen.
Detlev Suhr unterliegt damit weiterhin seinem Irrtum, den ich schon in meiner Rezension aufgezeigt habe, nach welchem er allein seine Vorstellungen und Ansprüche von und an die mittelalterlichen Texte zur Grundlage seines Urteils und seiner daraus resultierenden Schlussfolgerungen macht. Dass diese Schlussfolgerungen daher nur fehl gehen können, ist nicht überraschend, da Detlev Suhr die Intentionen der Texte, die er interpretierte schlicht ignorierte. Hingegen erwartete er Informationen und Beschreibungen, die diese Texte schon ihrer Natur nach weder liefern können noch wollen.
Sein „medizinisches Fazit“:
1. „Karl der Große starb gemäß Einhards Überlieferung an einer Krankheit bzw. Komplikation, die von den „Griechen“ mit „Pleuritis“ bezeichnet wurde.
2. Es ist unklar, wer diese Diagnose stellte. Es ist unklar, wie diese Diagnose gestellt wurde.
3. Es ist davon auszugehen, dass der wissenschaftliche Stand der Medizin im Frankenreich um 800 die Stellung dieser Diagnose nicht erlaubte.
4. Einhard und Thegan erwähnen keinerlei medizinische Aktivität.
5. Die seitens der Chronisten geschilderten Todesumstände sind medizinisch unsinnig. Thegans Schilderung schließt Einhards Diagnose praktisch aus.
Somit hält die überlieferte Geschichte von der Pleuritis Karls des Großen einer faktenorientierten medizinischen Betrachtung nicht stand und der Tod des ersten Kaisers Westeuropas ist damit ungeklärt.“
ist demnach bis auf den dritten Punkt sogar durchaus treffend, jedoch völlig belanglos.
Aber Detlev Suhr geht noch weiter, womit wir auf den dritten Punkt seines Fazits kommen. Ein Kern seiner Argumentation ist die Feststellung, dass Einhard nicht im 9. Jahrhundert geschrieben haben könne, da damals die notwendigen Informationen über die Krankheit, die er beschreibt, noch nicht im Frankenreich bekannt gewesen sein könnten. Nun ist uns aber bekannt, dass Isidor von Sevilla in seinen im frühem Mittelalter gern befragten Werken bereits einige Zeit vor Einhards Schriften den Begriff der „Pleuritis/Pleuresin“ kannte. Dass Einhard ihn daher hat, ist folglich eine wahrscheinliche Lösung der Frage nach Einhards Quellen.
Nun ist es fast schon kurios zu sehen, auf welche Weise Detlev Suhr versucht diese Tatsache – die seine gesamte Argumentation als fragwürdig entlarvt – auszuhebeln. Er schreibt:
„Der Einwurf, Isidors Einlassungen zum Thema „Pleuritis“ seien von mir in meinem Buch Zweifel – Gab es Karl den Großen wirklich? nicht ausreichend beachtet, berücksichtigt und gewürdigt worden, ist berechtigt. Dafür gibt es einen guten Grund: Isidor von Sevilla war weder Arzt noch Grieche. Einhard bezieht sich nicht auf Isidor, sondern auf „die Griechen“. Daher ist der „Lehrmeister Spaniens“ für unser Problem ohne Belang.“
Na, da muss man sich schon arg zusammenreißen, um sich ein kleines Kichern zu verkneifen. Allein aus der Beobachtung, dass Einhard die Krankheit als jene bezeichnet, die den Griechen unter dem Namen „Pleuritis“ bekannt sei, darauf zu kommen, dass er die Kenntnis nur von einem Griechen haben könne, ist nun wirklich abenteuerlich. Zumal ja bekannt ist, dass Karl selber antikes medizinisches Wissen sammeln und aufzeichnen ließ.
Jeden Falls konstruiert Detlev Suhr daraus einen geharnischten Fälschungsvorwurf gegen Einhard, wenn er fortfährt:
„Einhard muss ein Vorbild gehabt haben. Fälscher besitzen immer Vorbilder und in unserem Fall könnte dieses Vorbild Michael Psellos (1018–1078) gewesen sein: Universalgelehrter, Staatssekretär, Erster Minister und Chronist in Konstantinopel.“
(Es ist fast schon bezeichnend, dass Suhr Einhard hier schon als das bezeichnet, als was er ihn doch eigentlich erst entlarven will. Wenn das kein klassischer Zrikel ist.) Und so kommt Detlev Suhr zu dem Schluss:
„Gängige Meinung ist, als ‘Vorlage’ für die Vita Caroli Magni dienten Suetons Kaiserbiographien. Das ist sicher so gewesen. Als Vorlage für Karls Ende diente aber mit einiger Wahrscheinlichkeit die Chronographia des Michael Psellos (ergänzt durch das Werk des Aretaios von Kappadokien).
An irgendeinem Punkt, den wir noch nicht kennen, mit Sicherheit in einem Kloster (das wir auch noch nicht kennen), wahrscheinlich nach 1100 könnten sich die Wege von Exemplaren der drei Bücher gekreuzt haben. An diesem Punkt kann der Mensch vermutet werden, der sich hinter dem Pseudonym „Einhard“ verbarg.“
Dazu passt auch, dass er damit Einhards Werk mal eben als Fälschung bezeichnet, ohne auch nur den geringsten quellenkritischen oder paläographischen Ansatz, noch seine konkrete Intention bedacht zu haben.
Altfrid II. demonstriert, wie Mediävisten noch über den Tod eines Gegners hinaus darüber wachen, dass nichts in Umlauf gerät, was ihrer Sicht der Dinge widerspricht. Hier trifft es Detlef Suhr, der in einem launigen Aufsatz gezeigt hat, wie unterschiedlich mittelalterliche, mediävistische und heutige Wahrnehmung auseinander liegen können. Minutiös werden ihm angebliche Irrtümer vorgerechnet (während Altfrid II. durchaus Suhrs Vornamen mit “v” entstellt).
Das beginnt mit dem ersten Statement, wonach uns die zum Tode führende Krankheit Karls nur aus einer einzigen Quelle bekannt sei. Für Suhr ist es “beinahe unglaublich”, dass das Dahinscheiden des zum größten Kaiser der damaligen Zeit hochstilisierten Karl nur von einer einzigen Quelle berichtet wird. Altfrid II. reagiert verständnislos. Für ihn sind die meisten Geschehnisse jener Zeit nur aus einer einzigen Quelle bekannt; auch die meisten antiken Texte liegen uns dank der Karolinger nur in einer einzigen Ausfertigung vor. Da muss auch Einhard im Fall Karls die ‘Exklusivberichterstattungsrechte’ besitzen. Selbstverständlich könnten viel mehr Berichte vorliegen, von fränkischer, byzantinischer wie von islamischer Seite, die ja dem Kaiser sehr wohlwollend begegnet ist. Aber der Mediävist weiß, dass Äußerungen von der arabischen Seite ausschließlich in abendländischen Quellen überliefert sind. Deshalb erwartet er von dort auch keine Nachricht, vermutlich auch keine aus Byzanz, obwohl gerade dort das Ableben des ‘Konkurrenzkaisers’ mit großer Spannung verfolgt worden sein müsste.
Suhr hat mit seinem Aufsatz auch gezeigt, dass die panegyrische Beschreibung keine realistische ist. Auch das ist für den Mediävisten selbstverständlich. Deshalb Kritik dahingehend, dass er “allein seine Vorstellungen und Ansprüche von und an die mittelalterlichen Texte zur Grundlage seines Urteils und seiner daraus resultierenden Schlussfolgerungen macht”. Diese Kritik mag, was die Panegyrik angeht, zum Teil berechtigt sein; gleichwohl muss man nicht denselben Fehler begehen und allein die Vorstellungen und Ansprüche der Mediävistik an diese Texte berücksichtigen. Da sie sich nur ganz unzureichend mit dem gesamten Fälschungskomplex der frühmittelalterlichen Texte auseinandergesetzt hat, hat sie ihr Monopol auf Deutung dieser Texte verspielt. Sie hat die Aussagen der von ihr verwalteten Texte nicht dort mit den archäologischen Befunden abgeglichen, wo sie von den Archäologen bestätigt oder widerlegt werden können. Sie folgt lieber ihren Texten gut- , manchmal sogar leichtgläubig.
Den Begriff Pleuritis erwartet Altfrid II. auch an Karls Hof, weil “Karl selber antikes medizinisches Wissen sammeln und aufzeichnen ließ”. Ein Beweis dafür? Er kann kein einziges Produkt dieser Sammlung vorweisen; er hätte schon große Probleme, seinen Satz zu begründen, denn der von ihm verteidigte Einhard bringt ihn nicht. Dieser nennt andere Sammeltätigkeiten Karls, die sich ebenso wenig bestätigen lassen: weder die gesammelten Gesetzestexte aller beherrschten Stämmen, noch die alten Lieder noch die Grammatik seiner Muttersprache (und seine angeblichen Benennungen von Monaten und Winden zeigen nur, dass sie niemanden interessiert haben – ein negatives Sammelergebnis). Ein Mediävist muss das nicht weiter prüfen, weil es ja geschrieben steht. Ihm erscheint das logisch, anderen Wissenschaftlern nicht.
Er muss auch nicht prüfen, ob nun Einhard den Text des Isidors von Sevilla gekannt hat, der nicht wie Einhard (Kap. 30) von pleuresin, sondern von pleurisis spricht (IV: 8), weil es “eine wahrscheinliche Lösung der Frage nach Einhards Quellen” ist. Suhrs eigentliche Aussage, dass es sich bei Pleuritis um eine “kaiserliche Krankheit” handelt, die gerade im Sinne der Panegyrik, im von Altfrid II. so hervorgehobenen Herrscherlob genannt wird, damit der Tod des Kaisers dem Tod byzantinischer Kaiser entspricht, muss Altfrid II. ignorieren. Er kaschiert das, indem er Suhr einen “klassischen Zirkel” vorwirft, wenn er Einhard als Fälscher bezeichnet.
Auch hier haben sich die Wege längst getrennt. Ein Mediävist wird Einhard niemals als Fälscher bezeichnen, auch wenn seine Disziplin ihm Fehler über Fehler nachgewiesen hat – weil er über Kaiser Karl geschrieben hat. Für Chronologiekritiker ist er sehr wahrscheinlich ein Fälscher – weil er über Kaiser Karl geschrieben hat, wollte er doch Realität erfinden.
Bleiben wir bei diesem Einhard, der in seiner Einleitung schreibt, er könne nicht zulassen, dass Karls Leben keine schriftliche Würdigung erfahre – “ganz so, als hätte er nie existiert”.
Sehr geehrter Pantaleone,
ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen antworten soll, da Sie ja feststellten, dass sich „unsere Wege längst getrennt“ hätten. Ein wirklicher Diskussionswunsch oder gar Bedarf Ihrerseits scheint mir da eher nicht vorhanden. Dennoch haben ich mich zu einigen Anmerkungen entschlossen, zumal mir Ihre Ausführungen einen persönlichen Vorwurf zu enthalten scheinen.
Sie schreiben, ich wolle die Ansichten eines „Gegner(s)“ noch über dessen Tod hinaus am Umlauf hindern. Zunächst einmal war Herr Dr. Suhr für mich kein Gegner, genauso wenig, wie Sie das sind, Herr Illig oder sonst jemand mit dem ich diskutiere. Dr. Suhr vertrat in einer geschichtswissenschaftlichen Frage eine andere Ansicht als ich und hat diese Ansicht publiziert. Damit wurde er nicht zum „Gegner“, sondern zu jemandem, mit dem ich diskutieren wollte, denn wenn man neue Thesen publiziert, dann muss man damit rechnen, dass andere widersprechen möchten. Auch ich hätte gern mit ihm selbst darüber diskutiert, was sein bedauerlicher vorzeitiger Tod leider verhindert. Mein Bedauern darüber habe ich auch schon an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht. Aber darf eine These nicht mehr diskutiert werden, nur weil ihr Urheber verstorben ist? Dürfen wir deshalb etwa auch Rankes Ansichten zur Geschichtswissenschaft heute nicht mehr als überholt betrachten, nur weil Ranke tot ist? Und hat der Umstand des Ablebens von Dieter Hägermann Herrn Dr. Suhr davon abgehalten, sich kritisch über Hägermanns Karlsbiographie zu äußern? Nein, dieser Umstand hat ihn nicht davon abgehalten und dies zu recht, denn Kritik zu üben steht jedem zu (wenn auch Suhrs inhaltliche Kritik an Hägermann nach meiner Ansicht unbegründet ist).
Weshalb ich auch Ihre Ausführungen kritisch betrachten darf. Und es beginnt gleich mit einer kleinen Ungenauigkeit. Sie schreiben, dass vom „Dahinscheiden“ des großen Karl nur eine Quelle berichte. Das ist falsch und auch Dr. Suhr hat das nicht behauptet. Hingegen berichtet nur Einhard von der Krankheit, die zum Tod Karls führte. Aber das ist eine Kleinigkeit. Interessanter finde ich es da schon nachzufragen, wo ich behauptet hätte, dass für mich „die meisten Geschehnisse aus dieser Zeit“ nur aus einer einzigen Quelle bekannt seien.
Hingegen habe Sie recht, wenn Sie schreiben, dass auch Berichte aus anderen Kultrukreisen existent gewesen sein könnten. Auszuschließen ist das nicht. Allerdings liegen sie uns (bis jetzt) nicht vor. Entweder wurden sie nicht überliefert, oder sie wurden noch nicht gefunden, was aber für die Beurteilung von Einhards Werk sekundär ist. Und die Frage, warum das Fehlen solcher Äußerungen bei der grundsätzlich zufälligen Überlieferung zu Irritationen führen sollte, bleibt auch von Ihnen unbeantwortet.
Weiter schreiben Sie etwas von dem „Monopol der Deutung“, die die Mediävistik verloren hätte. Dazu kann ich nur sagen, dass weder die Mediävistik noch ich ein solches Monopol beanspruchen. Wenn man eine abweichende Deutung vornehmen will, so kann man das zu jeder Zeit tun. Es kommt allerdings auf die Begründung an, mit der man das tut. Und da hapert es bei Ihnen, denn Sie müssten zunächst nachweisen, dass alles, was wir bisher über die Panegyrik und ihre Eigenschaften wissen, unzureichend oder gar falsch ist, wenn Sie Dr. Suhrs Ausführungen zu Einhards Text unterstützen wollen.
Und über das bereits zu Karls Zeiten bekannte und tradierte antike Wissen im Bereich der Medizin unterrichtet schon Hägermann in seiner Karlsbiographie (die Seite ist mir gerade entfallen, mit etwas Geduld werden Sie die Stelle aber finden). Dass dies gerade mit der zweiten Hälfte des 8. Jh. besonders gefördert wurde, können Sie auch dem ersten Band des neuen Gebhardt (von Friedrich Prinz) entnehmen. Dort können Sie auch die weiterführende Literarur zum Thema finden, wenn Sie sich dazu weiter informieren möchten.
Und dass Einhard Isidors Schriften gekannt hat, ist tatsächlich nicht nachweisbar. Die von mir geäußerte Vermutung erscheint mir vor dem allgemeinen Hintergrund aber deutlich wahrscheinlicher, als die von Dr. Suhr implizierte Fälschungsthese, „kaiserliche“ Krankheit hin oder her.