von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 1/2012)
Die „nouvelle histoire“ war Ergebnis von französischen Mediävisten, die sich dem alten Thema Mittelalter auf neue Weise widmeten, indem sie weniger Regenten und Kriege bejubelten, sondern Wirtschaft und Gesellschaft stärker gewichteten. Aus der Tradition der Annales kommend, lag ihnen Strukturgeschichte stärker am Herzen, wie sie auch langfristige Entwicklungen stärker herausarbeiteten und Geschichte von unten, gerade im ländlichen Raum betrieben. Für das Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg stehen folgende Koryphäen: Georges Duby 1919–1996; Jacques Le Goff *1924; Robert Fossier *1927 und Emmanuel Le Roy Ladurie *1929.
Gerade Duby erforschte die wirtschaftliche Entwicklung und die dahinter stehende Gesellschaft, insbesondere in seinem Buch Krieger und Bauern von 1973 [übersetzt 1984 = D.], das die Veränderungen vom 7. bis zum 12. Jh. unter die Lupe nimmt. Da geht es um die Produktivkräfte, die Sozialstruktur, um Feudalzeit, Bauern und Herren. Und es geht ums Detail: Welche Werkzeuge waren verfügbar, welche Ernährungsgewohnheiten gab es, welche Krankheiten dominierten, wie funktionierte damals Geldwirtschaft. So erfährt man etwa, dass das Verschwinden der Totenbeigaben in einer christlich werdenden Gesellschaft keineswegs die Hinterbliebenen bereicherte:
„Nun war es nämlich die Kirche, die den »Totenanteil« forderte, die all das in Anspruch nahm, was ihm [dem Toten; HI] die Erben für sein Leben nach dem Tode überlassen hatten. Wurden die Schätze früher in den Gräbern gehortet, so geschah dies nun in den heiligen Stätten des Christentums“ [D. 72].
Oder es wird auf die schwierigen klimatischen Bedingungen hingewiesen. So ereignete sich 1033 gemäß Radulfus Glaber eine Hungersnot, die bis zum Kannibalismus geführt habe:
„Permanente Regenfälle hatten den ganzen Boden so durchnäßt, daß es drei Jahre lang unmöglich war, Furchen zu ziehen, die Samen aufgenommen hätten“ [D. 207].
Es gab also immer wieder flächendeckende Katastrophen. Was Maschinen angeht, so verbreitete sich die (wassergetriebene) Kornmühle im 10. und 11. Jh. rasant. In England verzeichnet 1086 das Domesday Book bereits 6.000, d. h. im Durchschnitt 1 Mühle auf 46 Bauernhaushalte [D. 244]. Mühlen brauchten nicht nur Mühlsteine, sondern auch Eisenteile [D. 245]. Während in der Zeit vor 1000 Eisenfunde äußerst rar sind [D. 24 f.], sind danach „die Fortschritte der Metallurgie in ganz Europa nicht zu übersehen“ [D. 253].
„Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Techniken beruhte stets auf der verzögerten Verwendung des für militärische Angriffe erfundenen Werkzeugs bei der Feldarbeit – auch dies ein Aspekt des Übergangs von der Kriegsökonomie zur landwirtschaftlichen Ökonomie. Diese Entwicklung vollzog sich im Laufe des 12. Jahrhunderts; es kann aber sein, daß es schon zu früheren Zeiten entscheidende Verbesserungen in der Eisenverarbeitung gegeben hat. So zum Beispiel die Verwendung von Schmelzöfen mit einer verbesserten Belüftung und die Ausnutzung der Wassermühlenenergie für die Metallverarbeitung. Einen Hinweis auf die zuletzt genannte Annahme erkennen wir darin, daß schon 1086 manche Mühlen mit Eisenabgaben belastet waren. Auf jeden Fall häufen sich in den Texten vom Anfang des 12. Jahrhunderts in den Pyrenäen, den Alpen und dem Zentralmassiv Bemerkungen über Schmiedehämmer. Zur gleichen Zeit werden auch zum ersten Mal Eisenminen erwähnt“ [D. 254; Hvhg. HI].
Dies schrieb Georges Duby bereits 1973. Vor kurzem hat mich Marianne Koch, Leopoldshöhe, auf den Text hingewiesen und auch darauf, dass die zitierte Seite im Internet zu finden ist.
Aachen und Eisenhammer
Damit gibt es einen weiteren wertvollen Hinweis auf die Erfindung des Eisenhammers und seinen Einsatz mit Wasserkraft. In meinem Buch Aachen ohne Karl den Großen [ab sofort in einer um acht Seiten erweiterten Neuauflage mit zusätzlichen Indizien und Zurückweisungen erhältlich] konnte ich zeigen, dass es mittlerweile nicht nur Nachbauten von Fallhämmern aus dem späteren 12. Jh., sondern ebenso archäologische Funde und Hinweise auf ein entsprechendes Vokabular in den Schriftquellen der Zisterzienser gibt, so dass der Nachweis auf Fallhämmer ab 1135 gesichert ist.
In der Aachener Pfalzkapelle ist nicht nur tonnenweise Eisen verbaut worden, sondern ihre Ringanker bestehen aus zusammengefügten, stark belastbaren Stabeisen mit einem Gewicht von jeweils 180 und mehr Kilogramm, die von Hand nicht zu schmieden sind, schon gar nicht in einer fast eisenlosen ‘Karolingerzeit’:
„Der Eisenanteil muß demnach in der landwirtschaftlichen Ausrüstung äußerst gering gewesen sein; auch andere Texte bestätigen die Seltenheit des Metalls“ [Duby, 24].
Mit dem Fallhammer in Zisterzienserklöstern war also der Nachweis geführt, dass man bereits im 12. Jh. derartige Eisenmengen und große Einzelteile schmieden konnte. Diesem Argument konnte in Aachen von Seiten der Zeitungen und des Dombaumeisters nur mit beharrlichem Schweigen begegnet werden. Und ich war bereit, den von mir ermittelten Baubeginn für diese Kirche um mehrere Jahrzehnte zu verschieben, damit das erforderliche Eisen auch bereitsteht, und schrieb:
„Insofern ist der Baubeginn für Aachen erst im 12. Jh. zu erwarten, mutmaßlich um 1120, bis hin um 1140.“ [Illig 2011, 156]
Allerdings hatte ich im erfundenen Mittelalter nach Abgleich vieler anachronistischer Bauteile eine detaillierte Baugeschichte vorgeschlagen:
„In Analogie zu Speyer und Caen läßt sich ein Baubeginn [in Aachen] bald nach 1060 mutmaßen. […]
Nachdem der Bau Zeit brauchte […], kann das »Hochmünster«, das die ›oberen Stockwerke‹ und die Kuppel umfaßt, in der Zeit von 1080 bis 1100 oder kurz danach errichtet worden sein. […]
Nach diesem umfänglichen Indizienbeweis haben wir in der Aachener Pfalzkapelle einen salischen Bau vor uns, der mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in die Zeit Heinrichs IV. (1056 bis 1106) fällt!“ [Illig 1996, 298; damalige Hvhg.]
Jener Kaiser Heinrich IV. ließ beim Speyerer Dom zwischen 1080 und 1106 einen Um- und Neubau durchführen [wiki / Heinrich IV.], worunter eine neue Fundierung des Chorbereichs, eine neue Gliederung der Hochschiffwand samt Gewölbe im Mittelschiff und in der Vierung zu verstehen ist. Das erlaubt einen kurzen Vergleich zwischen Aachen und Speyer.
Die beiden Ansiedlungen
Von Aachen ist bekannt, dass es im 10. und 11. Jh. kaum greifbar ist [vgl. Illig 1996, 290-296]. Wenn man heutigen Internet-Angaben trauen möchte, dann hätten sich Pfalz und Ansiedlung von dem Normanneneinfall von 881 nicht erholt; für die Kaiser wäre es seit Ludwig dem Frommen nicht mehr als Wohnsitz genutzt worden. Gleichwohl wäre Aachen Krönungsort geblieben:
936 Otto d. Gr. | 1028 Heinrich III. |
961 Otto II. | 1054 Heinrich IV. |
983 Otto III. | 1087 Konrad III. |
1099 Heinrich V. |
Wie das in einer Ansiedlung möglich war, die außer einer Pfalz und einer riesigen Kirche so gar nichts ausgezeichnet hat – keine Stadtmauer, keine ‘Münzprägeanstalt’, kein Markt, zu Zeiten Karls d. Gr. auch keine nachweisbaren Wohn- oder Handelsflächen –, ist nicht leicht vorstellbar. Glaubt man herrschender Lehre, dann wäre seit den Normannen, die die Pfalzkapelle als Pferdestall missbraucht hätten, die Kirche nicht mehr angemessen genutzt worden. Das lässt folgende phantastische Vorstellung keimen: Ein Pfalzobmann verwahrte den Schlüssel, und wenn alle 20 bis 40 Jahre einmal gekrönt werden sollte, dann wurde eine Woche lang vorher geputzt, auf dass die Zeremonie prächtig werde, und danach die Kirche wieder zugesperrt. Erst Friedrich I. Barbarossa erteilte im Jahr 1166
„der Stadt Aachen das Markt- und Münzrecht und erklärte sie zur freien Reichsstadt. Als Gegenleistung begannen die Bürger Aachens im Jahr 1171 mit dem Bau der 2,5 km langen Aachener Stadtmauer, der so genannten »Barbarossamauer«“ [wiki / Geschichte der Stadt Aachen].
Der Verlauf der Barbarossamauer ist bekannt; sie ist in Teilen archäologisch nachgewiesen. Barbarossa tat ein Übriges und erklärte in seinem Karlsprivileg Aachen zum „Haupt aller Städte und Provinzen diesseits der Alpen“ [Müller]. Da wurde gewissermaßen ein Stecknadelkopf zum Ober-Haupt aufgeblasen.
In Speyer setzte die Entwicklung des Gemeinwesens volle zwei Jahrhunderte früher ein. 969 gewährte Otto d. Gr. der Stadt und der Vorstadt das Immunitätsprivileg. Damit unterstand Speyer allein der bischöflichen Gerichtsbarkeit. Im gleichen Jahr wurde mit dem Bau der ersten Stadtmauer begonnen. Vor 993 und vor 1009 erhielt Speyer das Markt- und das Münzrecht, wie wir aus entsprechend datierten Urkunden von Otto III. und Heinrich II. für Selz und Marbach wissen [dom speyer]. Um 1000 wurde mit der zweiten Stadtmauer begonnen. Im Jahr 1111 ließ Kaiser Heinrich V. Freiheitsbriefe ausstellen. „Sie begründeten den Gerichtsstand der Stadtbürger vor dem Stadtgericht“ [ebd.]. Trotzdem soll die Stadtbevölkerung vor dem Jahr 1100 erst 500 Köpfe gezählt haben [speyer]. Und das, obwohl doch eine große Anzahl von Handwerkern die Stadt bevölkert haben müsste.
Wer hier einen Vergleich mit Aachen riskiert, das doch erst später den Schutz einer Mauer benötigte, der muss davon ausgehen, dass Aachen vor 1100 höchstens 150 Personen beherbergt hat, also im heutigen Sinne eher ein Weiler als ein kleines Dorf war.
Die beiden Kirchenbauten
In Speyer wurde 1025/30 unter dem ersten Salier Konrad II. der Dom mit seiner als Grablege dienenden Krypta begonnen; aktuelle archäoastronomische Rückrechnung geht von September 1027 aus [Reidinger]. Eingeweiht wurde er 1061 unter dem noch minderjährigen Heinrich IV. (* 1050). Dieser rief nach Canossa und nach Abwehr des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden im Jahr 1080 zum Um- und Neubau auf, der 1106, im Todesjahr des Kaisers, mehr oder weniger abgeschlossen gewesen zu sein scheint.
Nun hatte Heinrich IV. eine besondere Beziehung zum Aachener Dom, soll er doch 1056 als Kind von Papst Viktor II., der zuvor Reichskanzler und Bischof von Eichstätt gewesen war, in Aachen auf den Thron Karls des Großen gesetzt worden sein [wiki / Heinrich IV.]. Wenn er selbst die Pfalzkapelle hätte bauen lassen, die es gemäß dem erfundenen Mittelalter damals noch nicht gegeben haben kann, dann hätte er auch selbst für den Mythos vom sechsjährigen Knaben auf den Schultern eines Riesen sorgen können.
In Aachen brachte die Existenz des Doms als Stiftskirche – die Bezeichnung Pfalzkapelle ist seit ungefähr 1996 verpönt – für das Gemeinwesen eine erhebliche Komplikation:
„Nach der Errichtung des Aachener Doms um das Jahr 800 feierten die Privilegierten und Stiftsherren des damaligen Reiches ihre Gottesdienste in diesem Gotteshaus, während der normale Bürger auf andere Kirchen ausweichen musste. Aus diesem Grunde wurde um 1180 an der Stelle der heutigen Pfarrkirche St. Foillan ein Gotteshaus gleichen Namens errichtet. Dieses existiert heute nicht mehr.“ [wiki / St. Foillan Aachen]
Konnten die Aachener Kleinbürger seit Bau der Pfalzkapelle fast 400 Jahre lang überhaupt nicht in die Kirche gehen? 1005 ließ Otto III. die Stiftskirche St. Adalbert erbauen, die zwar nicht im Gemeinwesen lag, aber zu Fuß erreichbar war [vgl. Illig 2011, 15]. Zuvor war das Gemeinwesen so klein, dass vermutlich auch eine Kapelle normaler Größe für den Gottesdienst ausgereicht hat. Eine solche wird unter dem Dom Pippin zugewiesen, auch wenn hinzugefügt werden muss, dass der schlecht registrierte Befund von 1910 nicht eindeutig ist [Siebigs, 22-28]. Auffällig ist, dass dieses Rudiment nicht nach Osten, sondern nach Nordosten orientiert war. Das entspricht der Orientierung der römischen Ansiedlung Aquae granni, während die heute bestehende Pfalzkapelle wie die Aula (heute Rathaus) präzis geostet ist. Das zeigt, dass die römische Ansiedlung, ob noch erhalten oder bereits ruinös – beim Bau dieser Kapelle noch richtungsweisend war. Erst für die Anlage von Pfalz und Pfalzkapelle wurde das Thermen-Terrain planiert – ein betoniertes Becken steckt in ihrem jüngst erforschten Fundament – und die Gebäude dem uns vertrauten W-O-N-S-Raster eingegliedert.
Nachdem es in Speyer um die Grablege der Salier ging, in Aachen um das Haupt aller Städte, scheint sich eine Tendenz ablesen zu lassen. Die Könige, ob Salier oder Staufer, scheinen damals der Geistlichkeit und/oder dem örtlichen Adel innerhalb der Städte misstraut zu haben, sonst hätten sie ihre Riesenbauten – immerhin gilt Speyer als größter erhaltener romanischer Bau; nur Cluny ist mit zwei Querschiffen, Vorkirche und Atrium noch größer gewesen (nicht aus Speyerer oder deutscher Sicht [s. wiki / Speyerer Dom]) – nicht in winzigen Ansiedlungen errichten lassen.
Die Bauzeit von Aachens Pfalzkapelle
Für Aachen konkurrierten kurzzeitig drei Datierungen: 800, 1090 und 1135. Nach aktuellem Stand der Bauforschung wäre die Kirche in kaum zehn Jahren um das Jahr 800 gebaut worden [vgl. Illig 2011, 34-38]. Gemäß meinen architekturhistorischen Abgleichen [1992; 1994; 1996] stammt sie aus der zweiten Hälfte des 11. Jh. bzw. aus den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, doch nach den experimentellen Arbeiten von Paul Benoît und anderen war sogar an die Zeit nach 1100, bis um 1140 zu denken. Dies bedeutete für meine These eine Verschiebung um 30 bis 50 Jahre, die ich akzeptierte, weil somit die nötigen Fallhämmer zum Schmieden der Tonnen von Eisen verfügbar waren.
Trotzdem störte mich, dass aus Bauvergleichen diese Verschiebung ins 12. Jh. nicht zu begründen war. Ich erinnere an folgende Befunde:
Wandauflösung (wegen Speyer) nach 1030
Oktogone nach 990, wahrscheinlicher nach 1030
Mischung aus Bruchsteinen und Quadern (wegen Speyer) ab 1040
Westwerk (wegen Essen) nach 1040
Antikisierende Formensprache (wegen Essen) nach 1040
Umgangswölbung (wegen Speyer) nach 1050
Vertikalität nach 1050
Säulengitter (wegen Essen und Köln) ab 1050
Kuppel (wegen Speyer) nach 1080
Strebesystem (wegen Caen) nach 1080
Doppelkapelle (wegen Hereford) zwischen 1070 und 1090
[Illig 1996, 296 f.].
Klargestellt war außerdem, dass Aachens komplizierte Umgangswölbung nach Art eines Wabenmusters erst nach der Wölbung von Speyers Seitenschiffen entworfen worden sein sollte. Nicht hinreichend beachtet hatte ich damals, dass Aachen extrem weit geöffnete Emporenöffnungen hat. Da die oberen Wölbungen vom 16-Eck zum inneren 8-Eck ansteigen, konnten diese Öffnungen so riesig werden. Dabei hat nach 911, nach der eingeschobenen Zeit noch mindestens 130 Jahre lang niemand Emporen bauen können. Dazu brauchte es normannische Erfindungskraft, die in zwei Klosterkirchen von Caen ihre Premiere hatte: die hochtürmige von St-Étienne und die insgesamt gedrungenere von Ste-Trinité, ohne Emporen. Beide wurden um 1060 begonnen. St-Étienne besitzt über dem Emporengeschoss noch einen Obergaden, also eine Fensterreihe im Mittelschiff, und entspricht damit dem Aufriss von Aachen. Diese Kirche wurde 1077 geweiht, hatte aber damals nur flache Decken. Erst ab 1120 wurden Rippengewölbe im ungefähr 10 m spannenden Mittelschiff eingezogen und die Vierung mit Rippen gewölbt.
Im direkten Vergleich kann Aachen mit seinen geweiteten Emporen und den bereits durch ein starkes Fundament vorbereiteten Wölbungen erst nach Caen begonnen worden sein. In Reims stünde mit der Basilika St-Remi zwar eine vielleicht noch frühere Emporenkirche, aber sie ist im Übergang von Romanik zur Frühgotik dermaßen stark verändert worden, dass mir sichere Aussagen zu ihrem ursprünglichen Zustand (Weihe 1049) nicht möglich erscheinen [vgl. Gall, 18]. Die Wölbung ihres Mittelschiffs und die Veränderung der Emporenöffnungen durch eingestellte Säulen – eine Parallele zu Aachen, wenn auch nicht so elegant wie das dortige Säulengitter – hat am Ende des 11. Jh. stattgefunden.
Damit sind wir – gerade auch hinsichtlich der Aachener Säulengitter – wieder auf die letzten beiden Jahrzehnte des 11. Jh. verwiesen, in denen auch Speyers Mittelschiff gewölbt worden ist (die Vierung danach). Speyer enthielt – wie Aachen – im Bereich von Chor, Vierung und Querschiff weitläufige Holzanker, die ebenso wie in Aachen vermodert sind [vgl. Illig 1996, 258]. Nachdem der Bau trotzdem steht, darf vermutet werden, dass auch in den erhöhten Mittelschiffsmauern der zweiten Bauphase neben Holzankern auch Eisenanker eingebaut worden sind, die nach der Abbindphase der Gewölbe deren Schub aufnahmen. Eine Publikation wie die von Schifferer [1997] darf hier nicht irreführen: Sie spricht von rostenden Eisenankern in der Westkuppel, die jedoch im Gegensatz zur uralten Ostkuppel aus dem 19. Jh. stammt.
Bei meinen Recherchen gab es noch eine weitere Datierungskomplikation. Im erfundenen Mittelalter [278] habe ich die Doppelkapelle von Hereford als zeitliche Obergrenze genannt. Sie ist unter Bischof Robert gebaut worden, der von 1079 bis 1095 im Amt war und sich laut Wilhelm von Malmesbury am Aachener Vorbild orientiert hat [Verbeek 1967; vgl. Illig 1996, 278]. Mittlerweile liegt eine deutlich jüngere Meinung vor. So stellt Ulrich Fischer 2009 fest:
„Dieser Bau, im 18. Jahrhundert leider verloren, aber in zuverlässigen Zeichnungen im Grund- und Aufriss überliefert, nimmt zu Recht eine Sonderstellung in der frühromanischen Sakralbaukunst Englands ein. Robert hatte einen quadratischen Baukörper auf zwei Ebenen als eine Doppelkapelle errichten lassen, wobei auf beiden Ebenen vier Stützen den zentralen Raum in neun Joche unterteilten, eine Bauform, die im Reichsgebiet mit Bischofs- und Pfalzkapellen assoziiert ist.“ [Fischer, 191]
(Nur in Parenthese sei angemerkt, dass diese zerstörte Kapelle bei Wikipedia [/ Doppelkapelle] als ältestes erhaltenes Beispiel geführt wird.) Nun hat mit Wilhelm von Malmesbury ein Zeitgenosse diesen Bau mit der Aachener Kapelle verglichen [Fischer, 192]:
„Das große Problem dieser Aussage liegt darin, dass die fast würfelförmige, nur von einer zentralen Kuppel überragte Doppelkapelle von Hereford keine offensichtliche Ähnlichkeit mit dem Oktogon von Aachen hat“.
Diese Unähnlichkeit fällt auf. Aber für uns liegen die Probleme ohnehin anders. Zum einen spricht William von der Aachener Basilika („aquensem basilicam“ [Fischer, 192]), was nicht automatisch zu einem Zentralbau führt, zum anderen hat er von ca. 1095 bis ca. 1143 gelebt und ist damit kein Zeitzeuge für den Bau der Kapelle in Hereford. Selbst wenn er schon als 15-Jähriger über den Bau geschrieben haben sollte, steht meine alt-neue Datierung – Fertigstellung kurz vor oder um 1100 – davon unbeeindruckt auf sicherem Boden.
Insofern kann ich dank Georges Duby bei meiner Meinung von 1996 (und 1994 [278]) bleiben, doch jetzt bekräftigt durch die archäologischen Eisen- und Schmiedebefunde aus dem 12. Jh. und durch Dubys dazu passenden literarischen Befunde für die Jahre vor 1086.
Literatur
Bauchhenß, Gerhard (Red. 1982): Aquae Granni. Beiträge zur Archäologie von Aachen; Köln
dom speyer = http://www.dom-speyer.de/daten/domspeyer/seiten/geschichtezeitstrahl1ue.html
Duby, Georges (1984): Krieger und Bauern. Die Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft bis um 1200; Frankfurt a. M. (11973)
Fischer, Ulrich (2009): Stadtgestalt im Zeichen der Eroberung. Englische Kathedralstädte in frühnormannischer Zeit (1066–1135); Köln u. a.
Gall, Ernst (²1955): Die gotische Baukunst in Frankreich und Deutschland . Teil I. Die Vorstufen in Nordfrankreich von der Mitte des elften bis gegen Ende des zwölften Jahrhunderts; Braunschweig
Illig, Heribert (1994): Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit; Gräfelfing
(1996): Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte; Düsseldorf
– (2011): Aachen ohne Karl den Großen. Technik stürzt sein Reich ins Nichts, Gräfelfing
Müller, Heinrich (2006): Hochdeutsch mit Knubbeln. Wie der Öcher halt so ist; http://www.unser-aachen.com/beiträge/hochdeutsch-mit-knubbeln
Reidinger, Erwin (2011): 1027: Gründung des Speyerer Domes. Orientierung – Achsknick – Erzengel Michael; in Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Bd. 63, 9-37; Speyer
Schifferer, Günter (1997): Schäden am Speyerer Dom; http://www.baufachinformation.de/denkmalpflege.jsp?md=1998027131035
Siebigs, Hans Karl (2004): Der Zentralbau des Domes zu Aachen. Unerforschtes und Ungewisses; Worms
speyer = http://www.deutschland-deluxe.de/speyer-dom-unesco-weltkulturerbe.html
wiki / unter den entsprechend bezeichneten Artikeln
[…] H.: Aachens Baudatum im Einklang mit allen […]