von Andreas Otte
Mit Stand vom 26.09.2004 findet sich folgender Text auf der Webseite http://www.dike.de/pfr-tischner/33-gesch/versch/ht-illig.htm von Heinrich Tischner:
Warum Heribert Illig Unrecht hat
Das Kardinalargument, das seine Theorie ins Wanken bringt
von Heinrich TischnerI. Hat sich Papst Gregor VIII. verrechnet?
Der Julianische Kalender schaltet alle vier Jahre einen Tag ein, um das Kalenderjahr dem Sonnenjahr anzupassen. Nun aber dauert das Sonnenjahr nicht 365,25, sondern nur 365,2422 Tage. Das julianische Jahr ist also etwas zu lang. Durch diesen Fehler verschiebt sich z.B. der Frühlingsanfang im Laufe der Jahrhunderte beträchtlich. Ende des 15er-Jahrhunderts war dieser Termin bereits am 11. statt wie bei Caesar am 23. März. Papst Gregor hat daher angeordnet, dass auf den 04.10.1582 unmittelbar der 15.10. folgen sollte und dass Frühlingsanfang künftig wieder am 21. März sein sollte. Die richtige Jahreslänge wurde dadurch erreicht, dass in allen Hunderter-Jahren der Schalttag ausfiel, außer bei denen, die durch 400 teilbar sind. Daher war 1900 kein Schaltjahr, wohl aber 2000. {Daten nach MS Encarta 2002}.
Heribert Illig will nun festgestellt haben, dass Gregor nur 10 Tage hat ausfallen lassen, seit Caesar hätten es aber 13 sein müssen, wie man leicht nachrechnen kann. Also, nahm er an, müssen zwischen Caesar und Gregor etwa 300 Jahre zu viel sein. Vermutlich habe es die Karolingerzeit, genauer die Zeit zwischen September 614 bis August 911 gar nicht gegeben. Hinweise fand er darin, dass viele historische Quellen, Bauwerke und sonstige Hinterlassenschaften aus dieser Periode von manchen Gelehrten anderen Zeitabschnitten zuzuschreiben seien.
Illigs Grundbehauptung lässt sich ganz einfach widerlegen durch den Wortlaut der Bulle “Inter Gravissmas” von Papst Gregor VIII. (1582):
7. Quo igitur vernum æquinoctium, quod a patribus concilii Nicæni ad XII Kalendas Aprilis fuit constitutum, ad eamdem sedem restituatur, præcipimus et mandamus ut de mense Octobri anni MDLXXXII decem dies inclusive a tertia Nonarum usque ad pridie Idus eximantur … 7. Damit nun die Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, die von den Vätern des Konzils von Nicaea auf den 21. April festgelegt wurde, wieder auf diesen Tag fällt, schreiben wir vor und verordnen, dass im Oktober 1582 zehn Tage einschließlich, vom 5. bis 14., ausfallen sollen … Demnach rechnete die Reform nicht ab Caesar, sondern ab Nicaea (325). Damit ist erklärt, warum nur 10 Tage ausgefallen sind. Die Karolingerzeit kann deshalb gar nicht gestrichen werden. Damit sind meine früheren einzelnen Argumente überflüssig.
Trotzdem muss ich noch auch meine Bedenken gegen das weitere Vorgehen Illigs zur Sprache bringen:II. Methodische Bedenken
Nachdem Illig zu der Überzeugung gekommen war, dass die Karolingerzeit erfunden sei, mussten er und seine Mitarbeiter sich an die mühselige Arbeit machen, sämtliche Zeugnisse der Karolingerzeit entweder als Fälschungen zu entlarven oder einer anderen Epoche zuzuordnen. Das ist aus methodischen Gründen sinnvoll und unbedingt notwendig.
Ich kann mich dabei aber des Eindrucks nicht erwehren, dass Illig alle Überreste dieser Zeit entweder mit Argumenten aus der wissenschaftlichen Literatur wegdiskutiert (z. B. “Einhard ist eine Fälschung”) oder ignoriert (wie die althochdeutsche Sprache und Literatur). Das ist aber methodisch fragwürdig, wenn etwas “nicht sein kann, was nicht sein darf”.
Geschichtliche Hinterlassenschaften, auch schriftliche Quellen, sind immer interpretationsbedürftig und es hat immer widersprüchliche Deutungen derselben Fakten gegeben. Das darf aber doch nicht dazu führen, eine ganze Geschichtsepoche wegen einer falschen Berechnung zu leugnen!
Was kann man dazu noch sagen? Neben den kleinen Fehlern wie “21. April”, “Gregor VIII.” und “Inter Gravissmas” zeigt Herr Tischner ein umfassendes Unverständnis für das eigentliche Problem und hat mit Sicherheit die relevanten Bücher nicht gelesen. Am 10.10.2004 habe ich ihm die folgende Email geschrieben:
Sehr geehrter Herr Tischner,
kürzlich stieß ich auf Ihre Webseite zu Heribert Illigs These über die Phantomzeit im Mittelalter. Ich begrüße es sehr, wenn über die These öffentlich diskutiert wird.
Zunächst ein paar kurze Hinweise: Der lateinische Text der “Inter Gravissimas” scheint mir korrekt zu sein, in Ihrer Übersetzung aber wird der 21. April als Frühlingspunkt bezeichnet. Dieses müsste der 21. März sein, diesen findet man auch in anderen Übersetzungen. Der 21. März ist auch nach astronomischen Gesichtspunkten der korrekte Termin. Der Papst der Reform war Gregor XIII. nicht Gregor der VIII. Die Bulle heisst “Inter Gravissimas” nicht “Inter Gravissmas”.
Ich muss ihnen allerdings widersprechen, wenn Sie behaupten, der Text der “Inter Gravissimas” belege in irgendeiner Weise, dass Heribert Illig Unrecht hat.
Die noch erhaltenen Unterlagen zum Konzil von Nicäa und die zugehörige Korrespondenz lassen diesen Schluß nicht zu. Das kann man dem Kongressbericht von 1982 zum 400. Jahrestag der Reform entnehmen. Zu Nicäa wurde zwar unter anderem über eine einheitliche Art diskutiert, den Ostertermin zu bestimmen (erster Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond), ohne Erfolg übrigens, denn Ostern wurde weiterhin zu unterschiedlichen Zeiten gefeiert. Aber selbst dieser Punkt wird angezweifelt. Von einer Festlegung des Frühlingspunktes findet sich jedoch nichts. Gregor XIII. bezieht sich hier auf etwas, das nach den Konzils-Quellen nicht stattgefunden hat. Allerdings muss man Gregor XIII. zu Gute halten, dass in späteren Zeiten das Konzils-Ergebnis so
interpretiert wurde, wie er es wiedergibt. Das ist aber kein Nachweis dafür, dass zu Nicäa astronomisch wirklich der 21.3. der Frühlingsanfangspunkt war. Es ergibt sich also: Die Nennung des 21.3. beim Konzil von Nicäa ist nicht zu belegen und selbst wenn sie zu belegen wäre, würde diese Nennung nichts über die tatsächliche astronomische Situation zu dieser Zeit aussagen.Und woher haben Sie die Information, dass zu Caesars Zeiten der 23. März als Frühlingspunkt festgesetzt wurde? Nach meinen Informationen hat Julius Caesar Anfang des Jahres 45 v.Chr. mit Hilfe ägyptisch/griechischer Gelehrter eine Kalenderreform durchgeführt. Er hat das Durcheinander im mondzyklen-orientierten römischen Kalender mittels eines neuen Sonnenkalenders zu beenden versucht. Dazu wurde ein sehr langes Jahr 46 v.Chr. eingelegt, um den Tag der Frühlings-Tag- und -Nachtgleiche wieder in den Frühling zu bringen (gemäß ägyptisch/griechischer Tradition auf den 21.3.) und anschließend die Jahreslänge auf 365 1/4 Tage festgelegt. Die alte römische Tradition, den Frühlingspunkt auf den 25. oder 24. März zu setzen wurde bewußt ignoriert. Die Sonnenuhr des Augustus und sein besonders herausgehobenes Geburtsdatum (23.9. = Herbstanfang) sprechen ebenfalls für den 21.3. als Frühlingspunkt der julianischen Kalenderreform.
Wenn zu Caesars Zeiten der 21.3. als Frühlingspunkt festgelegt wurde, dann war dieser Punkt nach der ungenauen julianischen Schaltregel um 325 n.Chr. (Nicäa) bereits auf den 18.3. gewandert. Dann kann der 21.3. in Nicäa nicht der astronomische Frühlingspunkt gewesen sein, es sei denn man hätte gleich auch noch eine Kalenderreform durchgeführt, die sofort und überall gegriffen hätte. Dafür gibt es aber nun wirklich überhaupt keine Hinweise. Möglich ist natürlich, dass man immer noch gedacht hat, der 21.3. wäre der Frühlingspunkt gewesen, das wäre typisch für eine Zeit, die eine beobachtende Astronomie nicht mehr kannte.
Am wahrscheinlichsten erscheint mir daher tatsächlich die These, dass in Wirklichkeit nicht so viel Zeit zwischen den Reformen verstrichen ist, wie man uns mit der konventionellen Chronologie glauben machen will. Diese These stimmt mit der vorhandenen Evidenz bestens überein, außer mit der Bulle des Papstes und der begleitenden Literatur. Diese liefert aber kaum die erforderliche historische und gar keine astronomische Evidenz. Die astronomische Evidenz ist aber die entscheidende. Für die Phantomzeitthese spricht dagegen neben der Kalender-Evidenz vor allem archäologische Evidenz. Die Fundarmut im frühen Mittelalter ist bedrückend und letztlich der Grund dafür, dass in der Phantomzeitthese der betroffene Zeitraum im frühen Mittelalter und inzwiscben genauer, nämlich von September 614 bis August 911 festgelegt wurde. Keiner dieser Funde kann wirklich in der betroffenen Zeit verankert werden, auch nicht eine im 11. Jahrhundert erstellte angebliche Nachbildung einer Steinurkunde mit der Jahreszahl 805. Mehr und mehr schriftliche Belege, die angeblich aus der betroffenen Zeit stammen (und uns meist sowieso nur als angebliche Abschriften der angeblich existierenden Originale vorliegen) erweisen sich als Fälschungen. Da muss man gar nicht nachhelfen, da sorgt die Diplomatik selber für.
Warum also könnte sich Gregor XIII. auf das Konzil von Nicäa bezogen haben? Es gibt ein einfaches Erklärungsmodell: Jeder halbwegs gebildete Mensch (auch schon damals) konnte nachrechnen, dass der einzig sinnvolle Bezug auf die Einführung des Julianischen Kalenders, das Chronologie-Problem sofort offenkundig gemacht hätte. Es handelt sich also um eine einfache Rückrechnung, eine etwas hilflose Verschleierungstaktik wenn man so will, man hat einfach nach einem Konzil gesucht, dem man den Bezug unterschieben konnte. Nur wer wirklich weiter denkt, der merkt, dass dieser Nicäa-Bezug nicht funktionieren kann, bzw. das eigentliche astronomische Problem nicht löst.
Der Papst hat sich also nicht verrechnet, dass hat auch niemand behauptet, er hat nur passend zurückgerechnet und anschließend entsprechend deklariert. Wenn bei Caesar der 21.3. der astronomische Frühlingsanfang war (und dafür spricht mehr als für den astronomischen 21.3. zu Nicäa), dann stimmt die Rechnung der Kalenderreform trotzdem nicht, egal was Gregor XIII. in seiner Bulle geschrieben hat. Das ist schlicht unabhängig von der astronomischen Situation.
Zu Ihren methodischen Bedenken möchte ich folgendes bemerken: Das Vorgehen von Herrn Illig und seinen Mitstreitern ist zweifach: Einerseits geht es darum, in bester Popper’scher Manier, die Theorie falsifizierbar zu machen und zu halten, also es zu ermöglichen, einen Gegenbeweis zu finden, der sich wirklich halten läßt. Dazu macht man es Gegenargumenten natürlich nicht einfach und verteidigt die eigene These. Das ist absolut legitim. Ein haltbarer Gegenbeweis ist bisher nicht gefunden worden, weder aus der Gruppe heraus, noch von den Gegnern der These, und man kann nicht sagen, dass dieses in immerhin inzwischen 13 Jahren nicht versucht wurde.
Es werden immer neue Länder, immer neue Aspekte untersucht und das Ergebnis ist immer wieder ähnlich, es ist schon fast langweilig geworden. Andererseits wird natürlich auch versucht, bisherige wissenschaftliche Ergebnisse zu untersuchen und im Sinne der These auszulegen, bzw. zu interpretieren. Ich sehe darin kein methodisches Problem, solange die Quellen ordnungsgemäß angegeben werden. Es ist absolut legitim, Quellen gegen den Strich zu bürsten und die enthaltenen Fakten anders auszulegen, als es der Autor selbst getan hat.
Es stimmt auch nicht, dass Aspekte ignoriert werden. Eventuell wurden sie noch nicht behandelt, das kann natürlich sein. Die Resourcen sind nunmal begrenzt. Die Entwicklung der Deutschen Sprache bzw. der Deutschen Literatur wurde allerdings schon vor langer Zeit behandelt, nämlich bereits 1991 in der Zeitschrift “Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart” von Manfred Zeller, sowie von Heribert Illig in “Das erfundene Mittelalter” von 1996 (z.B. Seite 60-77). Kürzlich erschien in der Zeitschrift Zeitensprünge (ehemals Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart) ein neuer kritischer Beitrag zu diesem Thema. Nachdem bereits zu den methodischen Aspekten dieses Beitrags Stellung genommen wurde, wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den angesprochenen Texten nun weitergehen.
Der von Ihnen vorgebrachte Einhard ist nun wirklich ein klassisches Beispiel für einen Text, dessen Ursprung mehr als fraglich ist. So sind die zahlreichen Fehler in Einhards “Karlsvita” nicht erst Heribert Illig aufgefallen, Fehler die es einfach unwahrscheinlich machen, dass Einhard tatsächlich an Karls Hof gelebt und geschrieben hat. Details dazu finden sich im “Erfundenen Mittelalter”, Seite 345 – 348. Heribert Illig hat vielleicht als erster die Konsequenz gezogen und Einhard in die Zeit verbannt, in der ein Grossteil der Karls-Prosa entstanden ist, nämlich ins 12. Jahrhundert. Auch die sogenannten Reichsannalen enthalten astronomische Angaben in einer Genauigkeit, die erst im 12. Jahrhundert erreicht wird. So macht eine insgesamte Versetzung Einhards in das 12. Jahrhundert Sinn, man muss nur die vorhandenen Fakten abschöpfen und konsequent zu Ende denken.
Mir scheint, Sie kennen die These nur vom Hörensagen, Sie haben die Haupt-Bücher (“Das erfundene Mittelalter” und “Wer hat an der Uhr gedreht?”) nicht gelesen. Beide Bücher kosten zusammen ca. 18 EUR, Kostengründe kann ich also nicht gelten lassen. Von den weiteren Büchern, z.B. über Hrotsvith von Gandersheim, und den vielen, vielen Beiträgen in der Zeitschrift Zeitensprünge will ich gar nicht erst reden, das kann man nicht erwarten.
Wenn Sie sich mit dieser These auseinandersetzen, und dieses auch noch offen im Web darstellen, dann sollten Sie die These zumindest kennen. So aber muss ich ihr Argument “Es kann nicht sein, was nicht sein darf!” gegen sie selbst wenden und meinerseits methodische Bedenken an Ihrer Vorgehensweise anmelden.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Otte
Am 11.10.2004 hat Herr Tischner den Fehler mit dem 21. April behoben, sonst aber nichts geändert. Am 21.04.2005 hat Herr Tischner endlich Gregor VIII. durch Gregor den XIII. ersetzt.
[…] von Tischner sind nicht mehr online verfügbar, eine komplette Version des Textes findet sich aber hier.] AKPC_IDS += "30,"; Dieser Beitrag wurde eingestellt unter Fundsachen. Man kann alle Reaktionen […]