Primat des Papstes · Heiraten und Kinder bei Merowingern und Karolingern · Photios I.
von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 3/2010)
Die Vita eines erfundenen Potentaten mag aufregend oder auch langweilig sein, auf jeden Fall wird sie ihn als Fiktion nicht der Realität näher bringen. Aber sie kann aufzeigen, was der Auftraggeber eines solchen Textes seiner Mit- und Nachwelt nahelegen wollte. Beim dynastischen Ende der Merowinger und der ‘Erschaffung’ der Karolinger – ihr Name leitet sich ab von Karl Martell – ist dies unübersehbar. Aber auch bei ihrer Heiratspolitik wird mehr deutlich, als eigentlich lieb sein konnte. Und Patriarchat Photios I. verfügt im 9. Jh. über eine umfangreiche Bibliothek, in der allerdings die Bücher der letzten 230 Jahre fast nicht vertreten sind.
I. Kirche gegen Staat
Drei, vielleicht vier Staatsstreiche gegen die Merowinger
Seltsam bleiben die Merowinger in der Geschichte. Gemeinhin gelten ihre späteren Kinderkönige als müßiggehende Könige (rois fainéants) oder königliche Faulenzer, deren wesentliche Attribute sind: langhaarig und machtlos auf Ochsenkarren durchs Land gefahren werden. Da muss es mehr als verwundern, dass dieses fränkische Reich trotz ständiger innerer Zerrissenheit, bis zu vier Teilreichen und mangelnder Königsautorität stetig wächst und offenbar keinen äußeren Feind hat, der ihm bedrohlich werden könnte, trotz Awaren, Bretonen, Goten, Langobarden, Nordmännern, Sachsen, Slawen, Spaniern oder Moslems.
Vielleicht lag es daran, dass die Bischöfe von Rom als Steigbügelhalter der Merowinger auftraten, nachdem sich Chlodwig I. zwischen 496 und 507 ‘römisch-katholisch’ hatte taufen lassen. Damit war die äußerst junge Dynastie – vor dem Täufling rangieren nur Childerich I. (samt aufgefundenem Grab) und dessen bereits mit einer Sagengestalt vermengter Vater Merowech – gut ins damalige Machtgefüge eingebettet.
Tatsächlich droht ihr nur Gefahr von den pippinidischen Hausmeiern – und von kirchlicher Seite. Schon König Chilperich I. (561–581) klagt: „Keiner herrscht jetzt überhaupt als allein die Bischöfe“ [Geary, 127]. Daraus resultiert der erste Staatsstreich von 656/57: Hausmeier Grimoald dient unter Sigibert III., der keine Kinder hat, weshalb er Grimoalds Sohn adoptiert, der als Childebert (III.) adoptivus regieren soll. Doch da wird dem König noch ein Sohn, Dagobert, geboren, bevor er 656 stirbt. Grimoald lässt nun den kleinen Dagobert in ein englisches Kloster bringen und seinen eigenen Sohn den Thron besteigen. Unterstützung gewährt ihm Bischof Desiderius von Poitiers [Waldmann 1999, 130; Geary, 192]. Der kindliche Usurpator scheint in Austrasien sechs Jahre lang anerkannt gewesen zu sein, bis er 662 stirbt und der kleine Dagobert doch an die Macht kommt. Grimoald selbst wird 657 oder 662 vom Neustrier Chlodwig II. gefangen genommen und hingerichtet [wiki / Grimoald]. Der erste Putsch war niedergeschlagen.
Zugleich war die Linie Pippins d. Ä. bereits erloschen. Doch wieder half ein Mann der Kirche. Arnulf von Metz ist wie so manche mythische Heldengestalt der Gründer einer Familie, ohne selbst identifizierbare Vorfahren zu haben [Geary, 195]. Ab 614 Erzbischof von Metz, war er vor seiner Priesterweihe verheiratet und hatte neben einer Frau im Kloster zwei Söhne: Chlodulf wurde ebenfalls Bischof, Ansegisel heiratete mit Begga die Schwester des Grimoald. Aus dieser Ehe ging der Arnulfinger Pippin d. M. hervor.
Zweiter Staatsstreich gegen die Merowinger: Am 23. 12. 679 fällt König Dagobert II. in den Ardennen „durch die Tücke von Herzögen mit Zustimmung von Bischöfen“ einem Mordanschlag zum Opfer [Ewig laut genealogie]. Der neustroburgundische Hausmeier Ebroin dürfte der Urheber gewesen sein. Dieser will nach Dagoberts Tod seine Herrschaft auch auf Austrien ausdehnen, wird aber 680/81 von einem Neustrier namens Ermenfred erschlagen, der anschließend zu Pippin d. M. flieht [Schneider laut genealogie]. So kommt Theuderich III. zu Königswürden, so blieben die Merowinger an der faktischen Macht.
Pippin d. M. zeugt mit einer Nebenfrau seinen Sohn Karl, gen. Martell, den Vater von Pippin d. J. Dieser bereitet den dritten, nunmehr erfolgreichen Staatsstreich gegen die 250 Jahre lang regierenden Merowinger besser vor, indem er Papst Zacharias befragt [Waldmann 1999, 132; Geary, 219]:
„»Auf die Frage über die Könige in Franzien, die zu dieser Zeit keine königliche Macht haben, ob das gut sei oder nicht?«
Und die päpstliche Antwort:
»Es sei besser, der werde König genannt, der die Macht habe, als der, der ohne königliche Macht sei; und, damit die Ordnung nicht gestört werde, befahl er kraft apostolischer Autorität, daß Pippin König werde,«“ .
Demnach soll es zur papalen Macht gehören, Könige abzusetzen und ins Kloster zu schicken. Waldmann [ebd.] hebt richtigerweise hervor, dass hier nicht merowingische Geblütsheiligkeit durch Gottesgnadentum, sondern Gottesgnadentum durch Kirchengnadentum ersetzt worden ist. Aus phantomzeit licher Sicht hieße es natürlich ‘ersetzt worden wäre’ – als Legitimation für alle späteren Päpste.
Und so wird 751 auf dem Reichstag zu Soisson Childerich III. abgesetzt und Pippin d. J. durch den hl. Bonifaz gesalbt – ein den merowingischen Sakralkönigen noch unbekannter Zeremonialteil [Schieffer 1992, 60], den Josef Semmler [2003] als nicht geschehen sieht, wie er auch die Bekräftigung von 754, als in Saint-Denis (erneut?) Pippin, diesmal mit seinen beiden Söhnen Karl und Karlmann, gesalbt wird, nur als „postbaptismale Taufsalbung“ bewerten kann. Rudolf Schieffer versteht die Botschaft der (fraglichen) Salbung zu Soisson von Grund auf:
„Sie sollte die Legitimation des Herrschers stärken, indem sie seine göttliche Erwählung und Begnadung augenfällig machte, förderte aber auch die Vorstellung vom Königtum als einem verliehenen Amt“ [ebd.; Hvhg. HI].
So war durch die späteren Fälscher – alle Staatsstreiche liegen in der Phantomzeit – klargestellt, dass schon in früher Zeit Bischöfe Aufstände gegen die merowingischen Könige unterstützen durften und dass primär die Päpste das Recht hatten, Könige sowohl zu ernennen als auch abzusetzen!
Unter den Karolingern gibt es von 830 bis 833 mehrere Putsche gegen Kaiser Ludwig den Frommen, die aber alle von seinen Söhnen ausgehen und damit endigen, dass Ludwig 834 zu Saint-Denis wieder in Amt und Würden eingesetzt worden ist, immer der „zurückgewährenden göttlichen Huld“ bewusst [Schieffer, 134]. Familiäre Zwiste führten demnach nicht zu endgültigen Absetzungen; sie wurden durch die geistliche Hand, sprich durch etliche Bischöfe beendet – so die Botschaft der Fälscher, die Geary [225] nicht verstanden hat. Immerhin wird als Hauptschuldiger für die Putsche mit Erzbischof Ebo von Reims ein Kirchenmitglied als Sündenbock für die Absetzung gefunden, der aber selbst nicht abgesetzt wird, sondern zu den Bischöfen gehört, die Ludwig dem Frommen wieder die Krone aufsetzen [Althoff, 293]. Dahinter trat die sonst so wichtige Genealogie zurück:
„Die Angehörigen der königlichen Familie waren nützliche Symbolfiguren, um die sich die Parteien scharen konnten, spielten aber keine selbständige Rolle. Sogar die genauen familiären Verbindungen zwischen den Merowingern sind unklar. Die Zeitgenossen hielten es nicht einmal für notwendig, die genaue Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem letzten Merowingerkönig Childerich III. (743–751) und den berühmteren Nachkommen Chlodwigs festzuhalten“ [Geary, 183].
Alle drei Staatsstreiche liegen in der Phantomzeit, konnten also Bedürfnisse der Fälschungszeit befriedigen. Der einzig reale ‘Staatsstreich’ fand 614 statt, als weniger die Bischöfe als die Großen des Reichs die Rechte ihres Königs (Paris: Edictum chlotharii) beschnitten [Esders, 336-345].
II. Heiratspolitik: Päpste contra Karolinger
Im letzten Heft hat Gerhard Anwander [2010] gezeigt, wie honorige Mediävisten (Johannes Fried) und phantasievolle Schriftstellerinnen (Martina Kempff) mit dem scheinbaren Kuriosum umgehen, dass Karl d. Gr. seinen Töchtern keine standesgemäßen Heiraten gestattete. Dabei ist hier eine ganz spezielle Heiratspolitik zu beobachten, die dem habsburgischen Motto diametral entgegensteht. Es lautete:
Bella gerant alii, tu felix Austria nube.
Nam quae Mars aliis, dat tibi diva Venus.
(Kriege führen mögen andere, du glückliches Österreich heirate.
Denn was Mars den anderen verschafft, gibt dir die göttliche Venus.)
Anzusprechen sind folgende gescheiterte Heiratsprojekte, die den einschlägigen Chroniken und Briefsammlungen zu entnehmen sind:
a) 757 Pippintochter Gisela mit byzantinischem Thronfolger (Leon IV.),
b) 770 Karl mit langobardischer Prinzessin Desiderata,
c) 770 Karlmann mit der langobardischen Prinzessin Liutperga
d) 770 Königssohn Adelchis mit Karlsschwester Gisela,
e) 781 Karlstochter Rotrud mit byzantinischem Thronfolger (Konstantin VI.)
f) 789 Karlssohn Karl und Offas Tochter Aelfflaed,
g) 789 Karlstochter Berta mit Offas Sohn Ecgfrith,
h) 800 Karl mit Kaiserin Irene.
(Die in diesem Artikel genannten Jahreszahlen sind häufig genug vage oder fraglich, was der These ihres erfundenen Ursprungs nicht schadet.)
a) Gisela und Leon IV.
Am Beginn der Reihe steht der unwahrscheinlichste aller Hochzeitspläne: Vom byzantinischen Kaiserhaus sei um die Hand von Pippins d. J. Tochter Gisela, also um die Schwester Karls d. Gr. angehalten worden; als Werbegeschenk schickte der Kaiser eine Wasserorgel [zeno]. Da hätte also der stolze byzantinische Kaiser bei einem gerade erst durch einen päpstlichen Handstreich vom Hausmeier zum König Beförderten angefragt, ob sein Thronfolger die richtige Partie für eine fränkische Prinzessin wäre. Doch es geschieht noch Unwahrscheinlicheres. Der frisch gekrönte Parvenü hört auf ‘seinen’ Papst Stephan II. (s. unter b) und verzichtet auf diese phantastische Partie. Allein diese Überlieferung beweist, dass wesentliche Teile der Karlsgeschichte blanke, parteiische Erfindung sind.
Johannes Fried kann in seinem vom Historischen Kolleg ausgezeichneten Buch dem Geschehen trotzdem Positives abgewinnen:
„Immerhin bekundete jener Plan das weltweite Ansehen, welches das Frankenreich unter König Pippin erlangt hatte“ [Fried, 299].
Damit bekundet Fried nur, dass er die männliche Strahlkraft des fiktiven Überkaisers schon antizipierend in dessen Kindheit spürt.
b) Karl und Desiderata sowie c) Karlmann und Liutperga
Diese Beziehungen sollen durch Karls Mutter Berta eingefädelt worden sein, die von einer Reise die langobardische Königstochter Desiderata mitgebracht hat. Doch nun mischt sich Papst Stephan III. ein, indem er eindringlich Karl wie Karlmann davor warnt, die Beziehungen zu den Langobarden zu vertiefen. Seine Warnung kommt derb und ungeschminkt:
„Was für ein Wahnsinn, daß Euer edles fränkisches Volk, das alle Völker überstrahlt, und Euer so glänzendes und edles Königsgeschlecht befleckt werden sollte durch das treulose und stinkende Volk der Langobarden, das gar nicht unter die Völker gerechnet wird und von welchem bekanntlich die Aussätzigen stammen.“ [ma]
Aber er macht nicht nur üble Stimmung, sondern zieht auch andere Register, verweist er doch auf seinen Vorgänger Stephan II. (752–757), der Pippin erfolgreich abgeraten hatte,
„obwohl Kaiser Konstantin sich bemühte, Euren huldreichen und seligen Angedenkens (verstorbenen) Vater dazu zu bewegen, die eheliche Verbindung zwischen seinem Sohne und Euerer hochedlen wirklichen Schwester Ghisyla zuzulassen“ [Waldmann 1999, 98 f.; ebenso LMA IV: 1464].
Stephans Brief – in der MGH-Fassung 139 Zeilen lang [Pohl, 169] – enthält noch mehr Sprengstoff. Waldmann schildert und kommentiert die ungeheuerliche Brüskierung von Pippin, Karl und Karlmann so:
„In einem Nachsatz […] klärt Stephan III. die königlichen Brüder dann schließlich auch noch darüber auf, daß es ihnen aufgrund des von Pippin St. Petrus erwiesenen Gehorsams gleichfalls nicht gestattet sei, sich mit irgendeiner anderen Nation ehelich zu verbinden: neque vos aliae nationi licere copulari. – Es erstaunt schon, mit welcher Chuzpe die Stephane den fränkischen Königen, nachdem sie sich erst einmal dem good-will der Päpste ausgeliefert hatten, vorschreiben, mit wem sie sich zu verehelichen hatten und mit wem nicht!“ [Waldmann 1999, 99; seine Hvhg.].
„Der Papst verbot ihnen also, den Rahmen der eigenen Nation überschreitende, d.h. im eigentlichen Sinn dynastiepolitische Heiraten einzugehen“ [Waldmann 2002, 134; seine Hvhg.].
Wer hier irgendwelche falschen Interpolationen und dergleichen wittert, der muss erfahren, dass es sich bei Karl keineswegs immer um einen Überkaiser handelt. Oft genug ist er einfach eine päpstliche Marionette!
Weihnachten 770 heiratet Karl seine langobardische Braut (war er nicht bereits mit Himiltrud verheiratet?), Karlmann die schwesterliche (?) Königs tochter Liutberga (alias Gerperga?) [Wies, 141]. Mit dem Tod des 20-jährigen Karlmann besinnt sich Karl 771 der päpstlichen Weisungen:
„Alsbald kündigte Karl die Ehe mit der langobardischen Prinzessin und schickte die verstoßene Gemahlin, einer Kriegserklärung gleich, an den Vater zurück“ [Fried, 304];
der genannte Grund der Infertilität kann nach einjähriger Ehe nur ein vorgeschobener sein. Die üblicherweise Desiderata (neuerdings Gerperga [Nelson, 171 ff.]) genannte Prinzessin war ganz offensichtlich nicht mehr die „Ersehnte“, ging es doch jetzt um die Eroberung des Langobardenreiches mitsamt der eisernen Krone.
d) Acheldis und Karlsschwester Gisela
Langobardenkönig Desiderius wollte die Verbindung zwischen Franken und seinem Volk auch noch durch eine Heirat zwischen Karls Schwester und seinem Kronprinzen Acheldis verstärken. Dazu ist es wegen der gerade geschildert Ereignisse nicht gekommen [Waldmann 1999, 135]. Die im zarten Alter von 14 Jahren bereits zweimal erfolglos Verkuppelte beschloss, ihr weiteres Leben Christus zu widmen und ging ins Kloster Chelles verschellen.
e) Karlstochter Rotrud und Thronprätendent Konstantin VI.
Wenigstens eine Tochter Karls bekam die Chance einer – sogar mehr als – standesgemäßen Heirat. 781 wurde die gerade Sechsjährige, vielleicht auf Anregung der byzantinischen Kaiserin Irene, mit dem späteren Konstantin VI. verlobt. Anno 781 war Karl noch keineswegs der ‘Vater des Abendlands’; seine Niederlage bei Roncesvalles lag erst drei Jahre zurück, 24 Jahre Sachsenkriege lagen noch vor ihm – aber nicht nur Wies [94] sieht im fränkisch-langobardischen Großreich bereits einen Machtfaktor ersten Ranges.
Das Eheversprechen wurde 787 gelöst, wobei unklar bleibt, ob auf Betreiben Karls oder Irenes [ma]. Danach lebte Rotrud in freier Liebe mit Graf Rorico, dem sie den Sohn Ludwig gebar. Er wurde Abt von St-Denis.
f) Karlssohn Karl d. J. und Aelfflaed
Karl d. Gr. hat trotz des Papstverbots gelegentlich versucht, Ehekontakte mit ausländischen Potentaten anzuknüpfen, um regelmäßig zu scheitern. So hielt er guten Kontakt mit Offa von Mercien, den er in seinen Briefen als Bruder bezeichnete und dem er die Ehe zwischen seinem Sohn Karl dem Jüngeren und Offas Tochter Aelfflaed antrug. Dieser wollte im Gegenzug
g) Karlstochter Berta und Ecgfrith,
also eine Kombination, die Karl sogar Ansprüche auf Mercien eingebracht hätte, was aber gemeinhin übersehen wird, weil alle Beobachter darauf fixiert sind, dass er mit dieser ‘Heimtücke’ der Gegenwart einer seiner Töchter beraubt worden wäre. So
„möchte dann auch die Heftigkeit verständlich sein, mit der Karl im Zusammenhang seines Eheanbahnungsprojekts zwischen seinem Sohn Karl und der Tochter des englischen Teilkönigs Offa von Mercia auf die im Gegenzug von Offa geforderte Verehelichung von dessen Sohn Ecgfrith mit der Karlstochter Berta reagierte. Wies beschreibt, wie tief Karl verletzt war und darin eine Anmaßung erblickte und die fränkischen Häfen gereizt für englische Schiffe verschloß“ [Waldmann 2002, 87, nach Ernst Wies, 260].
Waldmann sieht allerdings weniger den drohenden Verlust väterlicher Liebesentfaltung; er wittert vielmehr ein Zusammenspiel zwischen britischem Hochadel und dem Papst.
h) Karl und Irene
Hier geraten wir ins einigermaßen Sagenhafte, nachdem die Beziehung zwischen West-Kaiser und Ost-Kaiserin nur schemenhaft überliefert ist. Um so größer sind die Möglichkeiten der Interpretation.
„Am 25. Dezember 800 ließ sich der fränkische König Karl der Große in Rom von Papst Leo III. zum (west-)römischen Kaiser krönen; damit beanspruchte er zugleich den oströmischen Thron, da der Basileus in Konstantinopel kürzlich verstorben und noch kein Nachfolger ernannt worden war. Zur Legitimation wollte Karl die Kaiserwitwe Irene, die zwischenzeitlich in eigenem Namen herrschte, heiraten; Irene allerdings lehnte ab und begründete dies mit der »niederen Abstammung« des »Germanen« Karl. Zwar war Karl als Sohn des fränkischen Königs Pippin der Jüngere königlichen Blutes, jedoch war Pippin bei Karls Geburt selbst noch nicht regierender Herrscher; demnach war Karl nicht purpurgeboren“ [wiki / Basileus].
(Dass Karl vorehelich geboren sein dürfte, störte hingegen nicht.) Immerhin schickte Irene zur – Karl so überraschenden – Krönung eine Marienreliquie [Wies, 283], wie ja auch Harun ar-Raschid rechtzeitig eine Wasserorgel nach Rom expediert haben soll – zwangsläufig viele Monate vor der Krönung.
„Irene befürchtete das Schlimmste: Karls Vormarsch nach Osten. Sie verlegte sich aufs Verhandeln. Man bangte am Goldenen Horn, der Franke könnte nach Usurpatorenweise Irene zur Ehe nötigen“ [Fried, 406].
Hier gerät dem Historiker aus dem Blickfeld, dass auch Karls weiteste Ausritte bis Saragossa oder Rom kaum mehr als die halbe Distanz der Strecke bis Konstantinopel ausmachten (ab Aachen in Luftlinie immerhin 2.000 km), Byzanz jedoch ein viel stärkerer Gegner gewesen wäre. Möglicherweise wusste der Fälscher bereits um die 1096 einsetzenden bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem mitsamt ihren Aktivitäten gegen Byzanz.
802 wird Irene gestürzt – und alle Mutmaßungen erledigen sich. Selbst Fried [689] bezeichnet sie bei ihrer letzten Nennung als „Chimäre“, üblicherweise Metapher für Trugbild oder Hirngespinst. Denn die Frau, die ihren Sohn blenden lässt, um selbst als erste Kaiserin Ostroms zu herrschen, wirkt allzu sehr wie die passende Fehlstelle in Byzanz, um Karl zu ermöglichen.
Anzumerken ist, dass der Papst auch über dynastische Trennungen entscheidet, etwa Nikolaus I. 863 gegen die Scheidung Lothars II., König des Mittelreichs [Schminck].
Walter Pohl [2007] weiß nichts von Fiktionalität, weshalb er nicht versteht, was bei den werbenden Karolingern vorgegangen ist. So muss er folgende beide Sätze schreiben:
„Nur die Dynastie der Karolinger scheint Heiraten mit Frauen, die von außerhalb ihres Machtbereiches stammten, lange Zeit möglichst gemieden zu haben“ [ebd. 161].
„Die Haltung der Karolinger zu auswärtigen Ehen war offenbar nicht a priori ablehnend, verhandelt wurde immer wieder“ [ebd. 187].
Waldmann erkennt darin das Wirken des päpstlichen Verbots. In unserer Sicht unterscheidet es einfach die Dynastie der Karolinger von anderen, dass bei ihnen nie Blut in den Adern, sondern immer nur Tinte auf Pergament geflossen ist, auch das ein Werk vorrangig von päpstlicher Seite, und die Fälscher sich ihr eigene Arbeit (die Verknüpfung mit ausländischen Stammbäumen) nicht unnötig erschweren wollten.
III. Heiratspolitik bei den Merowingern
Wie war das eigentlich bei den Merowingern, die durch Chlodwigs Taufe reüssierten, bevor sie von einem Papst gefällt wurden? Bei ihnen gab es sehr wohl Eheschließungen mit ausländischer Beteiligung. Über Pohl [2007, 185 ff.] hinaus fanden sich zehn Ehen. So heiratet
– Chlodwig I. um 493 die Burgunderin Chrodechilde,
– Theudebert nach 534 die Langobardin Wisigard,
– Chlothar I. nach 540 die Thüringerin Radegund,
– Theudobald um 554 die Langobardin Walderada,
– Sigibert I. 566 die Westgotin Brunihild,
– Chilperich I. um 567 die Westgotin Gailswinth,
– Childebert I. um 567 die wohl gotische Ultrogotha,
– Ingund 579 die Westgotin Hermenegild,
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– Chlodwig II. um 650 die Angelsächsin Balthild (familienlose Sklavin).
– Dagobert II. ca. 670 die Prinzessin Mechtilde von York. „Diese erste Herrschaft Dagoberts und seine Ehe gelten unter Historikern eher als zweifelhaft“ [wiki / Dagobert II.].
Verheiratet werden
– Childerichs Tochter Audofleda 493 an den Ostgoten Theoderich,
– Guntrams Tochter Chlodichild 526 an den Westgoten Amalrich,
– Chlothars I. Tochter Chlodoswinth vor 567 an den Langobarden Alboin,
– Hermenegild 579 an den Westgotenkönig Leovigild,
– Chariberts Tochter Berta um 580 an Aethelbert von Kent,
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– vielleicht Theudeberts Tochter Aemma nach 616 an Eadbald von Kent.
Mit einer Ausnahme (Aemma als unsichere Tochter und die fragliche Mechtilde hier nicht eingeschlossen) liegen alle Hochzeiten vor dem Jahr 614. Diese Ausnahme bildet Chlodwigs II. Frau Balthild oder Bathild. Aber sie gilt als angelsächsische Sklavin [ma / Bathild], bereitet also dank unbekannter Eltern bei der „Ansippung“ keinerlei Probleme. (Übrigens war ihr Hausmeier Ebroin [vgl. Heinsohn, 650], ansonsten ein tüchtiger Mann, „mit dem Hinrichten von Bischöfen allzu schnell bei der Hand“, wie eine alte, kirchliche Quelle bemängelt [Waldmann 1999, 131].)
So zeigt sich deutlich: Die realen Merowinger pflegen die übliche Heiratspolitik zwischen Dynastien, während die phantomzeitlichen Merowinger eine Fälschung sind: Sie antizipieren das päpstliche Heiratsverbot für Ausländer und werden aus Gründen der Fälscherökonomik nicht mit ausländischen Regentenlisten verzahnt. Die Merowinger endigen m. E. bereits mit Chlothar II. (herkömmlich 584–629), der die Reichsteile wieder vereinen kann, nein muss, nachdem sich alle Familienmitglieder bis auf ihn gegenseitig ausgerottet haben [vgl. Illig 1991]. Die danach folgenden rois fainéants sind ebenso Erfindung wie ihre Hausmeier. Hierzu passt Gearys Beobachtung [163]:
„Der Hof Chlothars [II.] und Dagoberts geriet zunehmend unter klerikalen Einfluß; bischöfliche Höflinge wie Eligius und Audoenus besaßen weit größeren Einfluß als Bischöfe des 6. Jahrhunderts.“
Die Klöster wurden nach 600 aus ländlichen Einsiedeleien zu wohlhabenden Institutionen, zu großen Anlagen mit reich geschmückten Kirchen, die vom König mit riesigen Teilen von Fiskalland beschenkt worden sein sollen. So wurde etwa Saint-Denis durch eine Schenkung von weiteren 2.000 Hektar „zum weitaus größten Grundbesitzer in der Region Paris“ [Geary, 175, 179, 213]. Albrecht Mann berichtet von 1.254 Klöstern aus der Zeit von 476 bis 855, während der Archäologe keine einzige Klosteranlage, allenfalls einige wenige Kirchen aus der Phantomzeit vorweisen kann [vgl. Illig 1996, 207 f.].
Die kirchliche Macht wird also während der Phantomzeit bewusst ausgestaltet. Dagegen wurde nachrangig, dass 614 im Edikt von Paris der Adel gegenüber dem König besser gestellt, aber auch die königliche Oberhoheit gegenüber dem Klerus mehr Gewicht bekam. Das überdecken die Heiratsinterventionen der Päpste Stephan II. und III.; aber bei Streichung der Phantomzeit verschwindet Chlothar II. nach dem Edikt von Paris – ob durch Tod oder durch Absetzung. Stattdessen wählt der Adel im November 614||911 den letzten Franken, Konrad.
150 Jahre nach Karl bemüht sich König Otto I. um eine purpurgeborene byzantinische Prinzessin für seinen Sohn, wird halb abschlägig beschieden und gibt sich mit der nicht purpurgeborenen Theophanu zufrieden. Hier stimmt das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West. Wenn Otto II. auch für seinen Sohn um eine Purpurgeborene anhält und sie auch versprochen bekommt (dass Otto III. vor der Begegnung schon tot ist, steht auf einem anderen Blatt), so ist der Vorgang ebenso in hierarchischer Ordnung.
Was aber sollten die kniefälligen byzantinischen Wünsche an Pippin und Karl? Sie können nur als Wunschtraum eines Autors eingestuft werden, der nach der Ottonenzeit (bis 1024) und nach dem Großen Morgenländischen Schisma (1054) das Bild des Überkaisers entwarf: Da er noch größer als Otto der Große sein sollte, brauchte es noch bessere Heiratsangebote.
Selbst Waldmann merkt nicht, dass diese gescheiterten Ehekontrakte nur deshalb so verquer, regelrecht pervertiert sind, weil sie allesamt Erfindungen für eine Phantomzeit sind, mit denen päpstliche Machtpolitik in realen Zeiten begründet werden sollte.
Und die Moral von der Geschicht’: Die Päpste machen an späten Merowingern und an Karolingern deutlich, dass es nicht im Belieben weltlicher Herrscher stehen darf, mit wem sie dynastische Bindungen eingehen oder Allianzen schmieden. Also keine Liebesheirat, auch keine ‘habsburgische’ Heirat, sondern papstverordnete Pflichtheirat – eine päpstliche Utopie. Und wer mit Hilfe der Päpste an die Macht kommt, der muss sich unterordnen, wird zu „»Hausmeiern der Päpste« degradiert“ [Waldmann 1999, 137] oder durch eine andere, devotere Dynastie ersetzt. Zum Dritten müssen die Fälscher nicht beliebig viele Dynastien miteinander verknüpfen.
IV. Die Unfruchtbarkeit der Karlskinder
Unterstrichen wird der Vorgang durch den Umgang Karls mit all seinen Töchtern, der im letzten Heft von Gerhard Anwander zwar subjektiv, aber durchaus korrekt dargestellt worden ist. Demnach [ebd. 487; auch Wies, 259] hätte Kaiser Karl sie nicht heiraten lassen, weil er machtgierige Schwiegersöhne fürchtete oder – gemäß Einhard –, weil er ohne ihr Gesellschaft nicht leben konnte. Ein völlig abseitiger Erklärungsversuch, denn wie sollte ein Adelsgeschlecht, das erst eine Generation zuvor vom Hausmeier- zum Königsrang aufgestiegen war, zu Reputation kommen, wenn es heimische Parvenüs ausländischen Kronprätententen vorzog? Hier wird der große Karl in eine Position als kurzsichtiger Emporkömmling gebracht, die er nicht lange hätte behaupten können. Ebenso abseitig ist das Zusatzargument von Wies [259], es habe außer Byzanz keine gleichwertigen Verbindungen gegeben. Demnach hätte keine oströmische Kaisertochter je ins Ausland heirateten dürfen; dabei gehört das zur Großmachtpolitik, wie die Heiraten mit bulgarischen Khanen oder 987 die Heirat einer Kaisertochter mit dem Großfürst von Kiew zeigen.
Erstaunlich, wie die Nachkommen von Großkarl mit einer einzigen Ausnahme im Kloster landen oder allzu früh versterben (fettkursiv hervorgehoben die jeweilige Mutter mit Hochzeitsjahr bei ihrem ersten Kind):
0 [Roland, der Legende nach inzestuös mit Schwester Gisela gezeugt. Da er 778 fällt, müsste er spätestens 760 geboren sein.]
1 Pippin d. Bucklige (770–811, Himiltrud, 768): lebenslange Klosterhaft
? Amaudra, die einen Grafen von Paris geheiratet hätte [bei ma / Himiltrud].
– (keine Kinder von Desiderata, 769)
2 Karl (772–811, Hildegard, 771): Lieblingssohn, unvermählt, kinderlos
3 Adalheid (773–774), Kindstod
4 Rotrud (775–810): nach Bruch ihres Verlöbnisses mit Kaiser Konstantin lebt sie mit Graf Rorico in freier Liebe; ihr einziger Sohn Ludwig wird Abt von St. Denis.
5 Karlmann (777–810), Pippin genannt: 5 Töchter ohne Schicksal [Wies, 303], sein aus einer Friedelehe stammender Sohn Bernward stirbt, geblendet durch Ludwig. d. Fr.
6 Ludwig (778–840): als Thronfolger Ludwig der Fromme (5 Kinder !)
7 Lothar (778–779), Kindstod
8 Bertha (779–nach 828), Beziehung mit Karls Hofgeistlichem Angilbert, daraus Nithard (790–845) und Hartnid († 813), beide kinderlos
9 Gisela (781–nach 800)
10 Hildegard (782–783), Kindstod
11 Theodrada (785–853, Fastrada, 783), Äbtissin
12 Hiltrud (787–nach 800)
13 Hruodhaid (787–nach 800, Mutter unbekannt)
– (Luitgard, 794)
14 Ruothild (?–852, Madelgard), Äbtissin
15 Adalthrud (?, Gerswind)
16 Drogo (801–855, Regina), Erzbischof
17 Hugo (802–844), Abt, Erzkanzler
18 Theoderich (807–nach 818, Adelind), Geistlicher [wiki / Karl d. Gr.]
Wenn wir den als Stammhalter unverzichtbaren Ludwig den Frommen beiseite lassen, so erwachsen aus den übrigen 17 Karlskindern vier Söhne: ein Abt, ein klerikaler Geschichtsschreiber, ein Rebell und ein Niemand, allesamt kinderlos. Zu ergänzen sind die beiden Söhne seines bereits 771 verstorbenen Bruders Karlmann. Da ihre Mutter Gerberga das Exil bei den Langobarden sucht, lässt Karl alle drei bei Verona fangen. „Bestenfalls verschwanden auch sie hinter Klostermauern; doch niemand hielt fest, wo. Über sie sollte Vergessen wuchern“ [Fried, 307]. So wird der Schluss verständlich, den Waldmann [1999, 137] zieht:
„Gleich seinem Vater Pippin offenbar ein Leben lang gebeugt unter der Last des päpstlichen Machtwortes, sah sich Karl außerstande, ein dynastiepolitisches Konzept zu verwirklichen. Man könnte ihn – und sein Geschlecht –, blickt man auf die Felix Austria, einfach als ›entmannt‹ bezeichnen.“
Engelbert Mühlbacher [I: 327 f.] sprach einst eher von ‘über-mannt’; in Karl
„lebte wie in seinem ganzen Geschlecht ein starker sinnlicher Zug, der, auch auf die schwächeren Nachkommen sich vererbend, in wenigen Generationen die körperliche und geistige Kraft des Geschlechtes erschöpfte.“
Aber selbst Päpste können Triebnaturen nicht mit Verboten gefügig machen. Nein, das lässt sich nur mit göttlicher Fügung, Fatum, Tyche, Moira benennen – oder mit Fälscherökonomie. Nachdem die Kraft von Karls Lenden hinreichend in Szene gesetzt war, sollte die mögliche Kinderflut – für jedes der stark sinnlichen Paare fünf bis zehn Kinder – nicht mehr weiter stören. Also lässt man sie aussterben: alle Nachkommen aus der Ehe Ludwig (d. Deutsche) und Hemma sind von Erbkrankheit befallen, ein zweijähriger Ludwig stürzt aus dem Fenster [Fried, 517], Arnulf trifft der Schlag [ebd. 540], während Ludwig das Kind zu gebrechlich ist, um das Schwert zu heben [ebd. 546]; in Fontenoy rotten sich drei Linien gegenseitig aus [ebd. 449], Karlmann stirbt durch einen Jagdunfall [Schieffer, 182], Ludwig III. rennt sich wegen eines Weiberrocks an einem Türstock zu Tode [Mühlbacher, II: 388].
„Der unaufhaltsam scheinende Schwund thronfähiger Karolinger, der […] seit 882 mit Karl III. [der Dicke] und Karlmann nur noch je einen Herrscher übrig ließ“ [Schieffer, 181],
erfasst auch des kinderlosen Karls Adoptivsohn Karlmann, der 884 tödlich verunglückt. Karl III. wird 887 gestürzt und stirbt 888. Damit
„brach 887/88 der bis auf Karl Martell zurückgehende Mannesstamm muntehelich geborener Karolinger ab“ [ebd. 187].
Über einen illegitimen Spross der ostfränkischen Linie, Arnulf von Kärnten, schleppt sich dort die Familie noch bis zu Ludwig dem Kind, der 911 im Alter von 18 Jahren stirbt.
So muss es sein, wenn ein fiktives Geschlecht einfach zwischen zwei andere eingefügt wird: Es beginnt mit einem Urahn ohne bekannte Wurzeln (Arnulf von Metz), entfaltet sich mächtig, verzweigt sich weitreichend, um dann jäh bis auf Null zusammenzuschrumpfen, muss doch der Übergang zur sächsischen Herrschaft sinnvoll gestaltet werden. Auch Fälschungen unterliegen zwingend der Logik.
Derartige Logik kann auch zu Unsinnigkeiten führen. Weil bei den realen Merowingern vor und nach Chlodwigs Taufe drei Formen des Zusammenlebens üblich waren: die offizielle Ehe samt Mitgift und Morgengabe, die ‘private’ Friedelehe nur mit Morgengabe und schließlich das Konkubinat [Geary, 111 f.], wurden diese für ein noch fast heidnisches Frankenvolk akzeptablen Gepflogenheiten auf den allerchristlichsten Karl fortgeschrieben, dessen Frauendienst entsprechend bizarr ausfiel.
(Im Westen regieren von 911 bis 987 vier Karolinger: Zunächst der durch Heinsohn [201] aufgewertete Karl der Einfältige, dessen sechs Töchter aus erster Ehe mit Frederuna, vor 911, von den Genealogen vergessen worden sind: „Die Geschichte schweigt über sie“ [Wies, 304]. In zweiter Ehe heiratet er 919 – nun ist das wieder möglich – mit Edgifa eine Prinzessin aus dem Hause Wessex, die ihm mit Ludwig IV. dem Überseeischen den Thronfolger schenkt.
Nach ihm regieren noch Ludwig IV., Lothar und Ludwig V. als neustrische oder ‘französische’ Könige. Dann wählen die Großen des Landes den Robertiner Hugo, später Capet genannt; Erzbischof Adalbero von Reims weiht und krönt ihn. Alle nachfolgenden Könige Frankreichs stammen in direkter Linie von ihm ab, das „Haus Frankreich“ seiner Nachkommen reicht bis 1848.)
V. Zwei-Schwerter-Lehre und Investitur
Im Vergleich mit der päpstlichen Heiratsorder ist der Wirbel um die verschiedenen Versionen der Karlskrönung am 25. 12. 800 (= erster Tag des Jahres 801) äußerst gut bekannt [zuletzt Anwander, 482]. Waldmann traut den allzu weltlich-machthaberischen Päpsten vieles zu, nicht aber das eigentliche Skandalon: die erfundenen Karolinger als Musterschablone für Eingriffe von oben in staatliche Befugnisse. Daher beschreibt er das fiktive Geschehen voller Entrüstung [1999, 138]:
„Mit einer Rücksichtslosigkeit bewegt sich hier Leo III. im Staatsrecht, die einem an die Erhaltung seiner Macht denkenden König unerträglich sein muß: Byzanz, zu dessen Besitz Rom nach wie vor gehörte, wird vor den Kopf gestoßen, Karl selber und sein Geschlecht in einen schier unüberwindbaren Gegensatz mit diesem getrieben. Schlimmer noch: Leo III. geriert sich (wie oft muß ich es noch wiederholen?) in pseudo-eschatologischer Weise als dominus dominantium, der er nicht ist, und als der er Karl das Leben bisher schon schwer gemacht hat – wenn auch in Folge von Pippins Unrecht.“
Mit anderen Worten, aus Sicht des Papstes: Wenn ich für Euch schon die Merowinger verjage, dann seid Ihr mein weltlicher Arm – nicht mein Kopf!
Es geht bereits hier um die Einsetzung von Kaiser und Königen, aber auch um die Einsetzung (Investitur) von Bischöfen, die im 11./12. Jh. zu den größten Streitigkeiten führen sollte. Ausgangspunkt war die Zwei-Gewalten-Lehre des Gelasius (492–496), nach der es die weltliche Gewalt (regalis potestas) und die geistliche Autorität der Bischöfe gibt, aber die Geistlichkeit für die Könige Verantwortung trage, weshalb der König „fromm den Nacken vor den Amtswaltern der göttlichen Angelegenheiten“ beugt [Schminck, 7]. Diese Sicht vertiefte Gregor VII. nach 1073 durch die Zwei-Schwerter-Lehre. Seltsamerweise stellte 614 das Edikt von Paris klar: Bischöfe dürfen nicht ihre Nachfolger ernennen; diese werden auch nicht vom Papst bestimmt, sondern von Klerus und Volk gewählt; der König bestätigt diese Wahl [Geary, 156]. Wusste man 614 noch nichts von Gelasius?
Andreas Schminck [2010] hat diesen Punkt kürzlich erhellt, indem er die frühesten Hinweise auf Gelasius zusammenstellte. Sie stammen nicht aus dem 5. Jh., sondern aus einem Brief von Papst Hadrian I. an Karl den Großen und dann aus der Zeit um 829. Der Forscher hat darauf seine Zweifel an der Gelasius-Lehre in 20 Punkten zusammengestellt und den Schluss gezogen, dass es sich bei dem fraglichen Brief von Papst Gelasius I. an Kaiser Anastasios I. um eine Fälschung aus dem dritten Jahrzehnt des 9. Jh. handelt, aus der Epoche der „Fälschungsepidemie“ (Heinrich Brunner) [ebd. 9]. Als Urheber wird Wala von Corbie, ein Vetter Karls d. Gr. und „Begründer der Fälschungsakademie von Corbie“ gesehen, der dort von 826 bis 830 Abt war. Unter Punkt 17 fügt Schminck [9] an, dass auch das Decretum Gelasianum (die kanonischen Schriften) und das Sacramentarium Gelasianum nicht von diesem Papst stammen, sondern frühestens aus dem 6. Jh.
Aus unserer Sicht sind diese angeblich karolingischen Fälschungen solche aus der Zeit von Gregor VII., der für seine Zwei-Schwerter-Lehre eine Antizipation benötigte und sich auch beschaffte. Walas Schüler Radbertus (Paschasius) wurde 2010 von Klaus Zechiel-Eckes als Pseudo-Isidor identifiziert [ebd.], aber auch diese umfangreichste aller mittelalterlichen Fälschungen entstammt keineswegs dem 9. Jh., vielmehr der Zeit nach 1050, als das Machwerk „aus der Werkstatt der lange begrabenen Fälscher“ [wiki / Pseudoisidor] wiederentdeckt worden sein soll [vgl. Illig 1996, 377 f.]. Auch hier liefern Fälscherökonomie und Fälschungseffizienz das entscheidende Wort.
Die Absetzung der Merowinger brachte den Päpsten die entscheidende Position, wusste doch nun jeder, dass sie das weltliche Schwert auch zurücknehmen konnten – was freilich erst unter Gregor VII. relevant wird. 1075 schrieb dieser in seinem Dictatus Papae [12], „dass es ihm erlaubt ist, Kaiser abzusetzen“ [wiki / Dictatus Papae]. Derartige Machtphantasien ließen sich mit der Merowingerbeseitigung trefflich untermauern.
Der Streit um die weltliche Macht kulminierte 1302, als Bonifaz VIII. in seiner Bulle Unam sancta festlegte, er beanspruche
„nicht die tatsächliche weltliche Macht in den Händen der Kirche, sondern die Unterordnung der Monarchen. Das »weltliche Schwert« untersteht dem »geistlichen Schwert«, es wird vom Papst eingesetzt und geduldet oder anders ausgedrückt: das geistliche wird von der Kirche geführt und das weltliche für die Kirche. Darüber hinaus soll die geistliche über die weltliche Gewalt Recht sprechen, wobei sie selbst nur Gott verpflichtet ist.“ [wiki / Unam sanctam]
Auf die Spitze getrieben wurden die Ausführungen der Bulle durch den Satz:
„Nun aber erklären wir, sagen wir, setzen wir fest und verkünden wir: Es ist zum Heile für jegliches menschliche Wesen durchaus unerlässlich, dem römischen Papst unterworfen zu sein“. [ebd.]
Ein Jahr später stürmen französische Söldner die Papstresidenz in Anagni und peinigen den Papst, der bald darauf stirbt. 1305 wird mit Klemens V. ein Papst französischer Herkunft gewählt, der 1309 den Stuhl Petri vom Lateran nach Avignon bringen lässt und 1312 den Templerorden auflöst. Bereits 1307 hatte Philippe IV die französischen Ordensoberen verhaften lassen, womit die Päpste sowohl ihrer militärischen Schutztruppe wie deren Finanzmacht verlustig gingen. Sic transit…
VI. Patriarch Photios und sein falsch bestückter Bücherschrank
Photios I. der Große mag seinen für einen Patriarchen überraschenden Beinamen zu Recht tragen. Sein Leben – trotz seiner Größe ohne Eckdaten; ca. 810 bis ca. 890 – spiegelt das vom Bilderstreit und seinen Folgen zerrissene Byzanz. Er ist Bilderbefürworter, deshalb im Exil und erst ab 842 als Lehrer, als wichtigster Lehrer [Treadgold = T. 1] in Konstantinopel [T. 3]; zu seinen Schülern gehört St. Constantin-Kyrill. Er steigt über Protospatharius bis zum Protoasecretis, zum Leiter der kaiserlichen Kanzlei auf. 856 wird er Patriarch für 9 Jahre [T. 3]. Nach einem Kaiserwechsel wird er exiliert, eingesperrt und 870 von einem Konzil verdammt. Doch er wird Erzieher des zukünftigen Kaiser Leon VI. und 877 noch einmal für 9 Jahre Patriarch. Als 886 dieser Leon den Thron besteigt, setzt er Photios ab und schickt ihn ins Exil. Dort stirbt er 893 oder kurz darauf in einem armenischen Kloster.
Aus dem Blickwinkel des erfundenen Mittelalters handelt es sich um eine fingierte Biographie, zumal der zweite Photios erst von 1929 bis 1935 das Amt innehat und damit als eigentlicher Urheber zuverlässig ausfällt. Es ist also zu prüfen, inwieweit ihm zugeschriebene Handlungen antizipativen Wert hatten für Päpste und Kaiser und wie weit seine Biographie richtig eingepasst werden konnte. Photios schrieb ein Lexicon, 843, und Gegen die Manichäer, die erweiterte Fassung von 872. Seine Homilien entstammen der Zeit vor 865, die meisten Briefe der Zeit von 868 bis 872, eingearbeitet in Amphilochia. Zuletzt schreibt er über die Abkunft des Hl. Geistes, Mystagogia, nach 886. Zwischen diesen Jahreszahlen oszillieren die Daten für sein bekanntestes Werk, nämlich
Bibliotheca,
eine Sammlung von Buchbeschreibungen und -auszügen von antiken und mittelalterlichen Codices und Büchern, die er gelesen hat [T. vii]. Sie umfasst 280 Werke, mit einer Ausnahme alle als „gelesen“ gekennzeichnet. Ihr Originaltitel lautet in englischer Übersetzung: Inventory and Enumeration of the Books That We have Read, Of Which Our Beloved Brother Tarasius Requested a General Analysis. Den Titel Bibliotheca erhielt sie erst im 16. Jh. [T. 4]. Geistliche und weltliche Bücher halten sich bei ihr in etwa die Waage [T. 7].
Die Überlieferungsgeschichte der Bibliotheca ist aufgeklärt: 25 Manuskripte, zwei ursprüngliche: Typ A aus dem 10. Jh. mit ursprünglich 537 Seiten, Typ B aus dem 13. Jh. mit 441 Seiten [T. 10, 24]. Unter den indirekten Zeugnissen könnte allenfalls eines aus dem 9. Jh. stammen.
Viel vager ist die Datierung von Photios’ ursprünglichem Manuskript: von 838 bis nach 875 bzw. postumer Publikation [T. 4]; zwischen diesen fast 40 Jahren entschied sich Treadgold für 845 [T. 13, 36]. Ein Grund für diese Schwankungsbreite ist der Umstand, dass in seinem Text zeitgenössische Werke praktisch fehlen. Der jüngste von ihm genannte Autor, Sergius Confessor, war vermutlich sein Vater, der 833 starb [T. 2].
Um der wirklichen Datierung näher zu kommen, sind Indizien zu prüfen. Etwa: War die hier gewählte Form im 9. Jh. zwingend?
„Ein Werk, das vor dem siebten oder später als im neunten Jahrhundert in Form eines regulären Kommentars oder als Enzyklopädie gestaltet worden wäre, war hier in Form eines Briefes verfasst. Ein Grund dafür war zweifellos, dass die Tradition von Enzyklopädien oder Kommentaren damals in Byzanz ausgestorben war, während die Tradition, private Briefe zu schreiben, lebte und anpassungsfähig war“ [T. 114; Übersetzg. hier und i. F. HI].
Bekanntermaßen sterben die Enzyklopädien nach 600 aus, um erst von Konstantin VII. im 10. Jh. wiederbelebt zu werden, ebenso wie die Hofgeschichtsschreibung. Insofern soll die Bibliotheca den Auftakt zu den von Phorphyro gennetos in Auftrag gegebenen Enzyklopädien und der Suda bilden, einem Lexikon von ca. 970 [T. 115]. Selbst wenn der 608||905 geborene, noch nicht amtierende Kaiser mit dieser Tätigkeit im Alter von 25 Jahren begonnen hätte, wären die ersten Bücher aus 53 Sachgebieten kaum vor 935 fertig geworden. Insofern erscheint die 90-Jahres-Lücke hin zu einer ‘Vorgänger’-Bibliotheca als zu groß.
Was mag ein ungefähr 35 Jahre alter Gelehrter gelesen haben, wenn seine Lebensdaten im dritten Jahrhundert der Phantomzeit liegen? Die Antwort wirkt trivial. „Er las die Bücher, die einem gut erzogenen Menschen seiner Zeit bekannt waren“ [T. 111]. Nehmen wir also an, dass es sich tatsächlich um den damals bekannten Kanon gehandelt hat, wobei er die wertvollsten Werke der Antike natürlich gekannt (man erkennt das an Zitaten und Bezügen), aber nicht extra aufgelistet hat [T. 8].
Treadgold hat für die Entstehungszeiten der genannten Bücher gute Tabellen angelegt. So lässt sich [aus T. 177-180] leicht eine Liste zusammenstellen, die die Zahl der von Photios besprochenen Autoren nach ihren Sterbejahren in eine Übersicht bringen lässt (Zweifelsfälle sind von mir immer dem späteren Jahrhundert zugewiesen). Für die Werke bietet er eine umfangreiche Zusammenstellung [T. 118-168]:
Autoren | Werke | Autoren | Werke | |||
-5. Jh. | 2 | 2 | +3. Jh. | 16 | 30 | |
-4. Jh. | 11 | 12 | +4. Jh. | 31 | 73 | |
-3. Jh. | 1 | 2 | +5. Jh. | 36 | 103 | |
-2. Jh. | 2 | 3 | +6. Jh. | 32 | 64 | |
-1. Jh. | 3 | 7 | +7. Jh. | 10 | 22 | |
+1. Jh. | 15 | 21 | +8. Jh. | 3 | 5 | |
+2. Jh. | 32 | 54 | +9. Jh. | 2 | 2 |
Offensichtlich war Photios an Zeitgenossen und den Schriftstellern des 8. und 7. Jh. wenig gelegen, wenn man mit den Zahlen für 6., 5. und 4. Jh. vergleicht. Was erschien ihm aus der Zeit von 614 bis zu seiner Gegenwart überlieferungswert?
9. Jh.: Von seinen Zeitgenossen gar nichts, wenn man seinen Vater Sergius mit seiner sonst nicht belegten Kirchengeschichte ausnimmt. Nicephorus von Konstantinopel († 829) hat sein Breviarium wohl geschrieben, bevor Photios kritisch denken konnte. Kannte dieser keinen einzigen Kirchenmann seiner Gegenwart, dessen Werk es gelohnt hätte zu lesen? Um dieses für einen führenden Theologen massive Manko auszugleichen, muss die Bibliotheca so früh wie nur irgend möglich angesetzt werden.
8. Jh.: Wohl ein Jahrhundert lang hätte Germanus von Konstantinopel gelebt († um 733) und De Vera et Legitima Retributione hinterlassen. Es ist verloren; nur Photios hat es gelesen. Ansonsten eine Hagiographie (Life of St. Gregory Dialogus) von unbekannter Hand, die aus der Zeit von Papst Zacharias (741–752), dem Merowingerabsetzer, stammen soll [T. 30], und die erhaltenen Akten des 7. Konzils (787). Das zeigt kein großes Interesse an dieser Zeit. Gab es auch in diesem Jahrhundert keine relevanten Theologen?
Zwei Werke sind noch zu nennen, die dem 7. oder 8. Jh. zugeordnet werden: Über die Schöpfung und über Lazarus von Leontius von Arabissus sowie drei Predigten eines Modestus von Jerusalem. Eine der drei hat sich erhalten.
7. Jh.: Hier wird erstmals mehr Literatur genannt. Eine Auflistung:
Anonym: Testimonies and Citations, spätes 7. Jh.; erhalten (= erh.).
Konzilsakten des 6. Konzils. 680/81; erh.
Maximus der Bekenner (580–662): 11 Buchtitel, alle erh.
Sophronius von Jerusalem (560–638): Synodalbrief erh.
Georg v. Alexandria: Über Chrysostomos, Hagiographie, 620–630; erh.
Johann v. Carpathos: Exhortation to the Monks…, 7. Jh.; erh.
– – – – – – – – – – – – – – –
Theodor (von Pharan?): That the Book of St. Dionysius is Genuine; unb.
Theophylact: Geschichten, wie Theodor frühes 7. Jh., erh.
John Moschus (ca. 550–619): Pratum Hagiographie; erh.
Anonym: Martyrium von St. Demetrius, Hagiographie, 6./7. Jh.; verloren
Eulogius von Alexanderia († 607): 13 Titel, alle unbelegt.
Der hier für das 7. Jh. genannte Eulogius ist in der Zahlentabelle nicht dem 7. Jh. zugerechnet worden, weil vor Beginn der Phantomzeit gestorben.
Für einen Gebildeten, dessen Buchbestände mit Herodot und Ktesias im -5. Jh. beginnen, scheint es absolut rätselhaft, warum ihn die Bücher seiner eigenen Gegenwart, seiner Lehrer und seiner eigenen Geisteshaltung nicht interessieren, so wenig wie die anderer Autoren der Phantomzeit. Die zugehörige Antwort von Treadgold wirkt wie eine massive freudsche Fehlleistung:
„Die drei Jahrhunderte, die Photius’ eigener Zeit am nächsten liegen, also das siebte bis neunte, besitzen nur 28 bis 30 Werke von allen. Offensichtlich spiegeln diese Zahlen sowohl die Fluktuationen literarischer Produktion im Lauf der Jahrhunderte, als auch Photius’ Unfähigkeit, viele frühe Werke zu bekommen. Er weist oft darauf hin, dass er nicht in der Lage war, alte Bücher zu finden“ [T. 8; Übersetzung HI].
Selten bin ich einem Wissenschaftler begegnet, der ein Problem dadurch vollständig verdrängt oder kaltschnäuzig erledigt, dass er es in sein Gegenteil verwandelt – ging es doch gerade um die Frage, warum Photios keine ‘jungen’ Bücher hatte. Aber was blieb Treadgold übrig, hat er doch selbst geschrieben, dass nach der ersten Wiederzulassung der Bilder, zwischen 787 und 815, eine Generation bemerkenswerter Gelehrter auftritt, darunter Abt Plato von Saccudium, die Patriarchen Tarasius und Nicephorus, Abt Theodor des Studios-Klosters, dazu die uns Geschichtsinteressierten bekannten Georg Syncellus und Theophanes Confessor [T. 1]. Keiner von ihnen hätte Photios interessiert? Gleichzeitig muss gelten: „Photius war an nahezu allem interessiert“ [T. 97], weshalb ein Nicetas anmerkte, diese Einstellung „ließ jedes Buch zu ihm hinströmen“ [T. 98]. Hatte er ein Phobie gegen ‘junge’ Bücher?
Für Herbert Hunger [67 f.], den einschlägigen Spezialist aus Wien, stellt sich die Frage nach den fehlenden Büchern des 7. bis 9. Jh. gar nicht, wobei ihm zugutezuhalten ist, dass er Photios zwar für „eine Schlüsselfigur in diesem lang andauernden Prozeß der Erarbeitung von Musterexemplaren“ hält, ihm aber nicht viel Platz widmen kann. Doch ein Satz genügt: „Auf der Basis einer umfangreichen Privatbibliothek, die sich der junge Mann aus begüterter Familie erworben hatte, beruhte seine gediegene Bildung“ [ebd.]. Es lag also keineswegs an fehlendem Geld, dass er sich die Literatur der letzten drei Jahrhunderte nicht hätte leisten können, sondern wohl daran, dass für eine „gediegene Bildung“ die Literatur nach 614 nicht zählte. Mit anderen Worten: Die Fälscher wollten die Phantomzeit nicht mit zusätzlichen Büchern ausstatten, sondern nur einige wenige in diese Zeit umdatieren.
Schlussfolgerung
Insofern lässt sich ein Schreiber mit dem Pseudonym Photios nur vorstellen, wenn er wie die anderen Enzyklopädisten in der ersten Hälfte des 7.||10. Jh. geschrieben hat und späteres 7. bis 9. Jh. zwangsläufig überspringen musste. Sein Patriarchendasein muss entfallen, desgleichen die rätselhafte „diplomatische Mission zu den Assyrern“, die für Treadgold die Araber sein müssen [T. 25 f.]. Seine Vorliebe für die Hesychius Epitome [T. 112], die aus dem 5. Jh. stammen, wird so um so verständlicher. Inwieweit seine Verknüpfung mit den Missionaren Kyrill und Methodius trägt, ist noch zu untersuchen. Die Wissenschaft hat tiefgreifende Probleme mit ihnen, weil sie Kyrill nicht mehr die Einführung der kyrillischen Schrift zuschreiben kann, sondern die glagolitische Schrift im 9. Jh. zuschreiben muss, obwohl ihre frühesten Zeugnisse wie die der kyrillischen aus dem 10., ja 11. Jh. stammen [Illig 2007, 265-268]. Wenn aber Hana Karas [1983, 46] festhält, dass in einer Sammelhandschrift aus der Zeit von Bischof Abraham von Freising (957–994) „die frühesten erhaltenen Texte in Altslawisch enthalten“ sind, die festgehaltene Predigt dem Umkreis von Kyrill und Method zuordnet und die in karolingischer Minuskel geschriebene Handschrift „Ende 10. Jh.“ ansetzt, dann wird einmal mehr deutlich, dass die beiden Slawenapostel – so sie gelebt haben – dem 7.||10. Jh. und nicht dem 9. Jh. zugehören [vgl. Illig/Anwander, 548; Weissgerber 2010, 686].
Die Bischofsliste von Byzantium beginnt mit dem Apostel Andreas, setzt sich 325 als Metropoliten-, 451 als Patriarchenliste von Konstantinopel fort, enthält aber trotz ihrer enormen Länge – ab einem Apostel Christi fast 350 Positionen – bis ins 20. Jh. keinen weiteren Patriarchen dieses Namens [heiligenlexikon]. Allerdings gäbe es einen Senator gleichen Namens zur Zeit des Mörderkaisers Phokas (602–610); seine Frau flüchtete in ein Kloster und wurde trotzdem von Phokas vergewaltigt. Dieser Photios war an der Festnahme dieses Usurpators beteiligt [Thiess, 325, 375 f.]. Über sein weiteres Leben zu Zeiten von Kaiser Heraklius (herkömmlich 610–641) ist mir nichts bekannt; aber ein Bücherüberblick von ihm aus damaliger Zeit würde praktisch zu dem gleichen Bücherbestand führen wie der eines Photios im 9. Jh.!
VII. Photios und die Kirchenpolitik
Patriarch Photios I. agiert gegen den Papst, wird von ihm abgesetzt, bricht daraufhin mit Rom und wird seltsamerweise verurteilt und verbannt [Bautz], als ob der Papst bereits über der Ostkirche stünde. Was trennt die beiden Kirchen wirklich?
„Bis heute sind das Filioque und der Primat des Papstes die beiden wichtigsten Punkte, bei denen sich die orthodoxen und die katholische Kirche nicht einigen können.“ [wiki / Filioque]
Scheinbar völlig sinnlos und destruktiv war der kircheninterne Streit um das Filioque, also um den winzigen Zusatz:
Wir glauben an den Heiligen Geist […], der aus dem Vater und dem Sohn [Filioque] hervorgeht,
also um die Frage, ob der Hl. Geist nur vom Vater oder auch vom Sohn ausgehe, also um ein Problem der inneren Ordnung und Struktur der Trinität, die menschliche Gehirne überfordern muss.
„Die Formel des filioque, die im mittelalterlichen Denken auf kaiserlicher wie nicht minder auf päpstlicher Seite funktional wurde, um das ›Reich Gottes‹ (kaiserlicherseits) bzw. die ›Herrschaft Christi‹ (päpstlicherseits) als gekommen zu erklären, dieses filioque taucht“
bereit bei Ambrosius und Augustinus auf [Waldmann 1999, 115].
Nur Waldmann [1999, 134, 249; dito 2000, 26] findet insofern einen tieferen, machtrelevanten Sinn darin, weil sich mit diesem Zusatz die römische Kirche zum Stellvertreter Gottvaters aufschwingt und das Reich Gottes als im Jetzt vorhanden erklärt – für uns ein weiteres Zeichen, wie christliche Autoren auch ihre Lieblingsfigur Karl kirchenpolitisch korrekt ausstaffiert haben. Dazu eine tabellarische Übersicht:
447 Die Synode von Toledo rückt das Filioque ins Credo
589 Das dritte Konzil von Toledo behält es (gegen die Arianer) bei.
800 Karl der Große verlangt es, während der ihn krönende Papst das Credo ohne Filioque im Petersdom eingravieren lässt. Es wird vermutet: „Der theologische Streit mit den Byzantinern stärkte somit die Legitimität eines westlichen Kaisertums.“ [wiki / Filioque]
809 Karl d. Gr. hat eine Vorliebe für die gegen den irdischen Staat gerichtete Augustinusschrift und setzt die Einfügung des flankierenden Filioque auf der Synode von Aachen, 809, ins Credo durch [Waldmann].
879/80 Viertes Konzil von Konstantinopel erklärt sämtliche Zusätze zum Credo für ungültig, bestätigt von allen fünf Patriarchen der Kirche.
Danach klafft bei Wikipedia [Filioque] bis 1014 ein Loch. Hier müssen wichtige Punkte aus der Karolingerzeit ergänzt werden:
861 Auf einem Konzil in Konstantinopel erkennt auch der päpstliche Legat den seit vier Jahren amtierenden Photios als Patriarchen an.
862 Papst Nikolaus I. lässt durch ein Konzil Photios absetzen.
867 Photios lässt durch ein Konzil in Konstantinopel den Papst exkommunizieren, weil römische Missionare in Bulgarien das Credo mit dem Filioque lehren.
867 Nikolaus stirbt, Photios wird abgesetzt, bestätigt durch das vierte Konzil von Konstantinopel.
879 wird Photios vom nächsten Konzil rehabilitiert; der Papst ist einverstanden; man einigt sich bereits auf eine Art Trennung beider Kirchen.
904–911 Papst Sergius III. fordert die fränkischen Bischöfe dazu auf, „die – natürlich gegen das filioque gewandte – »Lehre des Patriarchen Photios über den Hl. Geist zu widerlegen«“ [Waldmann 2002, 66]. Dieser Papst hat eine schlechte Presse, weil er seine zwei Vorgänger umbringen ließ, die Beschlüsse der schauerlichen Leichensynode gegen Papst Formosus (897) wieder in Kraft setzte und das 10. Jh. als das „pornokratische“ des Papsttums einleitete, ist er doch Vater eines Papstes [wiki / Sergius III.].
Photios war nicht nur Roms Gegenspieler beim Filioque, sondern auch an einer Einführung in das Gesetz beteiligt, bei der er aller Wahrscheinlichkeit nach eine byzantinische Zwei-Gewalten-Lehre begründet hat, die dem Patriarchen eine bedeutendere Rolle zuweist als dem Kaiser, entspreche dieser doch dem menschlichen Körper, der Patriarch aber der Seele [Schminck]. Das brachte der Ostkirche denselben Status, wie ihn sich die Westkirche durch die Gelasius-Fälschung errungen hat.
Aus der Regierungszeit von Sergius III. (bis 911! und hier noch ganz kurz von einem Pseudopapst gefolgt, der in den Papstlisten nicht geführt wird [vgl. Illig 2010, 472]) erkennen wir, dass sowohl Photios als Gegner des Filioque wie dieser Papst als sein Befürworter phantomzeitliche Fiktionen sind, dafür erdacht, dem Streit des 11. Jh. eine ‘Begründung’, einen ‘Vorlauf’ aus dem 9./10. Jh. zu liefern, wobei auch das abgründige Treiben dieses Papstes, vielleicht als Tarnung für die vorbereitete Abtrennung von Byzanz erdacht, für die Realgeschichte entfällt. Nunmehr geht es wieder in der Realgeschichte weiter:
1009 Papst Sergius IV. fügt dem Schreiben, das seine Amtserhebung in Byzanz anzeigt, das Filioque bei. Ab da scheint der Name des Papstes in byzantinischen Diptychen nicht mehr verzeichnet worden zu sein [Waldmann 2002, 65]. Dieser Papst (1009–1012) fordert als erster einen Kreuzzug – doch das gilt mittlerweile als bekräftigende Fälschung [wiki / Sergius IV.].
1014 geht es kommentarlos damit weiter, dass zur Zeit von Heinrich II., dem Nachfolger Ottos III., Papst Benedikt VIII. das Filioque einfügt.
1054 legt Kardinal Humbert von Silva Candida während der Sedisvakanz zwischen den beiden deutschen Päpsten Leo IX. und Viktor II. die Bannbulle gegen den Patriarchen von Byzanz auf den Altar der Hagia Sophia. Damit begann das Große Morgenländische Schisma, das bis 1965 gedauert hat. Als ein Grund wurde genannt, dass die Ostkirchen das Credo verändert hätten. In Wahrheit hat es die Westkirche mit dem Einfügen des Filioque verändert [wiki / Morgenländisches Schisma]. Für Rom gilt die Enzyklika Photios’ (867) als Ursache des Schismas, das so einen überlangen ‘Vorlauf’ von 187 Jahren bekam.
1096 beginnt der Erste Kreuzzug.
1204 erstürmen die abendländischen Truppen Byzanz (sog. 4. Kreuzzug), für 33 Jahre wird ein lateinisches Kaiserreich in Konstantinopel installiert, während sich die dramatisch geschwächte, legitime Herrschaft in Nicäa behauptet.
1215 Die katholische Kirche erhebt das Filioque beim 4. Laterankonzil offiziell zum Dogma: „(nach der gegenseitigen Exkommunikation des Papstes und Patriarchen von Konstantinopel 1054)“ [wiki / Filioque].
Tatsächlich wird die Trennung beider Kirchen erst um 1009 von Rom eingeleitet und 45 Jahre später ‘planmäßig’ zu Ende gebracht. Ab diesem Schisma konnte Rom einen Phokas für seine Zwecke fälschen, ab 1204 konnte Rom einen solchen auch innerhalb der Ostkirche verankern.
Insgesamt lässt sich dem vorhandenen Schrifttum gut entnehmen, wie die Fälscher vorgegangen sind. Die Vormachtstellung des Papsttums und der römischen Kirche haben weit zurückreichende Wurzeln erhalten; die Phantomzeit erlaubte Dynastiewechsel und dynastische Verbindungen nach dem Willen dieser Kirche; ein Überkaiser erhielt auch adäquaten Nachwuchs. Doch dann setzt die Ökonomie der Fälscher ein, die sich im Rahmen vorgegebener Abläufe keine unnötige Arbeit aufhalsten und möglichst keine Situationen herbeiführten, in denen sie ihre eigene Logik hätten verletzen müssen.
Literatur
Althoff, Gerd (2003): Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt
Anwander, Gerhard (2010): Planet UnWissen: Wie man mit Hilfe Karls d. Gr. das Fernsehpublikum weiter verdummen kann. Subjektives; in Zeitensprünge 22 (2) 218-230
Bautz = Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon http://www.bautz.de/bbkl
Esders, Stefan (1997): Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum; Göttingen
Ewig, Eugen (1993): Die Merowinger und das Frankenreich; Stuttgart
Fried, Johannes (1998): Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024; Frankfurt/M. (11994)
Geary, Patrick (1996): Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen; München
genealogie = http://www.mittelalter-genealogie.de/merowinger/dagobert_2_frankenk oenig_679.html u. a. Einträge
heiligenlexikon = http://www.heiligenlexikon.de/Glossar/Patriarchen_von_Konstantin opel.html
Heinsohn, Gunnar (2001): Karl der Einfältige (898/911-923). Ist er … lediglich … Imitator … oder … Urmuster? in Zeitensprünge 13 (4) 631-661
Hunger, Herbert (1989): Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur; München
Illig, Heribert (1992): 614/911 – der direkte Übergang vom 7. ins 10. Jahrhundert; in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 4 (4) 79-103
– (1996): Das erfundene Mittelalter; Düsseldorf
– (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden; München
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