von Paul C. Martin (aus Zeitensprünge 3/2000)

Die Zeit „um 800“ gilt der traditionellen Historiographie als Periode einer kulturellen Hochblüte. Dies bestätigten uns eben erst die grandiose Karolinger-Ausstellung in Paderborn und die umfangreiche Karls-Biographie des Bremer Ordinarius Dieter Hägermann, die als aktuellstes Standardwerk der Zeit „um 800“ zu gelten hat.

Grundlage jeder kulturellen Hochblüte ist die Schrift. Muss diese nicht in einem langwierigen Prozess ex nihilo entwickelt werden, sondern kann sie auf bereits vorhandene Kenntnisse des Schreibens aufbauen, dann setzt dieses Schreiben zunächst einmal ein Lesen voraus. Nur wer des Lesens und sei es nur des Ablesens mächtig ist, kann auch Schreiben bzw. Abschreiben. Das Lesen muss natürlich vor allem in Bibliotheken gepflegt und auch tradiert worden sein. Dabei lässt allerdings stutzen, wenn aus dem von alter Bibliothekstradition gesättigten Frankreich berichtet wird [Histoire 1989, XXI, Fettungen in allen folgenden Zitaten von PCM]:

„Les bibliothèques médiévales sont une création ex nihilo.“

Wenn schon die Bibliotheken aus dem Nichts heraus entstanden, was ist mit der Schrift?

Allerdings muss das Urteil der Bibliothèque Nationale nicht beunruhigen. Schließlich teilen die führenden Bibliothekswissenschaftler inzwischen sogar via Internet mit, dass es in der karolingischen Renaissance auch einen „Höhepunkt“ des Buchwesens gegeben habe [Rath 2000; Zahn 2000] und dass neben vielen Klosterbibliotheken und solchen in Bischofssitzen in Karls Metropole Aachen eine „Palastbibliothek“ ihren Platz gefunden hat. Auch ist der Hinweis ermutigend, dass es eine „Fülle von nicht weniger als 8000 überlieferten Pergamentbänden“  geschafft hat, von der Karolingerzeit bis in die Gegenwart zu überdauern [Hägermann 2000, 292].

Gelegentlich behauptet die Forschung, im bekannten Ms. Diez B. 66 der Berliner Staatsbibliothek eine „Sektion der Hofbibliothek [Karls des Großen; PCM] im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts“ gefunden zu haben [Villa 1995, 50]. Allerdings ist das nicht unumstritten. Immerhin hat ein so bedeutender Handschriften- und Bibliotheksforscher wie B. L. Ullman das Ms. Diez B. 66 als „vielleicht von Corbie“ bezeichnet [Ullman 1954, 24]. Wir werden Diez B. 66 in Teil II noch näher kennen lernen.

Leider ist das Gebäude, das die karolingische Palastbibliothek behauste, ebenso verschollen wie die vielen anderen von Karl initiierten architektonischen Glanzleistungen Aachens auch, die das Karls-Epos – auf 799 datiert – so eindringlich beschreibt [Brunhölzl in Hentze 1999 als Beiheft; Nachdruck der Übersetzung von 1966, 17]:

„Forum“, „hochragende Säulen“, „Mauern der Burg“, „Hafen“ (!), „Theater“, „Halle“.

Nur die im Epos angeführten „warmen Heilquellen“ und „das von Natur kochende Wasser“ sind bis heute in Bad Aachen auffind- bzw. nachvollziehbar.

Dass in einer (wann auch immer stattgehabten) „Karolingerzeit“ die Fertigkeit des Lesens und Schreibens weit verbreitet war, sollte vernünftigerweise nur bestritten werden, wenn massive Evidenzen dagegen sprechen, zumal eben erst Paderborn gezeigt hat, wie perfekt man in der Karolingerzeit mit Schriftlichkeit umzugehen wusste: mehr als zwei Drittel der Exponate, von Urkunden über Bücher, Sakralstücke bis hin zu Münzen sind dafür Beweis genug.

Der Kaiser selbst ist fast schon die einzige Ausnahme in diesem Meer an Gelehrsamkeit. Die Forschung ist sich heute nämlich nur sicher, dass er vermutlich lesen, aber nicht schreiben konnte (wiewohl das nicht ganz nachvollziehbar ist). Das könnte auch dem im Karls-Epos mitgeteilten Sachverhalt entsprechen, wo wir über den Herrscher erfahren [Brunhölzl a.a.0.,15]:

„Er ist ein hervorragender Lehrer der Grammatik; zu keiner Zeit gab es einen so vortrefflichen Leser; als Lehrer der Rhetorik zeichnete er sich aus.“

Wie jemand Grammatik lehren kann, ohne des Schreibens mächtig zu sein, bleibt ein Geheimnis. Aber es führt direkt zu unserer Fragestellung, was man denn in der Karolingerzeit so alles gelesen hat – die damals gefertigten „Urkunden“ selbstverständlich inklusive.

Diesem soll im folgenden nachgegangen werden. Dabei werden in zwangloser Reihenfolge Beispiele für Lesen und Schreiben untersucht, soweit sie sich aus den Quellen selbst und der darauf aufbauenden Literatur erschließen lassen.

1. Das Kloster Fulda

Diese zentrale Wirkungsstätte des christlichen Glaubens, in der „um 800“ die größte Basilika nördlich der Alpen entstand und deren Klosterschule zu einer weithin gerühmten Stätte von Bildung und Gelehrsamkeit ausgebaut wurde, hatte der Quasi-Analphabet Karl der Große

„um das Jahr 789 […] mit der sogenannten ‚Epistola de litteris’ […] eindringlich gebeten, seine Bildungspolitik tatkräftig zu unterstützen“ [Fulda 1992, 1].

Karls Begründung lautete [ibid. zitiert]:

„… ut servire specialiter debeant veritati (sie seien verpflichtet, ganz besonders der Wahrheit zu dienen).“

Mit solchen bewegenden Worten („veritati“!) und von allerhöchster Stelle aus direkt angesprochen, ist Fulda der Ort, an dem die Suche nach dem, was in der Karolingerzeit zu schreiben und zu lesen war, zu beginnen hat. Die Frühgeschichte der Fuldaer Klosterbibliothek konnte inzwischen weitgehend rekonstruiert werden, da sich diverse Bücherverzeichnisse aus dem 9. und frühen 10. Jh. erhalten haben. Sie sind inzwischen in einer vorzüglichen Edition in der Reihe Fuldaer Studien in der Schriftenreihe der Theologischen Fakultät zu bestaunen [Fulda 1992].

Es handelt sich, betreffend die Karolingerzeit, um insgesamt neun Bücherverzeichnisse, die in unterschiedlichem Zustand und unterschiedlicher Vollständigkeit vorliegen.

Das „älteste“ Bücherverzeichnis

Es wurde 1924 in einer Sammelhandschrift der Universitätsbibliothek Basel entdeckt. Die Handschrift ist in einer angelsächsischen (insularen) Minuskel gefertigt, wie sie aus angelsächsisch geprägten Skriptorien des ausgehenden 8. und frühen 9. Jh. auf dem europäischen Festland bekannt ist. Es gilt als „äußerst wahrscheinlich“ [Fulda 1992, 3], dass sämtliche Texte in Fulda zur Niederschrift kamen.

Eine solche angelsächsische Minuskel wurde im späten 8. Jh. unter anderem in dem im 6. Jh. gegründeten nordfranzösischen Kloster Corbie gepflegt, worauf wir noch ausführlich zurückkommen werden.

Wie nahe sich beide Schriften standen, zeigt ein Vergleich mit einer Textstelle aus dem Fuldaer Bücherverzeichnis mit einer im Schriftbild nahezu identischen Textstelle aus dem 1982 von Sotheby’s versteigerten Orosius aus der Sammlung Fürstenberg [Sotheby’s 1982, Lot 3], der uns in dem Abschnitt über Corbie ebenfalls noch intensiver beschäftigen wird (vgl. Abb. 1 u. 2).

Abb. 1: Das älteste Fuldaer Bücherverzeichnis, um 800, geschrieben in einer „insularen“ Minuskel. Das Verzeichnis enthält zwar eine Paulus-Apokalypse, aber nicht die Regeln Benedikts und auch keine Schriften des Fuldaer Gründers Bonifatius (den vier Zeilen, beginnend mit „libri“, gehen auf dem Vorblatt noch neun Zeilen voraus).

Abb. 1: Das älteste Fuldaer Bücherverzeichnis, um 800, geschrieben in einer „insularen“ Minuskel. Das Verzeichnis enthält zwar eine Paulus-Apokalypse, aber nicht die Regeln Benedikts und auch keine Schriften des Fuldaer Gründers Bonifatius (den vier Zeilen, beginnend mit „libri“, gehen auf dem Vorblatt noch neun Zeilen voraus).

Abb. 2: Der Orosius ex Sammlung Fürstenberg, vor 800, geschrieben in einer „merowingischen“ Minuskel. Die Schrift angeblich von einem genialen Schreiber erfunden, der Text von 12 Händen gleichzeitig gefertigt.

Abb. 2: Der Orosius ex Sammlung Fürstenberg, vor 800, geschrieben in einer „merowingischen“ Minuskel. Die Schrift angeblich von einem genialen Schreiber erfunden, der Text von 12 Händen gleichzeitig gefertigt.

Auch Kapitel VII der Paderborner Ausstellung gedachte ausführlich der angelsächsischen Mission auf dem Kontinent, wobei allerdings die im Katalog dargebrachten Stoßrichtungs-Pfeile dieser Mission weit an Corbie vorbeigehen. In Kapitel VII wurde in Paderborn ein in dieser „angelsächsischen Minuskel“ gefertigtes Ms. gezeigt, angeblich stammend aus dem Liudgerkreis (Münster oder Wichmond) und auf „vor 802“ datiert. Es handelt sich um den hl. Gregor, Homiliae in Ezechielem (s. Abb. 3 [PKat II, VII.29]).

Abb. 3: Homilien Gregors, vor 802, geschrieben in einer Art karolingischer und danach in einer angelsächsischen Minuskel (Ausschnitt). Was will uns dieser Schriftenmix sagen?

Abb. 3: Homilien Gregors, vor 802, geschrieben in einer Art karolingischer und danach in einer angelsächsischen Minuskel (Ausschnitt). Was will uns dieser Schriftenmix sagen?

Dieses Ms. offeriert rätselhafterweise einen Schriftenmix. Es beginnt mit einer Art von Semiunzialschrift, wie sie seit dem 6. Jh. gebräuchlich war [vgl. Glenisson 1988, 50], die sich mit einer karolingisch anmutenden Minuskel mischt, um dann unvermutet in die insulare Minuskel zu wechseln. Zwar sind solche herausgehobenen ersten Zeilen einer Hs. nicht ungewöhnlich, doch da das in Paderborn ausgestellte Stück einen leicht lesbaren Text enthält, muss erneut die Frage nach der Notwendigkeit einer „karolingischen Schriftreform“ gestellt werden [vgl. Martin 1996]. Auch dazu später mehr.

Überdies ist der schrifttechnische Zusammenhang zwischen Corbie, Münster und Fulda nicht ganz klar, zumal nicht nur einzelne Buchstaben deckungsgleich sind, sondern auch die manieriert wirkenden Ober- und Unterlängen, wobei die in Corbie gebräuchlichen „a“ und „b“ eine Besonderheit darstellen und in 43 Mss. nachweisbar sind [Sotheby’s 1982, 25].

Sotheby’s und der dort für den Katalog verantwortliche Experte für mittelalterliche Handschriften, Christopher de Hamel, haben sich der Auseinandersetzung mit der höchst ähnlichen insularen Minuskel mit dem Hinweis entzogen, dass es sich beim Fürstenberg-Orosius um eine „merowingische Minuskel“ handle, die ein erfahrener Schreiber erfunden habe, wobei in dieser Schriftvariante im Fall des Orosius gleich zwölf Schreiber gearbeitet hatten – und zwar gleichzeitig. Dabei ist noch nicht entschieden, ob es Männer oder Frauen waren [ibid. 27].

Schließlich tritt als weitere Fabrikationsstätte für „um 800“ genutzte Texte noch das burgundische Kloster Luxeuil in Erscheinung. Dort (oder in Mainz) soll der Codex Ragyndrudis entstanden sein, jene berühmte Sammlung von 14 apologetischen, exegetischen und dogmatischen Schriften, die der viel reisende Bonifatius als Bestandteil seiner Reisebibliothek mit sich trug, als er am 5. Juni 754, schon 80jährig, von Friesen erschlagen wurde.

Dass der Codex Ragyndrudis durchgehend in lateinischer Sprache geschrieben ist, eröffnet neue Perspektiven. Denn die „Heiden“ in den deutschen Landen, die Bonifatius zu bekehren versuchte, waren demnach nicht nur ihres eigenen Idioms mächtig, sondern auch der Sprache der Römer, obwohl die Zentren der von Bonifatius bereisten und intensiv missionierten Gebiete (Fritzlar, Erfurt, Fulda, Eichstätt usw.) niemals zum Imperium Romanum gezählt hatten.

Die Schwerthiebe in den Codex, den der Apostel der Deutschen und Begründer von Bistum und Kloster Fulda über seinen Kopf gehalten haben soll, um sich zu schützen, waren ebenfalls in Paderborn zu bestaunen [PKat VII.30]. Dass der Codex in einer Schrift geschrieben ist (Abb. 4), die sich doch erheblich stärker von der angelsächsischen Minuskel, die in Fulda heimisch wurde, unterschied, als diese wiederum von der merowingischen Minuskel, die in Corbie „erfunden“ worden war, macht das Ganze noch rätselhafter. Denn die Frage, warum der Angelsachse (!) Bonifatius nicht ein Buch in der ihm vertrauten und von ihm bzw. seinen Gefährten aus England exportierten Schrift gelesen hat, lässt sich nicht beantworten.

Abb. 4: Das „Schwerthieb“-Buch des Bonifatius, vor 754, geschrieben in einer nicht-insularen Minuskel. Warum las Bonifatius Bücher in einer ihm nicht vertrauten Schrift?

Abb. 4: Das „Schwerthieb“-Buch des Bonifatius, vor 754, geschrieben in einer nicht-insularen Minuskel. Warum las Bonifatius Bücher in einer ihm nicht vertrauten Schrift?

Aber kehren wir zum ältesten Fuldaer Bücherverzeichnis zurück, wie [in Fulda 1992, 3ff] minutiös beschrieben. Die gesamte Hs. enthält neun Texte, darunter neben Theologica auch medizinische Rezepte, den „Basler Blutsegen“ gegen krankhaften Blutfluss bei Frauen und astronomische Tafeln. Das Bücherverzeichnis ist nachträglich auf einem leer gebliebenen Blatt eingetragen worden und auf einem Blatt mit Darstellung der Mondphasen zur Zeit der beiden Sonnenwenden (eine astronomische Auswertung ist m.W. bisher noch nicht erfolgt; allerdings ist das Wort „luna“ in dem Kreis eindeutig als in karolingischer Minuskel geschrieben zu erkennen). Die Frage, ob das Verzeichnis unter Abt Baugulf (779-802) oder Abt Ratgar (802-817) angelegt wurde, bleibt offen. Auf dem Einband (seine Datierung wird nicht mitgeteilt) ist der Name RATGART eingeritzt.

Zu einem unbekannten Zeitpunkt und aus unbekanntem Grunde wurde ein Teil des Bücherverzeichnisses abgeschabt. Die Entzifferung des gesamten Textes ist daher schwierig. Das Verzeichnis soll wenigstens 48 Titel benannt haben, von denen sich 39 etwas näher bestimmen ließen. Es wird folgende Auswertung angeboten [Fulda 1992, 12f]:

„Um 800 verfügte das Kloster Fulda über solche Schriften, die im Ostteil des Karolingerreichs für eine Möchsgemeinschaft kennzeichnend gewesen sein dürften, die ihr Kloster als eine ‚Stätte rein und ausschließlich monastischen Lebens’ verstand, noch nicht als Bildungsstätte: Texte aus der Hl. Schrift, Heiligenviten, asketische Literatur.“

Die „Epistola de litteris colendis“ Karls von 789 hatte demnach in Fulda noch nicht gegriffen, vielleicht war der Brief aber auch noch nicht eingetroffen. Doch weiter:

„Die griechischen Kirchenväter sind als solche nicht vertreten; denn von Basilius besitzt man allenfalls eine asketische Schrift. Von den lateinischen Kirchenvätern sind lediglich Gregor der Große und Isidor etwas gegenwärtig. Anders als ein knappes halbes Jahrhundert später scheint Augustinus als systematischer Theologe noch unbekannt zu sein. Auch für Predigt und Seelsorge steht kaum Literatur zur Verfügung.“

Ist dies schon bemerkenswert, geht es aber noch weiter:

„Es erstaunt, dass die Regula sancti Benedicti, die drei Codices Bonifatiani, Willibalds Vita Bonifatii, die Briefe des Bonifatius und Eigils Vita Sturmi nicht in dem Verzeichnis erscheinen. Ebenfalls nicht aufgenommen sind die Schriften der Handschrift, in die das Verzeichnis eingetragen wurde.“

Dies ist ein herber Schlag! Das Kloster Fulda wurde zweifelsfrei von Bonifatius und Sturm 742 ins Leben gerufen und 747 grenzgesichert; 751 hatte es das Privileg des „apostolischen Stuhls“ erhalten. Es wurde zweifelsfrei nach den Regeln Benedikts geführt. Es zählte unter Abt Sturm „bis auf 400 Brüder, außer den vielen Novizen und niedern Personen“ und hatte bei Sturms Tod „durch Vergabungen von Privaten und Fürsten, insbesondere Pipins und Karl des Grossen“ 63 Besitzungen, die von Graubünden bis zur Nordsee reichten, von der Elbe bis zur Maas und den Vogesen [so schon Böhringer 1849, 129].

Doch im Kloster Fulda waren die zentralen Schriften für das eigene Haus nicht bekannt

  • weder die Regel Benedikts,
  • noch die Vita Bonifatii, die „wohl um 760 […] der angelsächsische Priester Willibald in Mainz […] verfaßt [hat]“ (PKat II, 475; dazu mit Abbildung VII.32, ein 103 Bll. umfassendes Konvolut in eindeutig karolingischer Minuskel, datiert 1. Viertel 9. Jh., worin rätselhafter Weise wiederum eine Erwähnung der Gründung des Klosters Fulda fehlt),
  • noch die Briefe des Bonifatius selbst, die in Paderborn in einer Sammelhandschrift „Mainz, Ende 8. Jahrhundert“ auftraten [PKat VII.33], ebenfalls eindeutig in einer karolingischen Minuskel geschrieben,
  • – vom Fehlen der Vita Sturms, des Abtes also, der Fulda sofort zu Glanz und Größe gebracht hatte, ganz zu schweigen (und das, obwohl im Fuldaer Verzeichnis ein „Sancti Fursei liber“ enthalten ist, vermutlich die Vita des Furseus, des Missionars der Ostangeln und neben Columban bekanntesten Iren im Frankenreich, gest. 647).

Doch weiter [Fulda 1992, 13]:

„Darauf, dass das Kloster Fulda schon etwa zwei Jahrzehnte  später im Ostteil des Frankenreichs einer der wichtigsten Träger des allgemeinen christlichen Bildungswillens der Karolinger sein würde, weist das Bücherverzeichnis nicht hin es sei denn, es ließe sich nachweisen, dass es als die Bestandsaufnahme gedacht war, von der man zwecks Aufbau einer diesem Bildungswillen entsprechenden Bibliothek ausgehen wollte.“

Während der erste Satz durchaus nachvollziehbar ist, was dann aber den „christlichen Bildungswillen der Karolinger“ ins Reich der Märchen verweisen würde, ist der zweite Teil schon deshalb kindisch, weil das Verzeichnis tief versteckt in einer Sammelhandschrift schlummerte, die in dem Verzeichnis, wie gesagt, fehlt: wie kann jemand in ein Buch, das ihm ja zur Verfügung gestanden haben muss, Bücher verzeichnen, die ihm ebenfalls greifbar waren, ohne das Buch, in das er es gerade schrieb, zu erwähnen?

Und endlich:

„Die Sprachgestalt des Verzeichnisses lässt unvollkommene Lateinkenntnisse des Schreibers vermuten. Mit der orthographischen Lautgestalt eines Namens wie Basilius oder von Wörtern wie epistola, apostolus, dialogi scheint er nicht vertraut gewesen zu sein.“

Der Schreiber kann daher nicht der Bibliothekar gewesen sein, was die These von der „Bestandsaufnahme“ ohnehin ad absurdum führt. Und dass Mönche, die Probleme mit dem Schreiben selbst einfacher Wörter hatten, eine Bildungsoffensive hätten starten können, darf bezweifelt werden.

Nun wäre es für die Historiographie ein Leichtes, sich von dem Text des ersten Bücherverzeichnisses überhaupt zu distanzieren, was aber aus diversen Gründen nicht geht: Zum einen ist das Verzeichnis in der für das frühe Fulda typischen angelsächsischen Minuskel verfertigt. Würde es gekippt, müsste die Frage gestellt werden, wie man denn im frühen Fulda wirklich schrieb und zwar so, dass es Gnade in den Augen des großen Gründers Bonifatius gefunden hätte.

Zum zweiten wäre zu fragen, welchen Bestand welcher Bibliothek das Verzeichnis erfasst, wenn es nicht Fulda ist. In insularer Schrift wurde u.a. auch in Mainz oder Hersfeld geschrieben. Dann allerdings macht die Aufschrift RATGART auf dem Einband das Ganze noch verdächtiger. Zum dritten müssten dann auch die übrigen Manuskripte der Basler Hs. chronologisch gekippt werden, denn warum sollten diese einen Bezug zu einer datierbaren Realität haben, das Bücherverzeichnis aber nicht.

Zum vierten schließlich müsste die Datierung der angelsächsischen Minuskel völlig neu aufgerollt werden, die ja bekanntlich eine Schrift war, die im Gefolge der karolingischen Schriftreform aus den Skriptorien verschwunden sein soll. Eine Umdatierung der angelsächsischen Minuskel könnte aber nur bedeuten, sie vorzuverlegen, also ins 7. oder gar 6. Jh. Das scheidet aber aus, da England selbst erst im 7. Jh. christianisiert wurde [vgl. PKat II, 467]. Die Missionsarbeit des Furseus im 7. Jh. wäre dann obendrein erledigt.

Eine Verlegung ins 10. oder 11. Jh. wiederum würde den gesamten (!), in karolingischer Minuskel abgefassten Bestand von Tausenden herrlichster Handschriften (man denke nur an das „Lorscher Evangeliar“!) in Frage stellen. Denn wie hätte nach der „Einführung“ der schönen, klaren und unschwer nachzuvollziehenden „karolingischen“ Schrift jemand auf die Idee kommen können, eine erheblich „schlechtere“ Schrift zu entwickeln? Wobei Leute, die diese Schrift dann benutzten, des Lateins so stümperhaft nur mächtig waren, dass sie die oben angeführten Standardwörter („epistola“!) nicht richtig schreiben konnten. Und wie hätten solche Leute die von Karl dem Großen geforderte Bildungsinitiative („epistola de litteris“) starten können?

Die Zwickmühle, in der die Historiographie steckt, ist also nicht zu übersehen. Diese wird allerdings noch verzwickter, wenn wir das älteste deutsche Bücherverzeichnis einmal den aufgeführten Titeln nach Revue passieren lassen.

Unter Punkt 6 – in dem freilich abgeschabten (!) Teil des Verzeichnisses – erscheint nämlich eine „Apocalypsis apostoli sancti Pauli“. Die Bearbeiter des Verzeichnisses tun diesen Titel ab mit einem [Fulda 1992, 6]:

„Vielleicht die apokryphe Visio sancti Pauli; oder vielleicht der aus Fulda stammende nordostfranzösische Apokalypsencodex mit Homilien des Caesarius von Arles.“

Wieso Caesarius von Arles unter dem Decknamen „postul sci pauli“ in Erscheinung treten soll, ist nicht nachvollziehbar und die „Visio sancti Pauli“ ist nicht ‚apokryph’. Immerhin gibt es einen unter diesem Rubrum laufenden lateinischen Text auch in St. Gallen [dort Codex 317] sowie weitere Paulus-Apokalypsen auf griechisch, armenisch, koptisch und syrisch. Die aktuellste NT- und Apokryphen-Edition schreibt denn auch [NT 1999, 1196]:

„Im Abendland war besonders die lateinische Paulus-Apokalypse sehr wirksam (Einwirkung auf Dantes Göttliche Komödie).“

Vielleicht war ja Dante in Fulda (oder St. Gallen) auf Besuch und hat die Paulus-Apokalypse dort einsehen können?

Die älteste erhaltene Paulus-Apokalypse liegt inzwischen als Teil der Codices von Nag Hammadi auch in einer einwandfreien deutschen Übersetzung vor [NT 1999, 1223-1226]. Die Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi in Oberägypten waren 1945 gefunden worden. Sie enthielten bekanntlich u.a. den Text des Thomas-Evangeliums, was den NT-Forscher Burton L. Mack zu dem Ausruf veranlasste [Mack 2000, 88]:

„Die Experten waren fassungslos.“

Nun stehen wir nicht minder fassungslos vor dem Fakt, dass in Fulda (oder wo auch immer im deutschen Sprachraum) in der Zeit „um 800“ eine Paulus-Apokalypse kursiert haben muss, die eine völlig andere Theologie beinhaltet als das, was in den biblischen Kanon Eingang gefunden hat. Die Editoren von NT 2000 datieren die Entstehung der ältesten Paulus-Apokalypse auf das 2. bis 4. Jh. und beschreiben diese völlig andere Theologie des Werkes so [NT 1999, 1223]:

„Der Text ist eine Auseinandersetzung mit 2 Kor 12,15. Während Paulus nach 2 Kor 12 nur bis zum dritten Himmel entrückt wird (für damalige Verhältnisse durchaus hoch genug, um bis zu Gottes Thron zu gelangen), wird er nach der Apokalypse bis zum 10. Himmel entrückt. Der ‚alte Mann’, den Paulus nach Kapitel 8 dieses Textes im siebenten Himmel begrüßt, ist wohl der traditionelle Schöpfergott. Doch zusammen mit den zwölf Aposteln geht Paulus in den zehnten Himmel. – Die Zehnzahl stammt aus der Sibyllinistik und meint die Sphäre, die dem heidnischen Seher und Propheten zukommt. Für Gnostiker bedeutet die Rezeption dieser Überlieferung: Paulus und auch sogar die Zwölf stehen höher als der Schöpfergott!

Dies ist sensationell. Ein über Gott stehender Paulus und das ganze in Fulda „um 800“ zu lesen! Irgendwie beginnt man zu begreifen, warum der Eintrag mit der Paulus-Apokalypse in späterer Zeit abgeschabt wurde.

Das Fuldaer Verzeichnis verfolgt eine klare Ordnung: Zuerst kommen (1-6) Schriften aus dem NT, anschließend (7-13) solche aus dem AT. Die Theologische Fakultät Fulda erkennt denn auch [Fulda 1992, 12]:

„Es fällt auf, dass man um 800 in Fulda offenbar noch nicht die ganze Hl. Schrift besitzt.“

Interessant! Doch nicht nur das. Bei der Auflistung der Schriften des NT fällt auch auf, dass die Offenbarung (Apokalypse) des Johannes fehlt und an ihre Stelle unbezweifelbar die des Paulus tritt. Eine solche Zusammenstellung, die überdies im Fuldaer Verzeichnis noch sub Nr. 3 mit einem Titel „Sanctus Lucas est medicus“ (zu einem nicht näher definierbaren Text) gewürzt wird, widerspricht dem Standard der Überlieferung und der aktuellsten Bibelforschung [z.B. Mack 2000, 384ff]: Was angeblich Tertullian, Klemens von Alexandria, Eusebius, Hieronymus und Augustinus zur Fixierung des christlichen Kanons beigetragen  haben, könnte sich daher ebenso als Chimäre entpuppen wie diese Personen als fiktiv. Im Fuldaer Verzeichnis erscheint von den Kirchenvätern ohnehin nur Augustinus mit den sub 28. genannten „Sermones sancti Augustini“. Aber vielleicht konnten die Schriften der Kirchenväter nur deshalb in der Zeit „um 800“ nicht beschrieben und gelesen werden, weil es sie noch gar nicht gab? Ich komme darauf zurück.

Auch das immer wieder als entscheidendes Datum zur Kanonisierung der Bibel herangezogene erste Konzil christlicher Bischöfe in Nicäa [zuletzt Mack 2000, 384f] entpuppt sich in der wichtigsten und zudem ortsnächsten byzantinischen Quelle Theophanes als eine Streiterei über theologische Finessen, der nur wenige Zeilen gewidmet sind. Von dem Ringen um Kanonisierung findet sich nirgends eine Spur [Mango/Scott 1997, 44].

Fulda und der Staffelsee

Nun gibt es zur ältesten Fuldaer Bücherliste ein wichtiges und obendrein zeitgleiches Pendant, das die Historiographie zwar bestens kennt, bisher aber noch nicht zur Beantwortung der Frage untersucht hat, was denn „um 800“ so in deutschen Bibliotheken gestanden haben mag. Es handelt sich um das Inventar des Klosters auf der Insel Wörth im oberbayerischen Staffelsee, überliefert in den Brevium Exempla (= BE), das sind Musterbeispiele für Zusammenstellungen von kirchlichen und fiskalischen Besitzungen. Das BE wird seit jeher auf die Zeit zwischen 770 und 800 datiert und mit zahlreichen anderen Verzeichnissen in Zusammenhang gebracht wie denen der Klöster bzw. Kirchen von Milz, Weißenburg im Wormsgau, Fulda, Münnerstadt, Solnhofen, aber auch dem Lorscher Reichsurbar und dem St. Galler Klosterplan [Metz 1954]. Den St. Galler Klosterplan hat V. Hoffmann 1989 als Fiktion erkannt und Illig als nichtkarolingisch enttarnt [Hoffmann 1995; Illig 1996, 262f].

Das Staffelsee-Inventar ist ausweislich des mir vorliegenden Faksimile in einer feinen karolingischen Minuskel geschrieben und – wiewohl in vertauschten Lagen gebunden, aber doch von gleicher Hand geschrieben – untrennbar mit einem zentralen Dokument Karls des Großen verknüpft, nämlich seinem „Capitulare de villis“ (= CV, Codex Helmstadiensis 254 der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel).

Ebenso wie die BE und die ebenfalls damit physisch verbundenen und von gleicher Schreiberhand stammenden Briefe Papst Leos III. an Karl den Großen, ist auch das CV in nur einem einzigen (!) Exemplar auf uns gekommen, obwohl es sich dabei um eine für das ganze, riesige Reich verbindliche Anweisung zum „richtigen Wirtschaften“ handelt. Der Text soll aus dem Besitz des protestantischen Kirchenhistorikers Matthias Flacius Illyricus († 1575) stammen, ist also wie vieles, was wir noch kennen lernen werden, eine ziemlich „späte“ Entdeckung, mehr als 700 Jahre nach seiner angeblichen Niederschrift. Das CV wird uns ebenfalls noch ausführlicher beschäftigen.

Auf folio 9r finden wir nun folgenden Bücherbestand der St. Michaelskirche auf der Insel Wörth (vgl. Abb. 5):

  • Die sieben (?!) Bücher Moses („liber eptaticu[m] Moysi“), das Buch Josua, das Buch der Richter, das Buch Ruth und vier Bücher der Könige und zwei Bücher „Paralippomenon“ in einem Band (die beiden ersten Bücher Könige sind im AT als erstes und zweites Buch Samuel zu finden; die beiden Bücher Paralipomena als erstes und zweites Buch Chronik).
  • Die Psalmen Davids, das Buch der Sprüche („parabule“ könnte auch im weiten Sinne mit „Weisheit“ übersetzt werden), der Prediger Salomon, das Hohelied Salomon, Jesus Sirach, Hiob, Tobias, Judith, Esther und die beiden Makkabäer-Bücher in einem Band.
  • Die Bücher von zwölf Propheten und die beiden Bücher „Hesdrae“ (i.e. Esra und Nehemiah) in einem Band.
  • Apostelgeschichte, Paulusbriefe, sieben Bücher von „epistolaru[m] canonicaru[m]“ (vermutlich die restlichen Apostelbriefe) sowie die Apokalypse (welche?) in einem Band.
  • Ein Buch mit Lesungen für das Kirchenjahr.
  • Ein Buch mit Predigten verschiedener Autoren.
  • Ein Buch mit 40 Predigten des seligen („beati“) Gregors. Warum Gregor der Große als „beatus“ und nicht als „sanctus“ erscheint, bleibt unklar. Schließlich wurde er, der Überlieferung gemäß, sofort nach seinem Tod am 12. 3. 604 von der Römer Bevölkerung „heilig“ gesprochen.
  • Drei Bücher Sakramentare.
  • Zwei Bücher mit (weiteren) Lesungen.
  • Ein Buch mit Exzerpten des Kanons.
  • Ein Buch mit Psalter-Exzerpten bzw. -Deutungen ohne Autor.
  • Ein altes („vetustus“) Buch mit den vier Evangelien (als „Vetus“-Bücher wurden in der Zeit des aufkommenden Buchdrucks im 15. und 16. Jh. grundsätzlich Handschriften bezeichnet).
  • Zwei Bücher mit Gesängen („libri antifonarii“).
  • Ein Buch mit dem Kommentar des Hieronymus zu Matthäus.
  • Ein Buch mit den Regeln des Hl. Benedikts.

Es bedarf keiner großen mengentechnischen Kenntnisse, um sofort festzustellen, dass der geistliche Komplex auf der nur 38 ha großen Insel Wörth „um 800“ eine unvergleichlich bessere Bibliothek besessen hatte als das Kloster Fulda, die deutsche Speerspitze des Christentums. Dies verhält sich allerdings umgekehrt proportional zu den wirtschaftlichen Gegebenheiten.

Abb. 5: Bücherverzeichnis des Klosters auf der Insel Wörth im Staffelsee, eindeutig in einer karolingischen Minuskel (das Gesamtverzeichnis steht zwischen den eckigen Marken). Der zugrunde liegende Text ist zeitgleich mit dem „Capitulare de villis“ entstanden, um 770 – 800. Warum hatte das unbedeutende Wörth eine unvergleichlich bessere Bibliothek als Fulda?

Abb. 5: Bücherverzeichnis des Klosters auf der Insel Wörth im Staffelsee, eindeutig in einer karolingischen Minuskel (das Gesamtverzeichnis steht zwischen den eckigen Marken). Der zugrunde liegende Text ist zeitgleich mit dem „Capitulare de villis“ entstanden, um 770 – 800. Warum hatte das unbedeutende Wörth eine unvergleichlich bessere Bibliothek als Fulda?

Der karolingische Kirchenbau auf Wörth wurde im Langhaus mit 23,5 m Länge und 13 m Breite ergraben, die Fuldaer Mönche hatten 820 aber schon die größte Basilika nördlich der Alpen fertig gestellt. Der gesamte Wörther Klosterbesitz ist auf „doch über“ 250 ha veranschlagt [HaasGebhard 1999, 147 u. 141]. Die Zahl der Wörther Mönche wird laut Fremdenführer mit etwa einem Dutzend angegeben (ihre Klausen wurden bei den 1992-97 stattgehabten Grabungskampagnen nicht gefunden). Aus Fulda kommt zur Sturm-Zeit mit ihren riesigen Ländereien, die sich über 63 reichsweit verstreute Besitzungen erstrecken, siehe oben, die Kunde von allein 400 Brüdern.

Da das alles niemals zu einander passen kann, muss eines der beiden zeitgleichen Klöster aus der Karolingerzeit „um 800“ verschwinden. Dabei böte sich Wörth als erstes schon deshalb an, weil die Grabungen ein so unendlich schlichtes Ensemble zu Tage gebracht haben, dass man sich schon fragt, wo denn diese, Fulda weit überragende Bibliothek überhaupt Platz gefunden haben mag. Außerdem ist den Ausgräbern ein böser Patzer unterlaufen.

Sie haben verheimlicht, bei den Grabungen auch einen Brakteaten gefunden zu haben, mit ziemlicher Sicherheit als unter dem Augsburger Bischof Udalschalk von Eschenlohe (1184-1202) geprägt identifizierbar (Abb. 6). Dies stellte sich heraus, als ich nach einem Besuch der Prähistorischen Staatssammlung München im Mai 2000 und einer dort höchst anregend gestalteten Führung durch Frau Dr. Barbara Wührer einige Dias mir zu Veröffentlichungszwecken ausbat. Dort war der besagte Brakteat eindeutig zu erkennen, fotografiert auf blauem Untergrund.

Brakteaten, sog. „Hohlpfennige“ und z. T. sogar weniger als 0,4 g schwer, sind aber bekanntlich eine hyperinflationäre Erscheinung des 12. Jhs. Sie beginnen um 1130 und verschwinden um 1200 in ihrem Kerngebiet zwischen Elbe, Main und Weser fast schlagartig wieder [Cahn 1998, 9], im südlicheren Deutschland kommen sie noch als aufs 13. Jh. datiert vor.

Nun kann natürlich auch im 12. oder 13. Jh. jedermann auf Wörth einen Brakteaten verloren haben. Aber die Tatsache seines Fundes in der Festschrift für einen hochverdienten prähistorischen Gelehrten zu verschweigen, ist ein höchst fragwürdiges Vorgehen.

Abb. 6: Brakteat des Udalschalk von Eschenlohe (1184-1202). Ein ähnlicher Brakteat (nur Kopf mit Mithra, Stab und Banner, und mit flachem Rand) wurde bei Ausgrabungen auf Wörth gefunden. Warum wurde der Fund verheimlicht?

Abb. 6: Brakteat des Udalschalk von Eschenlohe (1184-1202). Ein ähnlicher Brakteat (nur Kopf mit Mithra, Stab und Banner, und mit flachem Rand) wurde bei Ausgrabungen auf Wörth gefunden. Warum wurde der Fund verheimlicht?

Sollte nun Wörth als „karolingische“ Anlage zur Streichung anstehen, wäre dies allerdings der Abgrund für die gesamte Karolinger-Forschung. Denn mit dem BE würde auch das zeitgleiche Capitulare de villis fallen (von den Briefen Leos III. an Karl ganz abgesehen), und damit eine der tragenden Säulen der Karls-Geschichtsschreibung bersten.

Fiele das CV, würde es obendrein auch die berühmte „karolingische Minuskel“ mit sich in die Tiefe reißen. Denn dass eine Schrift „um 800“ entsteht, danach wieder verschwindet, um Hunderte von Jahren später wiederum neu zu entstehen, ist Unsinn.

Würde die Forschung allerdings das „karolingische“ Fulda zurückziehen, um Wörth als „karolingisch“ zu retten, wäre das Desaster in nichts geringer. Denn der Rückzug Fuldas aus der Karolingerzeit würde sämtliche Beziehungen dieses christlichen Bollwerks zu Karl dem Großen kappen, und damit wäre sein „Bildungsauftrag“ im Reich der Märchen verschwunden.

Die weiteren „karolingischen“ Bücherbestände in Fulda

Das zweite Bücherverzeichnis des Klosters Fulda lässt auch nicht gerade aufatmen, ist es doch ebenfalls vorherrschend in angelsächsischer Minuskel geschrieben ([Fulda 1992, 20f]; vgl. Abb. 7). Es ist im Akkusativ gehalten, das erste war im Nominativ, und konfrontiert uns mit insgesamt sechs verschiedenen Titeln, wobei der Schreiber nur dürftige Kenntnisse des Lateinischen besessen haben dürfte, schreibt er doch „misalem“, „sancti Agustini“ und „antipharium“. Immerhin enthält es die „regulam sancti Benedicti“.

Abb. 7: Zweites Fuldaer Bücherverzeichnis, 1. Hälfte 9. Jh., in angelsächsischer Minuskel (das Gesamtverzeichnis besteht aus den acht Zeilen rechts oben). Der Schreiber beherrschte geläufige lateinische Wörter nicht, z.B. schreibt er „misalem“, „Agustini“ oder „antipharium“.

Abb. 7: Zweites Fuldaer Bücherverzeichnis, 1. Hälfte 9. Jh., in angelsächsischer Minuskel (das Gesamtverzeichnis besteht aus den acht Zeilen rechts oben). Der Schreiber beherrschte geläufige lateinische Wörter nicht, z.B. schreibt er „misalem“, „Agustini“ oder „antipharium“.

Daran anschließend kommt gleich das dritte Bücherverzeichnis, allerdings nicht in Spaltenform, sondern durchgeschrieben und das in einer „Mischschrift aus karolingischer und angelsächsischer Minuskel“ [Fulda 1992, 21]. Die Auswertung klingt irgendwie bizarr, denn die Editoren schreiben [ibid. 22]:

„Aus dem Neuen Testament sind drei Titel angeführt: die Apostelgeschichte, die sieben apostolischen Briefe und die Apokalypse des Evangelisten Johannes. Mit Ausnahme der vier Evangelien und der Paulusbriefe gehört also das ganze Neue Testament zum verzeichneten Buchbestand.“

Als der im Verzeichnis genannte abbas wird „eher Hraban als sein Nachfolger Hatto (842-856) zu sehen sein“ [ibid. 23]. Wie der Hochwürdigste Herr mit einem Evangelium ohne die vier Evangelien zurecht gekommen ist, erfahren wir leider nicht. Die Editoren weichen dem Problem aus, indem sie die Bücherlisten samt der folgenden vierten, die acht Titel verzeichnet, endlich in karolingischer Minuskel geschrieben und auf 838/55 datiert, als Rückläufe in das Kloster bezeichnen, die dieses ausgeliehen hatte [Fulda 1992, 25]:

„Als die Bücher zurückkamen – eingetragen sind 48 Titel – scheint die Aufzeichnung der Klosterbibliothek bereits so weit fortgeschritten gewesen zu sein, dass man die zurückgeholten Bücher, immerhin wenigstens 33 verschiedene Schriften, nicht mehr an ihrer regulären Stelle im Bestand verzeichnen konnte.“

Abgesehen davon, dass die Aufzeichnung der Klosterbibliothek dann offenbar ein sich über Jahrzehnte hinstreckender Vorgang gewesen sein muss, ist doch zu fragen, warum der Fuldaer Bibliothekar die Bücher nicht mehr richtig einordnen konnte und die Verzeichnisse der „Heimkehrer“ in so schütterem Latein abgefasst wurden.

Das fünfte Bücherverzeichnis, als „Fragment des Bibliothekskatalogs“ bezeichnet, ist nun der lange erwartete Gigant. Geschrieben in karolingischer Minuskel führt es allein in der Abteilung Hl. Schrift 41 Bände. Dazu 31 von 37 Schriften des Hl. Hieronymus und von den etwa 100 Schriften des Augustinus auf jeden Fall 22.

Dieses fünfte Verzeichnis offenbart unter den Positionen 32 bis 34 allerdings gleich eine weitere Sensation. Es sind dort nämlich verzeichnet [Fulda 1992, 27]:

„Item evangelium Iohannis et Lucae greco latinum. Item psalterium greco latinum. Item epistolae greco latinae.“

Damit muss die Geschichte der abendländischen Rezeption griechischer Texte komplett neu geschrieben werden! Bisher galt als wissenschaftlicher Standard, was Ullman/Stadtler formuliert hatten [1972, 90; übers. PCM]:

„Griechische Manuskripte […] waren fast inexistent im mittelalterlichen Europa; sie mussten aus dem Osten von byzantinischen Gelehrten wie Manuel Chrysolares oder von eifrigen italienischen Studenten wie Giovanni Angeli da Scarperia, Guarino Veronese und Giovanni Aurispa gebracht werden.“

Chrysolares kam bekanntlich 1397 nach Florenz, wo er möglicherweise auf ein in der Bibliothek Boccaccios (hypothetisch) vorhandenes griechisches Fragment der „Hekuba“ des Euripides gestoßen sein mag, das Leonzio Pilato, der Griechischlehrer Boccacios, zwischen 1360 und 1362 geschrieben haben soll, sowie auf die Ilias und die Odyssee des Homer mit einer lateinischen Übersetzung zwischen den griechischen Zeilen, was aber fraglich ist. Jedenfalls erscheinen im Verzeichnis der Bibliothek Boccaccios von 1451 keine griechischen Handschriften [ibid., 91].

Die ältesten bekannten Originalurkunden der mittelbyzantinischen Zeit stammen aus dem 10. und 11. Jh., der berühmte „Kaiserbrief aus St. Denis“, angeblich 9. Jh., gilt als umstritten. Die älteste in der griechischen Buchschrift („Buchminuskel“ oder „kalligraphische Minuskel“) geschriebene Handschrift, der Codex Uspenskij [Evangeliar, Leningrad, Gr. 219] stammt aus dem Jahr 835 [Hunger/Stegmüller 1961, 98, 94].

Und jetzt also kommt Fulda daher und hat – etwa gleichzeitig oder wenig später – nicht nur zwei Evangelien, sondern auch den Psalter und die Apostelbriefe in „greco latinum“! Bedauerlicherweise sind diese zweisprachigen Fuldaer Codices spurlos verschwunden. Unter dem „greco latinum“ kann dabei nur eine Gegenüberstellung der Texte in den beiden Sprachen in einander gegenüber stehenden Schriftblöcken verstanden werden. Doch Bischoff hatte bislang unwidersprochen ausgeführt [1986, 48]:

„Seit dem XII. Jahrhundert herrscht das Streben, Text und Kommentar, zu einem geschlossenen Schriftblock zu vereinigen. Dies Ziel ist […] vielleicht nach dem Vorbild griechischer Kommentarhandschriften des römischen und kanonischen Rechts erreicht.“

Das römische und das kanonische Recht treten erst im 11. und 12. Jahrhundert in deutlichere Erscheinung.

Den Blick in die Bibliothek des Klosters Fulda in der Karolingerzeit können wir endgültig und ratlos senken, wenn wir jetzt noch ein weiteres Bücherverzeichnis zu Rate ziehen, das Johann Friedrich Schannat 1729 in seinen „Historia Fuldensis“ in gedruckter Form aus einer inzwischen verschollenen Quelle zum Besten gegeben hat [Fulda 1992, 57-84]. Dieses Verzeichnis, ebenfalls ins 9. Jh. datiert, enthält eine Abteilung „Regulae vitae monasticae“, die doch sage und schreibe 19 verschiedene Mönchsregeln von Klöstern aus ganz Europa enthält (Burgund, Gallien, Iro-Schottland, Portugal, Sevilla, Arles, Luxeuil, Annegray, Fontaine, Süditalien, Canterbury, Lyon). Als Verfasser der Regeln lernen wir neben Benedikt auch einen „Magister“ kennen, der eine Vorläuferin der Benedikt-Regeln verfasst haben soll, sowie Regeln des Augustinus und des Athanasius, die in den heute existierenden Schriftenkanons der Kirchenväter völlig unbekannt sind. Die Editoren erklären dazu [Fulda 1992, 73]:

„Dass ein Kloster des 9. Jh. über eine derart umfangreiche Regelsammlung verfügt, ist […] ungewöhnlich; denn im  Verlauf des 8. Jahrhunderts hat sich in Frankreich die Regel des hl. Benedikt immer mehr durchgesetzt. […] Hinter der Sammlung verschiedener Regeln im Kloster Fulda steht daher zu der Zeit, in der sie angelegt wurde, sicher auch eine bewahrende Absicht. […] Die monastischen Hauptströmungen des frühen Mittelalters sind darin deutlich vertreten.“

Da in den vorangegangenen Verzeichnissen zumeist die Regel Benedikts fehlt, in deren Tradition die Fuldaer Mönche aber „streng“ [ibid. 75] gelebt haben sollen, ist die Verwirrung komplett, zumal sogar eine „Regula monachorum Aegyptii“ in die Bibliothek Eingang gefunden hatte. Aber vielleicht waren die eigentlich zum abgeschirmten Leben in ihrer Abtei verpflichteten Fuldaer Mönche in Wahrheit weit reisende Leute, schließlich ist ja auch die im ersten Verzeichnis entdeckte Paulus-Apokalypse in dem im oberägyptischen Nag Hammadi entdeckten Papyrus-Bestand vorhanden?

Es bleibt überdies erstaunlich, dass die Mönche in Fulda nicht nur die für sie selbst geltende Regeln Benedikt immer wieder studieren konnten, sondern auch damit konkurrierende Regeln. Die Äbte müssen wohl sehr viel Interpretationsarbeit geleistet haben. Aber das dürfte der umfassende Bildungsauftrag Karls unschwer mit abgedeckt haben.

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