von Heribert Illig (Zeitensprünge 1/2004)

Frohes Karlstreiben

Die Karlologie brummt vor Emsigkeit. Fangen wir bei unserem Bericht ganz oben an. Nicht bei Karls Schädeldecke, sondern noch weiter oben. Am 24. März geruhte der frühere Karol Wojtyla, einen Sonder-Karlspreis entgegen zu nehmen. Damit haben die Initiatioren dieses Polit-Events die Decke erreicht. Oder sollten sie nach dem Stellvertreter auch noch Gott selbdritt diesen Preis antragen? Es wird also von nun an mit dem Karlspreis bergab gehen. Die Absurdität ist ohnehin kaum überbietbar: Da ist ein “Staatsverbrecher katexochen” [Deschner 1994b, 68] von einem Gegenpapst heilig gesprochen worden, was Rom nie akzeptiert hat – und dann akzeptiert Papst Johannes Paul II. einen Preis, der diesen seltsamen Heiligen für ganz Europa im Wappen führt.

Am selben Tag wurde über diesen Karl hart diskutiert. Michael Borgolte [2004] erregte sich mit Kein Platz für Karl über den Nestor der Mediävistik, Jacques Le Goff, und dessen neues Buch über die Geburt Europas im Mittelalter. Denn Le Goff scheint den Kaiser vom Platz zu weisen:

“So verweigert er dem Kaisertum Karls des Großen seinen Platz in der europäischen Geschichte. Karls Unternehmen sei ein ‘fehlgeborenes Europa’, eine ‘nationalistische Tat’, der erste aller gescheiterten Versuche, ‘ein Europa unter der Herrschaft eines Staates oder eines Reiches zu bauen. Das Europa Karls V., das Europa Napoleons und das Europa Hitlers waren de facto antieuropäisch, und in den Bestrebungen Karls des Großen ist bereits etwas von diesen Plänen angelegt, die dem wahren Europagedanken widerstreben. Ein Essayist, der als Historiker ernstgenommen werden will, darf so nicht argumentieren, weil es nicht angeht, aus der Geschichte zu verbannen, was einem nicht gefällt.”

Borgolte kann hier als Historiker nicht mehr ernst genommen werden. Er scheint tatsächlich zu glauben, Le Goff habe – genauso wie der von Borgolte mit einem Schweigegebot geächtete Urheber dieser Zeilen – dem Überkarl seinen Platz in der Geschichte verweigert. Dabei bringt Le Goff nur eine andere Gewichtung von angeblicher Person und Leistung; er spricht sich dagegen aus, dass sich EU und Karlspreiskommittee auf einen “Krieger, Eroberer, Mörder und Räuber im größten Ausmaß” berufen [Deschner 1994a, 498].

Kein Wunder, dass die Forscher immer genauer wissen wollen, was da in Karls Hirn vorgegangen sein mag. Zu diesem Behufe wird derzeit Karls Schädeldecke untersucht, die in der Aachener “Karlsbüste” enthaltene Reliquie. Bald werden wir wissen, ob Schädelkalotte und die Knochen im Karlsschrein von demselben Menschen stammen. Dessen Statur ist immerhin bekannt: einst 1,82 m groß, stämmig, mit auffallend feinen, schlanken Händen [dpa 2004]. Das sollte Johannes Fried zu denken geben, der televisionär den Unsinn vertrat, wegen ständigen Schwertführens habe Karl nicht die Feinmotorik für den Schreibvorgang ausbilden können [vgl. Martin 100].

Die Zunft hielt in Washington D.C. das dritte Medieval History Seminar ab, bei dem entstehende und fertig gestellte Dissertationen diskutiert werden. Dabei wurde in Anwesenheit von Fried festgestellt, dass mehrere Geschichtswissenschaftler “ihre historiographischen Quellen konsequent als Fiktionen verstanden” [Feuchter]. Olaf Schneider zeigte

“in einer eingehenden Analyse der Überlieferungsschichten, wie das bei Erzbischof Hinkmar von Reims (9. Jh.) gegebene negative Bild eines angeblichen Doppelbischofs Milo des 8. Jhs. entstanden sein dürfte. In der Diskussion herrschte Übereinstimmung, daß das 9. Jh. mit derartig ‘gefälschten’ historischen Texten durchsetzt sei, die zutreffender als ‘fiktionale’ anzusprechen seien” [ebd.].

Markus Späth befasste sich mit dem

“‘neuen kulturellen Gedächtnis’, das sich die Abtei San Clemente a Casauria am Ende des 12. Jhs. zulegte und gleichsam multimedial in Skulptur, Architektur und Buch ausstellte, zudem in jedem Medium jeweils unter Verschränkung von Bild und Text. Die Diskussion kreiste besonders um die Frage, wie in der Chartularchronik von S. Clemente mithilfe von ‘alten’ Schriftbildern die Authentizität der enthaltenen Urkundenabschriften erzeugt wurde” [ebd.].

Weniger progressiv ging es in Rom zu, wo im Februar eine Gemeinschaftsveranstaltung des Istituto Italiano per il Medioevo und des Deutschen Historischen Instituts “Forschungsstand und Perspektiven der deutschen Mediävistik” vorstellten. Da wurde etwa lang und breit von Michael Matheus erläutert, dass eine Epochengrenze um 1500 nicht immer brauchbar und sinnhaft sei [Johrendt 2]. Progressiv gab sich Gerd Althoff mit seinem Vortrag: “Die deutsche Mittelalterforschung und der performative turn”. Dabei geht es um die Annahme, dass

“Phänomene der sozialen Wirklichkeit durch symbolisches Handeln nicht nur abgebildet, sondern überhaupt erst hervorgebracht werden” [ebd., 3].

Derartige Analyse lässt anhand ritueller Handlungen die Königsherrschaft in manchem Bereich in einem neuen Licht sehen. Wir sind gespannt.

Der öffentliche Vortrag von Rudolf Schieffer über “Die Erschließung der Quellen. Alte Probleme und neue Entwicklungen” bildete nicht nur den Abschluss der Tagung, sondern geradezu den Schwanengesang auf eine untergehende Disziplin. Denn die originale Urkunde verliert zunehmend an Wertschätzung, neue Editionen verstehen sich nicht mehr von selbst, sondern müssen erst legitimiert werden:

“’Sind wir, ungewollt zumindest, auf dem Weg zu einer historischen Mediävistik, die Quellen bloß noch aus gedruckten Büchern (bzw. deren elektronischen Derivaten) kennt und für ihre Debatten hinreichende Stimulanz in der aus den immer gleichen Quellen geschöpften Literatur zu finden glaubt?’

Insgesamt läuft die mediävistische Zunft zunehmend Gefahr, daß die kritische Aufbereitung eines Quellenbestandes immer mehr zu einer Sache hochgradiger Spezialisten wird, die am Rande und nicht im Zentrum der Fachwelt stehen. Wozu diese Tendenzen führen, sieht man an Fälschungsverdikten, die teilweise mit einer ‘ziemlich irritierenden Leichtfertigkeit’ gefällt werden” [Johrendt 7].

So wird der Präsident der Monumenta Germaniae Historica zitiert, der fassungslos zuschauen muss, wie er selbst mit seinem geballten Wissen (angeblich hat er sich für das frühe Mittelalter entschieden, weil er den gesamten einschlägigen Urkundenbestand selbst lesen konnte) aus dem Zentrum seiner Zunft gerät, die sich doch ein für allemal durch den direkten Blick auf das geliebte Pergament definieren sollte. Wehe, wehe – dereinst werden selbst Archäologen mitreden und die Quellen kritisieren dürfen …

Doch bis dahin ist der Weg noch weit, treibt doch Karl vielerorts und mannigfach sein Wesen. So feierte das Gymnasium Carolinum in Osnabrück im Januar sein 1200-jähriges Bestehen. Zwar glaubt niemand mehr der Urkunde von 804: zwar kann ein Schulleiter als Beweis für das Alter nur die “historische Rekonstruktion von Wahrscheinlichkeiten” anzubieten – aber wenn zwei überaus ehrwürdige Lehrstätten um das Eichenlaub wetteifern, dann rechtfertigen sie sich auch schon mal mit Karls Admonitio generalis von 789, wie der Osnabrücker Schulleiter Helmut Brandebusemeyer. Denn sonst bliebe seine Erziehungsanstalt auf immer sieben Jahr hinter dem Paulinum in Münster zurück [Loy]. Dabei weiß man in Osnabrück, dass die eigene Schule eigentlich noch ein Jahrzehnt älter ist, weshalb man sich in aller Bescheidenheit “Älteste Schule Deutschlands” nennt. Schließlich kann Münster nur einen Indizienbeweis für seine Gründung von 797 anführen und ist einmal umgezogen. In Osnabrück dagegen verweist man auf “die Beständigkeit des Ortes und die lückenlose Dauer in der Zeit” [Orzessek]. Das Schulmotto bezieht sich in jedem Fall auf die Admonitio: “das Fehlerhafte verbessern, das Unnütze beseitigen und das Richtige bekräftigen”. Ergo: Karl auf immer.

Mittlerweile hat Ihn auch die Betriebswirtschaft als großes Vorbild aus der Rubrik ‘Heilige’ erkannt. Sie weiß ganz genau:

“Karl beherrschte vollendet die Kunst der Menschenführung und Delegation. Der ganze Regierungsapparat bestand im wesentlichen aus wenigen Dutzend Fachleuten, die nach Kompetenz ausgewählt wurden und einen weiten Handlungsspielraum hatten. Der Kaiser vertraute seinen Mitarbeitern, belohnte Leistung und ging mit seinen Ratgebern bei Hofe fürsorglich um. Mit einem Wort, das Betriebsklima stimmte. […] Entscheidungen fielen zügig. Der Instanzenweg war kurz. Der Kaiser gab präzise ‘Anweisung, was alles am Tage getan oder den Beamten aufgetragen werden sollte.’” [Glogowski]

So muss es sein, wenn ein Heiliger das Staatsruder führt. Da stört dann auch nicht, dass die Herren mit dem “weiten Handlungsspielraum” täglich vom Kaiser präzise Anweisungen bekamen – also gewissermaßen mit der ganz langen Laufleine hart an der Kandare geführt wurden. Die Wirtschaft wird auch diesen Widerspruch in sich beherzigen. Das wird noch einfacher, wenn ein Rat befolgt wird, den Marie-Theres Fögen auf dem Brackweder Arbeitskreis für Mittelalterforschung (Bielefeld) erteilte:

“die humanistische Tradition, das Individuum mit seinen Intentionen und Handlungen, auf den methodischen Sperrmüll zu geben und stattdessen Evolutionstheorie zu studieren” [Jostmann].

Der Kommentar schlug in dieselbe Kerbe:

“Das einfache Schema der Geschichtsschreibung – etwas ist so, weil Menschen vorher dies oder jenes getan haben – überzeugt in den Nachbarwissenschaften schon lange nicht mehr. In der unübersichtlichen modernen Gesellschaft wirkt es naiv” [ebd.].

Bei solchen Tiefschlägen lohnt es, für die Mediävistik etwas Neues und ganz Handfestes nachzutragen. In Ingolstadt ist eine bronzene Gewandschließe aus der zweiten Hälfte des 8. Jhs. ausgegraben worden. Wie schon in Augsburg lockert der ersehnte Fund die bis dato korrekt geführte Zunge und lässt sie die bekannte Fundleere preisgeben [vgl. Illig/Anwander 125]:

“Damit hätten die Historiker den langersehnten Beweis gefunden, dass Ingolstadt der ‘Herrenhof’ des Königsgutes Karls des Großen war, teilte die Pressestelle der Stadt mit. Die Ausgrabungen bei der Moritzkirche galten als eine der letzten Möglichkeiten, dem alten Königsgut in der Altstadt auf die Spur zu kommen. […]

Die ersten Grabungen in der Altstadt begann das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege 1986. Obwohl die Untersuchungen wichtige Erkenntnisse zum spätmittelalterlichen Ingolstadt lieferten, fehlen bis heute die Hinweise auf die Zeit Karls des Großen. Die Qualität der nun gefundenen Gewandschließe weist darauf hin, dass ihr Besitzer der gehobenen Gesellschaftsschicht angehörte und somit auch Kontakte zum Königshof des Frankenreichs gehabt haben dürfte. Die Archäologen hoffen nun, bei weiteren Ausgrabungen auch Hinweise auf die Lage des Herrenhofes zu finden” [dpa 2003].

‘Knallhart’ wäre eine unpassende Verniedlichung für diese unbestechliche Art faktenorientierter Beweisführung.

P.M. ignoriert das Schweigegebot

Von altem Schrot und Korn ist die neue Erkenntnis von Matthias Becher, dass Karl der Große nicht 742, nicht 743 und schon gar nicht 747 geboren sei, wie Vita Karoli Magni oder Annales Petaviani widersprüchlich berichten. Er plädiert als erster für 748, wobei die Begründung erkennbar knirscht. Zwar wissen alle, die den Reichsannalen Glauben schenken und sie der ersten Hälfte des 9. Jhs. zuordnen, dass dort das Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag beginnt – doch Karls Geburt habe man nach einem an Ostern beginnenden Jahr gerechnet, weshalb sich die 747 in 748 wandeln. Gemäß Becher hätte der Überkaiser sein Riesenpensum in nicht einmal 66 Lebensjahren bewältigt. Das ist überwältigend [Bendl 67].

Die frohe Kunde findet sich in demselben P.M.-Themen-Heft über Leben im Mittelalter, das einen Artikel über die erfundenen Jahrhunderte bringt, die dem dortigen Titel nach bereits verschwunden sind. Es kommt die ganze Reihe der Gegner gebührend zu dem Wort, das sie eine ganze Zeitlang verloren hatte. An der Spitze ein vertrauter Name [Zitate Berndorff 88-91]:

“Johannes Fried, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt am Main, entrüstet sich: »Fast alles, was Illig behauptet, ist Schwachsinn.« Viele seiner Kolleginnen und Kollegen pflichten ihm bei. Ihre Kritik beginnt damit, dass Illig in seinen Büchern falsch oder ungenau zitiere. Zudem lasse er wichtige Geschichtswerke unbeachtet.”

Wir haben noch in Erinnerung, dass Fried 1995 als erster mein anstößiges Buch in die Diskussion gebracht hat [Fried 1996; vgl. Illig 1996b]. Damals schilderte er in ganzen Frage-Kaskaden, wie schwer meine Gedankengänge zu widerlegen seien, wenn man sie nicht als gefährliche, negative, illusionäre Phantasie abtue, wie er es dann getan hat. Nun schlägt seine jetzige, vernichtende Wertung sehr schnell auf seine eigenen, so mühsam von den meinen unterscheidbaren Gedanken zurück.

Und die werten KollegInnen haben meine Zitationen geprüft? Es gab einzig und allein die maßlose Erregung von Sven Schütte über eine verdruckte Jahreszahl im 22-seitigen Literaturverzeichnis des Erfundenen Mittelalters (s.u.). Apropos; Die von Berndorff anschließend beklagte falsche “Null” bei Beda Venerabilis ist im zweiten Buch richtig gestellt worden, während es die Gegenseit nicht wagt, auf die anderen Ungereimtheiten bei Beda einzugehen [vgl. Illig 1999a, 125 ff.].

Schieffer verteidigt Einhard, als hätte dieser Unterhaltungsliteratur für gelangweilte Ehefrauen schreiben müssen:

“Aber man darf diesen Quellen auch nicht unseren heutigen Ansprüchen gemäß eine korrekte Dokumentation abverlangen.” [Berndorff 88]

Dann wird er offensiv: Ihm fehlen Antworten zu Langobarden und Byzantinern, zur Ausbreitung der Slawen, zu der des Islam. Dass es sehr wohl Antworten zum Islam und erstmals eine Erklärung für das 300-jährige Dahindümpeln führungsloser Slawen gibt, hat er leider nicht gelesen.

Bei Berndorff gehen nun Fried, Dieter Hägermann und Schieffer auf die Fälschungen ein und bleiben dabei, dass

“wir mit absoluter Sicherheit Originaldokumente aus der angeblichen Phantomzeit identifiziert [haben], zum Beispiel von der Frankfurter Pfalz”.

Wie lange mag die absolute Sicherheit noch halten, wenn Kölzer mit der Prüfung beginnt? Die fehlenden Steine aus Frankfurt kann der Archäologie Harald Koschik zwar nicht motivieren. Er vermisst auch wegen der Christianisierung Grabfunde.

“Dennoch haben wir zum Beispiel bei Ingelheim eine Fülle von karolingischen Funden, wie etwa Münzen gemacht, zudem Pfalzen, Klöster und Kirchen in ganz Mitteleuropa ausgegraben” [Berndorff 89].

Wir erinnern uns an den einzigartigen “karolingischen” Aquädukt und die einzige Münze von Ingelheim, jenen rätselhaften Golddenar [vgl. Illig/Lelarge 2001]; wir erinnern uns daran, dass kein einziges karolingisches Kloster ausgegraben worden ist, sondern nur der fiktive Plan von St. Gallen vorliegt [vgl. Hoffmann 1995]. In der Kreisstadt Erding habe ich kürzlich darauf hingewiesen, dass auch in diesem vielleicht pfalzreichsten Landkreis der Bundesrepublik kein einziger Stein einer Pfalz gefunden worden ist, genauso wenig wie von all den anderen agilolfingischen und karolinigischen Pfalzen Bayerns [vgl. Illig/ Anwander 2002, 99-103].

Sven Schütte ersetzt sämtliche Pfalzen, indem er ein kleines Beil mit gezähnter Schneide präsentiert, das “die Ottonen nicht mehr benutzten”, und reklamiert eine angebliche Sensation [Bernsdorff 89]:

“Niemand weiß, ob die Kuppel [des Aachener Oktogons] tatsächlich massiv ist, weil bislang keiner ins Innere des Steins geschaut hat. Darum kann sie sehr wohl nach byzantinischer Art, nämlich hohl gewölbt sein.”

Eine lächerliche Aussage für einen Archäologen und Bauhistoriker, der seit Jahren im Aachener Dom arbeitet. Kennt er nicht einmal die aktuelle Untersuchung des Oktogons mit indirektem Radarverfahren? Sie ist 2002 von Gabriele Patitz und Bernhard Illich publiziert wurden, also kein Geheimpapier. Damals hat man eine relativ homogen gemauerte Kuppel aus grobem Gestein und sogar Steinlagestörungen an zwei Stellen der Kuppel festgestellt [Patitz/ Illich; vgl. Illig 2003, 398]. Gewollt naiv imaginiert Schütte eine byzantinische Kuppel oder sogar eine Kombiwölbung – außen Stein, innen byzantinische Tonhohlkörper – die den einzigartigen Bau zu einer Steigerung von Singularität machen würden, da nirgends sonst so etwas gebaut worden ist. Diesem Mann fehlt einfach das Fachwissen. So wurde er im Jahr 2000/01 von Michael Toch gerügt, weil er “per Zirkelschluß eine sonst nicht nachweisbare Kontinuität jüdischen Lebens in Köln postuliert” habe. Dies geschah durch die “reine Behauptung” einer

“angeblich seit dem 4. Jahrhundert und kontinuierlich über die Merowingerzeit bestehende[n], in der Karolingerzeit dann neu aufgebaute[n] Prachtsynagoge, um die sich auch noch ein ganzes ‘jüdisches Viertel’ gebildet haben soll” [Toch 2001, 12 f].

Wenn es bei Bernsdorff [89] gleich weitergeht mit Dendrochronologie und den Brettern des “Aachener Karlsthron”, dann darf neuerlich an Schütte und seine überaus prompte Erfindung des “Karlsthrons” für die Ausstellung “Krönungen” in Aachen, anno 2000, gedacht werden, den ‘böse’ Dendrochronologen wie E. Hollstein und B. Becker rund dreißig Jahre zuvor zum Ottothron degradiert hatten:

“Zur Sicherheit waren an dieser Untersuchung mehrere Analytiker, Dendrochronologen und Radiokohlenstoff-Forscher beteiligt. Statistiker rüttelten die Kurven – und siehe da: Der große Karl darf wieder Platz nehmen” [Schütte 2001; vgl. Illig 2001].

Skeptiker können sich dieses Rütteln und Schütteln vorstellen. Deswegen erwarten alle am Aachener Dom Interessierten Schüttes Monographie über den Aachener Thron. Sie ist seit Frühjahr 2000, also seit vier Jahren angekündigt, aber nicht erschienen, wie nicht nur in Aachen beklagt wird [Georgi 2004, 120]. Schütte hat mir allen Ernstes bei meinem Vortrag in Köln vorgeworfen (12. 4. 2000 [vgl. Illig 2000b, 476-480]), seine Arbeiten zum Thron zu ignorieren. Als ich ehrlich bekannte, dass sie mir unbekannt seien, teilte er der erstaunten Corona mit, dass sie in wenigen Monaten erscheinen würden. Es blieb bis heute beim Konjunktiv. Insofern wird es nun Zeit, auf die Rolle hinzuweisen, die jener Kölner Lokalmatador spielt. Die damalige Veranstaltung war ein nur teilweise geglücktes Ränkespiel. Zwar fiel Moderator Johannes Lehmann zu meinem Vortrag lediglich viermal die gleiche Frage nach dem Sinn von Grundlagenforschung ein (‘Was nützt uns, was Sie im frühen Mittelalter erforschen?’), aber dann ließ er dem anonym bleibenden Schütte alle Zeit der Welt für seine wütenden Invektiven. Doch die anschließende Veröffentlichung des ‘Skandals’ hat nicht geklappt. Denn der Kölner Stadtanzeiger war zwar vertreten, bedauerte aber vorab, keinen Platz für die Vortragsankündigung gefunden zu haben; danach berichtete er nichts über die ‘Schütte-Show’. Daraufhin brachte Schütte seine Version beim vielleicht härtesten Beschimpfer der Phantomzeitthese auf die home-page, ein für einen Wissenschaftler und Forscher eher peinlicher Schritt.

Mehr Aufmerksamkeit als dieses üble Rütteln und Schütteln darf in dem P.M.-Themenheft neben Burghart Schmidt der Dendrochronologe Mike Baillie aus Belfast erwarten, der seit Jahren das frühe Mittelalter mit Baumringen verteidigt:

“Jahresring-Chronologien verschiedenster Regionen in Deutschland, Irland, England, Holland, Frankreich und den USA, datiert von verschiedenen Forschern, zeigen bis in die Römerzeit zurück völlige Deckungsgleichheit. Da bekommt man nicht einmal eine Phantomzeit von wenigen Jahren unter” [Bernsdorff 89].

Wenn dem wirklich so wäre, bräuchte es die verschiedenen Jahresring-Chronologien gar nicht. Ursprünglich glaubten ja die Dendrochronologen, mit der Standardsequenz für die kalifornische Borstenkiefer läge bereits ein weltweiter Maßstab vor. Erst als sich zeigte, dass diese Sequenz in Europa nicht weiterhilft, wurden und werden hier immer neue Eichensequenzen für immer kleinere Regionen erstellt, um weitere Hölzer leidlich befriedigend datieren zu können.

Fried äußert in dem P.M.-Heft einmal mehr die obsolete Meinung, es genüge, dass Gregor XIII. 1582 seine Reform auf das Konzil von Nicäa, 325, bezogen habe [vgl. Illig 1999b, 619 f]. Natürlich steht das in der Bulle von 1582, stimmt aber trotzdem nicht. Weil ich Cäsars Reform mit guten Gründen präferiere [vgl. Illig 2000a, 142-145], giftet er: “Doch das stimmt nicht, und Illig weiß das genau.” Da er alle einschlägigen Hefte der Zeitensprünge bekommt, könnte Fried genau wissen, dass Gregor-Nicäa nicht trägt. Vielleicht wird er wenigstens den Artikel von Werner Frank im kommenden Heft lesen, der diesen Tatbestand noch besser ausleuchten wird.

Schwach besetzt ist bei diesem ‘Anti-Phantomzeit-Forum’ die Archäoastronomie. Franz Krojer gesteht zu, dass sein Buch gescheitert ist: “Den unumstößlichen mathematischen Gegenbeweis gibt es nicht” [Bernsdorff 89]. Er akzeptiert nun wie Dieter B. Herrmann meine Argumentation, dass die historischen Quellen oft unpräzise Angaben machen, die Kometen nicht identifizierbar sind und über 200 von rund 250 in der Antike erwähnten Sonnenfinsternisse “zeitlich und räumlich ungenau oder falsch beschrieben sind”. Gleichwohl ist sich Herrmann immer noch sicher:

“Illigs These bietet die mit Abstand unwahrscheinlichste Erklärung für die Widersprüche in den geschichtlichen Quellen.”

Außerdem gebe es

“in der Astronomie genügend Beispiele, die unsere gewohnte Zeitrechnung und damit die Existenz des frühen Mittelalters bestätigen.” [beides Bernsdorff 89].

Irgendwann wird er sie preisgeben; die Hoffnung währt. Doch wir erinnern uns, dass Herrmann in fünf von sechs Anläufen mit seiner Beweisführung gescheitert ist und dass von all seinen Argumenten allein zwei Sonnenfinsternisdaten eines Bischofs Hydatius Bestand haben; allerdings sind sie in einen unwahrscheinlichen Kontext eingebettet [vgl. Illig 2000c, 677 f.]. Berndorff [89] weiß von all diesen Auseinandersetzungen nichts und schließt deshalb mit der Quintessenz:

“So scheint die Last der Indizien letztlich gegen die Phantomzeit zu sprechen. Heribert Illig bleibt trotzdem bei seiner These. Doch wenn er seine Kontrahenten überzeugen will, muss er wohl zunächst einmal deren Gegenargumente widerlegen.

Seit 1996 beschäftige ich mich mit der Vorstellung neuer Fakten genau so wie mit der Widerlegung aller Gegenargumente, wie schon die Literaturliste zu diesem Artikel beweist. Der Schwarze Peter liegt bei der Gegenseite, die sich allenfalls dann mit all diesen Fakten und Widerlegungen ein wenig auseinandersetzt, wenn sie von einem Journalisten dazu ‘gezwungen’ wird. Wo wäre auch nur eine Aussage zur Fundarmut in Bayern und damit pars pro toto in der gesamten Alten Welt? Vor eineinhalb Jahren vorgestellt, hütet sich die gesamte Zunft, einschließlich des hier befragten Harald Koschik, Leiter des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege, irgendeine Stellung zu beziehen – die Ausnahme von der Regel bildete Schieffer mit der paradoxen Begründung seines Schweigens (‘lieber blamiert als geantwortet’) [vgl. Illig 2003a, 399].

Aber das ist alles Vergangenheit. Wer diesen Heft liest, wird feststellen, dass die wesentlichen Momente der Phantomzeittheorie akzeptiert werden, nämlich Beseitigung archäologischer Lücken durch Kalenderverschiebung und Zeitensprungrechnungen von 300 Jahren im Mittelalter! In Verbindung mit der Einschätzung immer weiterer Urkunden als fiktional reicht dies aus, um in den nächsten Jahren ein völlig neues Bild von Mittelalter, Antike und Vorzeit entstehen zu lassen. Noch stehen die Schieffers und ihre aus Pergament geschnittenen Kulissen; doch eines Tages werden sie abgeräumt und dahinter wird das neue, offiziell akzeptierte Bild sichtbar werden.

Apokalyptisches Nachklappen

Eine schon fast versunkene Argumentation ist jetzt in einem Sammelband erschienen. Auf dem Apokalypse-Kongress, 2000 in Passau, sprach Thomas Frenz über mittelalterliche Berechnungen des Termins von Weltende und Weltgericht. Beim Vortrag nannte er nur einen Bezug zu meinen Gedanken (“die Zahl 297 haben wir heute schon einmal gehört”), doch diese Zahl taucht in der Druckfassung nicht mehr auf, dafür enthält sie nun zwei Argumente gegen die Phantomzeit. Zum ersten befand er [Frenz 113]:

“Da Gott selbst also der Schöpfer der Zeit ist, reiht sich jeder, die die Zeit zu manipulieren versucht, unter die Gegner Gottes ein und demaskiert sich als Vorläufer des Antichristen. Schon von daher käme also kein mittelalterlicher Herrscher auf die Idee, die Jahreszählung zu verändern. [Dazu Fn. 3:] Diese Bemerkung richtet sich selbstverständlich gegen die Thesen von Illig (vgl. seinen Beitrag oben und die Widerlegung durch Wurster). Sie bildet zwar an dieser Stelle keinen stringenten Beweis, verweist aber auf den grundsätzlichen Argumentationsfehler Illigs, dem Mittelalter moderne Denkweise zu unterstellen.”

Der Einfachheit halber steht noch auf derselben Seite Frenz’ eigenes Gegenargument.

“Und auch im Mittelalter hat man sich nicht mit dem Verbot des Evangeliums [nach dem Zeitpunkt des Weltendes zu fragen; HI] zufrieden gegeben. Die direkte Ermittlung des Weltuntergangstermins war zwar unzulässig, aber vielleicht ließ sich das Ziel auf indirektem Wege erreichen [Auf dem Umweg über das Alter der Schöpfung und die sieben Welttage; HI]. Natürlich ist das der Versuch, Gott übers Ohr zu hauen” [Frenz 113].

Was wäre also modern gedacht, wenn der Kaiser glaubt, dem Willen Christi zu entsprechen und zur rechten Zeit als sein irdischer Statthalter aufzutreten? Das würde kein Moderner denken, wohl aber ein mittelalterlicher Mensch. Zum Beispiel auch und gerade Joachim von Fiore, dessen Endzeitberechnung Frenz vorgestellt hat. Von diesem Abt des kalabrischen Kloster S. Giovanni in Fiore wissen wir, dass er den Anbeginn des (dritten) Reiches, Zeitalters oder Status des Heiligen Geistes aufs Jahr genau prognostizierte. Dies bewerkstelligte er durch eine Parallelbetrachtung von Altem und Neuem Testament, bei der jeweils zwei Personen analog gesetzt wurden: Adam entspricht Christus (1. Generation), David dem Kaiser Konstantin (12. Generation), Antiochus Epiphanes dem Kaiser Heinrich IV. und so fort. Dabei setzt er für das Alte Testament die tradierten Lebensdaten, für das Neue Testament jede Generation mit 30 Jahren an.

Die 25. Generation bildet König Ezechias (Hiskija), dem Gott nach Intervention durch Jesaja bei schwerer Krankheit 15 Jahre über die Zeit schenkte; bekräftigt wurde das Geschenk durch den Schatten, den Gott am Hochaltar 10 Stufen nicht abwärts-, sondern zurücklaufen ließ [2Kön 20]. Dem nur bedingt entsprechend, fügte Joachim zehn zusätzliche Generationen ein, also 300 Jahre, die für die Zeit von 750 bis 1050 stehen. Nur mit diesem Trick blieb er im Einklang mit dem AT, das 42 Generationen von Abraham bis Christus kennt. 42 Generationen à 30 Jahre ergeben für die Zeit nach Christus das Jahr 1260 als Status des Hl. Geistes, vor dem die Christen nach Joachims Tod (1202) zitterten.

Wie Frenz diesen Vorgang – den Einschub von 300 Jahren in die frühmittelalterliche Geschichte! – schildern und zugleich kritisieren kann, dass ein Einschub von 297 Jahren dem mittelalterlichen Denken zuwiderlaufe, bleibt sein Geheimnis.

Als zweiten Einwand weist Frenz auf den Zeitunterschied zwischen Vulgata – 1.946 Jahre von Adam bis Abraham – und Septuaginta bzw. Vetus Latina hin, die 3.312 Jahre für dieselbe Zeitspanne verzeichnen. Bei dieser Rechnung “ergibt sich ein Schöpfungsdatum 5198 vor und ein Weltgerichtsdatum 802 nach Christi Geburt” [Frenz 116]. Die zugehörige Fußnote lautet:

“Also nicht 800 oder 801. Damit wird auch Illigs These hinfällig, das Fälscherduo Otto III./Silvester II. habe die Kaiserkrönung Karls des Großen auf den Beginn des 7. Jahrtausends plaziert.”

Doch nur ein paar Zeilen später erledigt Frenz auch seinen zweiten Einwand. Denn es gab damals zwei heilige Sprachen: Hebräisch und Griechisch und deshalb zwei Wahrheiten: veritas hebraica und veritas graeca.

“Andere Autoren kommen zu noch anderen Daten. Damit ist aber unser Versuch gescheitert, das Weltende zu berechnen”. [ebd.]

Ich habe mir die auf 800/01 lautende Rechnung nicht ausgedacht, sondern bei verschiedenen Autoren gefunden, ob bei Arno Borst, Claude Carozzi oder Benno Krusch [Illig 1999a, 132-139]. Borst bezieht sich u.a. auf Victorius von Aquitanien, einen Nachfolger des Hl. Hieronymus und Vorgänger von Dionysius Exiguus und damit auf einen der ältesten Computisten der Christenheit [Borst 741]. Wo es keine absolute Wahrheit gibt, darf sie auch Thomas Frenz als Professor für Historische Hilfswissenschaften nicht für sich allein beanspruchen, zumal auch er nicht weiß, welcher der alten Koryphäen wann am meisten geglaubt worden ist.

Auf Herbert Wursters Referat gehe ich nicht mehr ein. Ihm als Diözesan-Archivar liegen vor allem die Urkunden am Herzen; dementsprechend verhaftet ist er dem Pergament. Beim Kongress selbst ließ er mir keine Zeit für eine sinnvolle Debatte; dafür bin ich ihm in dem Kongressband ausführlich entgegengetreten [Illig 2003b, 86-93]. In Bayern und die Phantomzeit [Illig/Anwander 2002] sind seine Kritikpunkte ‘Keramikfunde’ und ‘Entwicklung des Christentums’ ein weiteres Mal und in der notwendigen Ausführlichkeit behandelt worden. Selbst seine nachgeschobene dendrochronologische Kritik ist hier schon berücksichtigt [ebd., 127 ff].

Unterm Strich hat diese Zusammenfassung alter und neuer Kritik kaum etwas erbracht, was die Phantomzeitthese gefährden könnte. Ganz im Gegenteil: Frenz hat gezeigt, dass Joachim von Fiore im 12. Jh. einen 300-Jahres-Sprung in jene Chronologie eingebaut hat, die im 13. Jh. dann von vielen Christen geglaubt und deren Zeitenwende von 1260 fieberhaft erwartet worden ist (Friedrichs II. vorzeitiger Tod verhinderte ein weiteres Aufheizen der allgemeinen Stimmung). Nimmt man hinzu, dass im Falle der Maya-Kultur die kulturelle Lücke zwischen Spät- und Postklassik durch eine Kalenderverschiebung beseitigt wird, also ein archäologisches Defizit durch eine modifizierte Chronologie beseitigt wird (s. S. 171), dann hat die herrschende Lehre mittlerweile genau jene Werkzeuge akzeptiert, die von der Phantomzeitthese seit 1991 benutzt werden. Das wirkt wie Zustimmung ohne Bewusstsein dessen, was geschieht.

Ein Neuansatz von Martin Neusel

Während die Zunft verzweifelt – mal schweigend, mal lautstark – all die Löcher zu schließen versucht, durch die der Zweifel das Lehrgebäude zerfrisst, hat mit Manfred Neusel ein mir Unbekannter einen eigenen Entwurf für die Phantomzeit [2004] vorgelegt, nämlich eine Version von ca. 220 Streichjahren. Er beschränkt sich bei seinen Überlegungen auf das Rhein-Main-Gebiet und kümmert sich zunächst um den archäologischen Befund. Bei ihm findet er die sicheren Grenzen bei 640/50 und 860/70 [Neusel 46]. Dabei stützt er sich etwa auf eine Münze des Heraclius (610–641), die als Bestandteil eines Rings im Gräberfeld von Pfahlheim bei Ellwangen aufgefunden worden ist [ebd. 49]. Bauten spielen bei seinen Überlegungen ebenfalls eine wichtige Rolle: Er untersucht die Pfalzkirche von Frankfurt, deren Bau bislang bei 670/80 gesehen, von ihm aber als Pfalzkirche Ludwigs († 876) interpretiert wird, oder den ersten Dom zu Worms, der über dem Estrich einer römischen Markthalle, aber unter dem Fußboden des Doms aus dem frühen 11. Jh. nachgewiesen worden ist. Die einstige Kirche von 45 x 22,5 m Grundfläche wird Dagobert II. (erste Hälfte des 7. Jhs.) zugeschrieben (s. u.!), wo er für Neusel, aber nicht bei den Eckjahren 614||911 bleiben kann. Es geht ihm auch um die Justinuskirche in Höchst, Frankfurts älteste erhaltene Kirche, deren dendrochronologische Datierung auf 850 ebenfalls gültig bliebe [Neusel 58].

Neusels Ansatz wird durch personelle Gleichsetzungen gestützt, die bislang bei der 297-Jahres-Lücke zu wenig vorgestellt worden sind. Auslöser ist eine späte Bestattung auf dem Reihengräberfeld Griesheim, die bei 650 gesehen wird (danach sei auf dem Kirchof in der Ortsmitte bestattet worden). Doch der Tote hielt einen Carolus-Denar in der Hand, den angeblich Karl d. Gr. Ende des 8. Jhs. prägen ließ.

Herkömmliche Genealogie Neusels Abfolge [56]
Pippin I., d. Ä. – 640 Pippin (I.) – 640 / 858
Pippin II., d. M. – 714
Karl Martell, dessen Sohn – 741 Karl Martell, dessen Sohn – 655 / 877
Pippin III., dessen Sohn – 768
Karl d. Gr., dessen Sohn – 814
Ludwig d. Fr., dessen Sohn – 840
Karl d. Kahle, dessen Sohn – 877 Karl Martell/d. Kahle – 655 / 877

Aus der Wortbedeutung “Kerl, Geliebter” für “karal” leitet Neusel ab: Karl Martell war nicht der Sohn des zweiten, sondern des ersten Pippin, und er war der Geliebte einer merowingischen Königin. So

“drängt sich der Gedanke auf, die beiden Chlodwigs (gest. 657/876 [der Merowinger Chlodwig II. und der Karolinger Chlodwig, König von Italien]) einerseits und die Karls andererseits (gest. um 657/877) seien jeweils identische Personen. Spalteten Chronisten einen historischen Karl in den Hausmeier ‘Martell’ (= Hammer), den “Großen”, den “Kahlen” und den “Dicken”? [Neusel 55].

Der Vorteil einer kürzeren Streichzeit ist selbstverständlich die geringere Beweislast, geringere Sprungweite und damit ähnlichere Zeiten sowie vermehrte Realnamen. So bleiben nun Chlothar von Franken bis zu seinem Tod (629 / 855), dessen Sohn Dagobert († 639 / um 860/65) und dessen Sohn Chlodwig († 657 / 876?) erhalten [N. 58]. Zur welfischen Genealogie kann Neusel [67] ebenfalls einen Vorschlag machen:

Traditionelle Genealogie Welfen-Sagen Neusels Genealogie
Warin, † 790 Welf I., † um 876 Warin Welf Warin Welf, † 876
Isenbart, †806 Eticho, † um 907 Eticho Isenbart Eticho Isenbart, † 907
Judith, † 843 Heinrich, † 934 Heinrich Welf Heinrich Welf, † 934
(Ludwigs d. Fr. Frau) (mit d. gold. Wagen) und Judith Welf und Judith (Schwester)

Selbstverständlich können solche Bezüge auch bei einer längeren Phantomzeit konstruiert worden sein – sie sind kein wirklich trennscharfes Kriterium. Interessant ist die neuerlich gezeigte Abhängigkeit zwischen Lorscher Evangeliar (um 810 eingestuft) und dem Gero-Codex von 965/70, diesmal an einem zweiten Bildpaar (Zeising hat hier bereits das Nötige im Vergleich beider Codices gesagt, als er wegen der Darstellung des Evangelisten Johannes das Lorscher Exemplar in der ottonischen Zeit angesiedelt hat [Zeising 473 f]. Neusel [71] plädiert dafür, das Lorscher Evangeliar als praktisch gleich alt bei 965 anzusetzen. Da meine Einschätzung auf 980 zielt, zeigt sich, dass die Untersuchungen Hand in Hand gehen und im Neuansatz dicht beieinander liegen. Auf derselben Seite erwähnt Neusel [71] die Einhards-Basilika zu Steinbach bei Michelstadt und ihre Weihe von 827. Für ihn ist Abt Udalrich (1056–75) der erste Bauherr, weil die Sentenz – er “stellte das Klösterchen in Michelstadt wieder her, das 253 Jahre lang verödet war” – nur auf den Erbauer, nicht auf den Restaurator verweisen kann, sonst wäre die Kirche schon vor ihrer Erbauung verödet gewesen.

Zu kritisieren ist die Hinnahme der bisherigen Datierungen für die Reihengräberfelder bis 640/50 und für die Wandmalerei der Kirche von Mals im Vintschgau “um 881”. Damit wird nach meiner Ansicht ein zu knapper Rahmen abgesteckt, wie die vielen Beobachtungen zwischen Island und China bestätigt haben [vgl. Illig 1997a; Weissgerbers zahlreiche Beiträge in dieser Zeitschrift etc.] oder wie Tamerl [113] im Falle Mals und Müstair zu Recht bestritten hat. Auf Bayern übertragen müssten dann wohl die Reihengräberdatierung bis “kurz nach 700” erhalten bleiben, womit sich die Phantomzeit um weitere 60/70 Jahre reduziert hätte. Doch ein ‘kleingemachtes’ Phänomen verschleiert nur das Problem. Zum Wormser Dom ist nachzutragen, dass in Carlrichard Brühls Sicht

“eine Kirche errichtet wurde, die unzweifelhaft in merowingische Zeit, wahrscheinlich in das späte 6. Jahrhundert gehört. Dieser Bau wurde im 9. Jahrhundert nicht unbeträchtlich erweitert” [Brühl 123].

Demnach wäre dieser Kirchenbau für keinen der beiden Varianten ein Problem, sondern nur die Datierung seiner Erweiterung.

Zu loben ist die Auseinandersetzung mit Personen und Namen, gleich ob Könige, Bischöfe von Mainz oder Gaugrafen im Rhein-Main-Gebiet, darunter auch die um 900 aussterbenden Babenberger. Dabei ergeben sich immer wieder Parallelen in verschiedenen Jahrhunderten. So kann Neusel [74] diesen Abschlussbefund präsentieren:

“Die in der vorliegenden Studie vorgelegte alternative Chronologie geht davon aus, dass zwischen den Jahrzehnten 640/50 und 860/70 keine Funde vorliegen oder die vorliegenden vermutlich falsch datiert sind; so wurde der Gedanke Illigs übernommen, die fehlenden Jahre seien erfunden. Es ergab sich eine klare Möglichkeit, die beiden genannten Jahrzehnte zu verbinden. Die politische Situation und viele Namen um 640/50 und 860/70 sind verblüffend ähnlich. Die Verflechtungen sind so eng, dass man an so viele Zufälle nicht glauben möchte.”

Es wird sich zeigen, ob die kleine oder große Lösung der Wahrheit näher kommt, wobei nicht verschwiegen werden muss, dass die ganz großen, extrem unwahrscheinlichen Lösungen im Umkreis Fomenkos vertreten werden.

Zum Schluss noch die Antwort auf jene Frage, die wohl fast alle Leser dieser Zeitschrift interessieren dürfte: Was hat Franz Krojer geantwortet, mit dessen Buch sich immerhin 40 Seiten des letzten Heftes auseinander gesetzt haben? Die Antwort ist knapp: In den drei Monaten von Silvester bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe hat Krojer weder im Internet noch brieflich geantwortet. Allerdings zeigt das Internet eine Neuerung. Seine private Website läuft seit einer ‘Lex Krojer’ nicht mehr unter “Lehrstuhl für Informatik” – eine erfreuliche Klarstellung zur Vermeidung von Etikettenschwindel.

Literatur

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