Auch Max Kerner beginnt zu fiktionalisieren

von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 2/2010)

Manchmal geschehen Dinge zur Unzeit. Etwa wenn gerade während der Druckzeit eines Zeitensprünge-Heftes alle Welt mit einem sensationellen Statement beglückt wird, das eigentlich längst bekannt ist und einen anderen Urheber hat.

Diesmal war es Prof. Johannes Fried, der sich ohne direkten Widerspruch mit fremden Federn schmücken konnte. Am 15. April vertraute er der Zeit an: „Benedikt gab es nicht.“ Eine angestaubte, 16 Jahre alte Sensationsmeldung! Warum gerade jetzt? Wollte Fried auf seine eigene Existenz als nunmehriger Emeritus aufmerksam machen? Niemand weiß es, denn er selbst bezieht sich auf die Lektüre eines Buches von Francis Clark, das er vor 15 Jahren gelesen habe. Die Lösung hat also sehr lange in ihm gereift; noch in seiner Memorik von 2004 war er sich über Benedikts Wesenheit nicht sicher. Doch zunächst will auf etwas von Fried Verdrängtes hingewiesen sein.

1993 erfuhr ich aus einem Artikel von Klaus Reichold, die Benediktiner hätten herausgefunden, dass vieles der Benedikt-Vita nicht stimmen könne. Darauf schrieb ich meinen ersten einschlägigen, noch spekulativen Artikel. Dann las ich das Buch von Francis Clark und konnte 1994 begründet behaupten: Benedikt gab es nicht – beziehungsweise erklärte ich in meiner eigenen Diktion unter dem Zwischentitel „Abschied vom hl. Benedikt“ [1994, 31]:

„Wir wollen hier den nächsten und endgültigen Schritt tun und den laut Reichold drohenden Sturz des Benedikts endgültig vollziehen.“

Dieser Denkmalsturz auch des zweiten „Vaters des Abendlands“ war keine große Leistung, weil Clark bereits gründlich vorgearbeitet hatte, allerdings den angeblichen Gründer von Monte Cassino nicht gänzlich zur Fiktion erklären wollte, sondern einen zeitlichen Neuansatz für ihn erhoffte [ebd.].

Fried zum Ersten

Fried dachte 1994 noch nicht an dergleichen Fiktionalisierungen. Aber er geriet 1995 in eine Zwickmühle. Auf der einen Seite erhielt er damals den Preis des Historischen Kollegs in München für sein 1994 erschienenes Buch, „das wissenschaftliches Neuland erschließt, über die Fachgrenzen hinaus wirkt und in seiner sprachlichen Gestaltung vorbildhaft ist“ [hist. koll.], andererseits warf ihm sein Kollege Gerd Althoff vor, er lasse gerade in diesem Buch viel zu viel Phantasie walten. „So zu verfahren, bemerkt Althoff, sei unwissenschaftlich“ [nachzulesen wie der gesamte Sachverhalt bei Illig 1996a, 110 und passim; 1996d]. Bei der Preisverleihung im November 1995 musste sich Fried von diesem Ruch der Unwissenschaftlichkeit befreien und verfiel auf eine mehr als phantasievolle Verteidigung. Die Ohrenzeugin Renate Schostack schilderte es so:

„Wenn nun allenthalben phantasiert wird, wäre es ein leichtes zu behaupten, daß der große Karl gar nicht gelebt hat. Fried zerschmetterte solche ‚Karlslüge‘ […] Beim Lügenbold sieht Fried ‚destruktive Illusion‘, beim wahren Geschichtserzähler ‚konstruktive Phantasie‘ am Werk“ [ebd.].

Die Weiterungen sind uns bekannt. Frieds sich selbst zur Wissenschaftlichkeit hinaufstilisierende „konstruktive Phantasie“ musste damals als ihren Gegenspieler den „Lügenbold“ (er)finden, den Verbreiter einer „Karlslüge“ mit seiner gefährlichen Phantasie, also mich [vgl. Illig 1997a].

Fried hat den ihm nützlichen „Lügenbold“ 1995 in einem Buch gefunden, das 1994 in einem Kleinverlag erschienen war (Hat Karl der Große je gelebt?); allgemein bekannt wurde es erst, als es 1996 [b] – Dank sei Fried – als Das erfundene Mittelalter in einem bekannten Verlag erschien. Er hatte also einen hinreichend unbekannten Autor samt unbekanntem Buch entdeckt, die zum Vertreter und Träger der „destruktiven Illusion“ hinabstilisiert werden konnten. Ebenfalls 1995 ist Fried laut eigener Angabe auf Francis Clark gestoßen, dessen Lektüre ihn jetzt zu der Schlagzeile veranlasste: „Benedikt gab es nicht.“ Der Schluss ist nicht zwingend, aber sehr wahrscheinlich, dass der belesene Fried 1995 im Zuge der nachgewiesenen Beschäftigung mit meinen Schriften auch auf meine Aufsätze über den hl. Benedikt – in Frieds Wirkungsstätte Frankfurt liegen Pflichtexemplare dieser Zeitschrift – und so auf Clark gestoßen ist.

Wie dem auch sei: Fried kann für seinen benediktinischen Nachvollzug keine Priorität beanspruchen – und weiß es auch, so er es nicht verdrängt hat.

Fried zum Zweiten

Frieds Lektüre von Clark führte zunächst zu keinem eigenen Text. Aber die Auseinandersetzung mit der ‘guten’ und ‘schlechten’ Phantasie, für deren Einordnung er kein Entscheidungskriterium besaß, und mit den sich nach seiner Aussage wechselseitig bestätigenden Quellen [vgl. Illig 1996a], die sich in Wahrheit so oft widersprechen, ließ ihm keine Ruhe. Er setzte sich sogar mit neuronalen Vorgängen im Gehirn auseinander und sprach vielleicht 1998 erstmals vom „Schleier des Gedächtnisses“. Diese Entdeckung vertiefte er, bis er sie 2004 auch den Buchlesern präsentieren konnte: Frieds historische  Memorik war kreiert! Allerdings war sofort festzuhalten, dass dieses Buch nur erscheinen konnte, weil Fried die Psychologie in Gestalt von Freud beharrlich ignorierte [vgl. Illig 2004], wofür er zwei Jahre später ausgerechnet mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet wurde – wahrlich ein Verdrängungswettbewerb! (Die mehr als respektierliche, 57-seitige Bibliographie der friedschen Memorik enthält kein Werk von Freud !)

Meine Rezension der Memorik ist längt geschrieben [Illig 2004], weshalb hier nur aus Frieds Klappentext zitiert wird:

„verformende Kraft des Gedächtnisses“,

„Unzuverlässigkeit des menschlichen episodischen Gedächtnisses“,

„Vergangenheit wird in der Gegenwart stets neu geschaffen; unbewußt konstruiert aus unterschiedlichen Elementen erinnerten Geschehens. Wesentlich geprägt durch die Erfordernisse der jeweiligen Gegenwart entstehen scheinbar stimmige Vergangenheitsbilder, die doch in ihren elementaren Aussagen erheblich vom tatsächlich Geschehenen abweichen können.“

Vergangenheit wird in der Gegenwart stets neu geschaffen – diese Erkenntnis war Egon Friedells Vermächtnis in seiner Kulturgeschichte des Altertums von 1936:

„Man sagt: die Gegenwart steht im Schatten der Vergangenheit. Aber ebensogut kann man behaupten: die Vergangenheit ist der Schatten, den die Gegenwart wirft“

„Alle Geschichte ist Gegenwart.“ [Friedell 1963, 32 f.; 1989, 132 f.]

(Die mehr als respektierliche, 57-seitige Bibliographie der friedschen Memorik enthält kein Werk von Friedell.)

Ausgespart habe ich damals Frieds Auslassungen zum hl. Benedikt [2004, 344-357], die ja als ein leuchtendes Beispiel für die Leistungskraft der Memorik stehen sollten. Sie können nun vorgestellt und mit seinem Bild von 2010 konfrontiert werden.

Der Frankfurter Professor hatte sich mit Clarks beiden Bänden von 1987 und mit der Debatte um die Echtheit der Dialoge Papst Gregors I. beschäftigt und wusste:

„Träfe es zu [dass die Dialoge „erst etwa achtzig Jahre nach dessen Tod fabriziert worden seien“; HI], die mächtige Gestalt des heiligen Mannes [Benedikt] verflüchtigte sich im Lügengespinst.“ [Fried 2004, 345]

Zunächst bescheinigte er Clark, er sei „über sein Ziel hinausgeschossen, insofern er ihre Entstehung um 600 leugnete“ [ebd.], womit er bereits anklingen ließ, dass neben dem ‘Karlsleugner’ auch noch ein ‘Benediktsleugner’ auftrete, also wieder die moralische Verurteilung durch Fried, die in seinen Worten  „leugnen“ und „Lüge“ zwangsläufig mitklingt. Gleichzeitig stellte er aber fest, dass viele Argumente Clarks ihre Gültigkeit behalten: Die Dialoge sind ein Fremdkörper im Werk Gregors, die Rezeptionsgeschichte der Dialoge setzt erst Jahrzehnte nach Gregors Tod ein und das keineswegs in Rom oder wenigstens in Italien; Gregor selbst schwieg über diese Schrift. Die Suche nach dem Grund des Schweigens löste einen von Frieds typischen Katarakten an rhetorischen Fragen aus:

„Sollte das Argument umzukehren sein? […] Hatte sie der Papst gar nicht verfaßt? Wer war dann Benedikts Schöpfer?“ [ebd. 346]

Weitere rhetorische Fragen ersetzen klare Stellungnahmen:

„Sollte das Werk nicht aus einem Guß, vielmehr spätere Montage sein? Sollte dasselbe tatsächlich sein, was es zu sein vorgibt: schriftlicher Niederschlag erinnerter Gespräche zu verschiedener Zeit, mithin von Mündlichkeit? Was bedeutete dies für seinen Inhalt?“ [ebd. 347]

„Sollte dieser Unbekannte [der gleichfalls nur in Gregors Dialogen auftaucht; HI] der Mann und der Name hinter Gregors des Großen heiligem Mönchsvater gewesen sein? Der Mann, an den der eine oder andere Zeitgenosse des Papstes sich tatsächlich zu erinnern vermochte? Träfe dies zu, was durchaus zu erwägen ist, dann zerfiele der Erzvater der Mönche in mehrere Gestalten, verschmölze in Gregors Perspektive zu einer Synthese, einem Konstrukt, einem Übermenschen, einer Idee, kurzum zu jenem «guten Menschen», nach dessen Wundern Petrus, des Papstes Dialogpartner, um so stärker dürstete, je mehr er von ihnen zu trinken bekam. Sein vergangenes, sein künftiges Leben verdankte sich dem erbaulichen Gespräch, mündlicher und später, sehr später kultischer Tradition, keiner gelebten Wirklichkeit“ [ebd. 355].

Und so kam es zu dem vorhersehbaren Ergebnis, dass die Realität Benedikts ungeklärt blieb, aber Frieds Memorik hell leuchtete:

„Wer also war Benedikt wirklich, im tatsächlichen Leben? Wir wissen es nicht; und für den Augenblick scheint er nicht mehr zu sein als ein Mythos, eine fromme Legende, ein Phantom, vielleicht eine Projektion, ein Produkt einer erbaulichen Geschichte, das wie der hl. Christophorus oder die hl. Barbara seinen Weg ins «Martyrologium Romanum» fand. Daß Benedikt von Nursia mit seiner Schwester [Scholastika; HI] dort zu Recht seinen Platz gefunden hat und nicht, wie jene beiden, wieder auszuschaben sei, bedarf erst des Beweises. Abermals hatte das Gedächtnis oder genauer seine Verformbarkeit eine Geschichte zu schaffen und als real zu verbreiten erlaubt, die fern des gelebten Lebens angesiedelt war. Auch jetzt überlagerte Erinnerung das Leben.“ [Fried 2004, 356]

Die mehr als respektierliche, 57-seitige Bibliographie der friedschen Memorik enthält kein Werk des einst nützlichen „Lügenbolds“, obwohl der die Fiktionalisierung Benedikts 1999 [69] auch gut zugänglich publiziert hat: „Das Wirken des Hl. Benedikt, der 547 gestorben sein soll, aber mittlerweile als fromme Fiktion erkannt ist“.

Fried zum Dritten

Das war der Stand 2004. Warum es im April 2010 zu einer neuen Bewertung des hl. Benedikt durch den mittlerweile emeritierten Fried kam, ist nicht erkennbar. Auf jeden Fall sind aber seine Zweifel verflogen: Benedikt gab es nicht! Im Bemühen, seine These – also in Wahrheit meine These – gegen seine Kollegen abzusichern, macht er hochinteressante Aussagen [Fried 2010]:

Fried: „Wenn diese Quelle [Gregors Dialoge; HI] falsch ist – dann ist womöglich auch Benedikt eine »Fälschung«. […]

Zeit: Ist Benedikt also so etwas wie ein Idealporträt Gregors?

Fried: Genau das nehme ich an. Ich bin darauf durch den Benediktinerpater Adalbert de Vogüé gekommen, der den Benedikt der Dialoge als »spirituelles Selbstbildnis« Gregors beschrieben hat – ohne die Existenz des Heiligen zu bezweifeln. Tatsächlich aber muss man de Vogüés Idee wörtlich nehmen. Denn Benedikt wird in den Dialogen wie ein Papst beschrieben.“

„Benedikt, die ganze Benedikt-Legende, ist ein Implantat im kollektiven Gedächtnis. […]

Rasch verbreiteten sich die Benedikt-Legende und die Regula Benedicti. Das Mönchstum boomte. Im 8. Jahrhundert kam der Kult dann in Rom an.

Zeit: Das Implantat begann zu funktionieren.

Fried: Ja, fortan behauptete die Kunstfigur Benedikt einen Platz in der Geschichte – so wie ein Herzschrittmacher zum Körper gehört, ohne wirklich Teil des Körpers zu sein.“ [Hvhg. HI]

In diesem Interview stellt Fried drei Dinge klar, so weit sein Duktus dies ihm erlaubt:

  • Benedikt gab es nicht (mein Ergebnis).
  • Es gab einen Pseudo-Gregor, der erst nach dem Tod Gregors die Dialoge verfasst hat (Clarks Ergebnis).
  • Die Regula Benedicti könnte im Umkreis Gregors verfasst worden sein, also ca. 60 Jahre später als bislang gedacht (statt ca. 530 nun ca. 590). Clark sah sie ungefähr bei 550/60 [Illig, 1994, 30].

Verräterisch ist sein Gebrauch der Worte „Implantat“ und „Herzschrittmacher“. Wer von einem „Implantat im kollektiven Gedächtnis“ spricht, hat damit seine Memorik nicht bestätigt, sondern widerlegt! Es geht keineswegs  um Vergangenheit, „unbewußt konstruiert aus unterschiedlichen Elementen erinnerten Geschehens“, wie oben aus Frieds Klappentext zitiert. Nein, im Falle Benedikts geht es ganz im Gegenteil um ein gut vorbereitetes, klug ersonnenes und bedacht inszeniertes Einfügen eines Verstandesprodukts, das sehr bewusst konstruiert worden ist. Hier siegt nicht das Unbewusste im Sinne Freuds, sondern hier findet klarer Verstand ganz in meinem Sinn und ganz gegen Fried zu einer sauber durchgeführten Fälschung.

Was Fried und alle seine Kollegen im Falle Karls, dem nach Benedikt zweiten „Vater des Abendlands“, entrüstet abgelehnt haben – die gewollte Konstruktion einer Kaiserfigur zum Zwecke der Erhöhung späterer Herrscher, Dynastien, deutscher Kaiser, aber auch der krönenden Päpste –, das wird nunmehr im Falle Benedikts von Fried und zunehmend mehr Forschern bestätigt: Geschichte, das sind keineswegs immer „scheinbar stimmige Vergangenheitsbilder, die doch in ihren elementaren Aussagen erheblich vom tatsächlich Geschehenen abweichen können“ (wie oben aus dem Klappentext zitiert), sondern Menschen konstruieren sehr bewusst Teile ihrer Vergangenheit so, wie sie ihnen nützlich und erinnerungswürdig erscheint. Geschichte ist häufig genug bewusstes Konstrukt.

Damit können wir Frieds Memorik getrost ad acta legen, denn die Teile, die wahr bleiben, wie Verdrängungen, Hereinspielen des Unbewussten und andere Verformungen hat nun wahrlich Freud lange vor Fried und durchaus umfassender beschrieben. Hinfällig wird dagegen Frieds beharrlicher Versuch, mein ‘Karl der Große hat nie gelebt’, das ihn seit 1995 stark beunruhigt, dadurch zu relativieren, dass er in immer stärkerem Maß auf die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses hinweist. Wenn er Charakter hat, entschuldigt er sich für die Prioritätsanmaßung in Sachen hl. Benedikt und akzeptiert den großen Karl als kühnes Produkt rationaler Logik.

Max Kerner und Klaus Herbers erklären ‘die Päpstin’ zur wahrscheinlichen Fiktion

Der Papst mit den meisten Monographien in den letzten Jahrzehnten war kein Papst, hat nie gelebt, sollte aber möglichst eine Frau gewesen sein: die „Päpstin Johanna“. Nun haben zwei Autoren der Hochschulen Aachen und Erlangen-Nürnberg zu ihr eine neue Arbeit vorgelegt. Der uns wohlbekannte Max Kerner, streitbarer Paladin Karls in Aachen, tritt nochmals in den Ring, obwohl dem Emeritus bald der 70. Geburtstag ins Haus steht.

Zwar widmen die beiden Autoren ihr erstes Kapitel der Frage: „Fiktive oder historische Figur?“, aber sie sind sich weitgehend einig, dass es sich um eine Fiktion handelt, aber nur weitgehend. Sonst gäbe es nicht in der gemeinsam verfassten Einleitung die Feststellung, dass es um einen Papst gehe, „den  es aller Wahrscheinlichkeit niemals gegeben hat: die Päpstin Johanna“ [K/H, 10]. Etwas später heißt es:

„Als Zwischenfazit ergibt sich aus all diesen Hinweisen und Ausführungen, dass die Fabel von der Päpstin Johanna alles andere als die Geschichte eines real existierenden weiblichen Papstes darstellt. Einen solchen hat es im Mittelalter nach allem, was wir wissen und aus den historischen Quellen entnehmen können, nicht gegeben.“ [K/H, 34]

Aber schon die nächste Kapitelüberschrift kokettiert erneut mit ihrer Möglichkeit: „Platz für (k)eine Päpstin?“ [K/H, 35] Das mag dem Publikumsinteresse geschuldet sein, vielleicht auch der völlig unbegründeten Angst, dass schon morgen der Vatikan geheime Akten über den Casus veröffentlicht.

Gewichtiger scheint mir der Untertitel des schmalen Bandes: „Biographie einer Legende“, signalisiert er doch gewollte Verwirrung. Denn bislang hatten Menschen eine Biographie, Erfundenes eher nicht, Sachen selten, selbst klug erdachte Bücher hatten ‘nur’ ihre Schicksale (habent sua fata libelli). Der Umstand, dass jetzt auch Legenden eine Biographie haben, wird von beiden Autoren unentwegt betont: „Geschichte ihrer geschichtlichen Überlieferung“ [K/H, 9], „legendarische Biographie“ [K/H, 34] oder eben „Biographie einer Legende“ [so auch K/H, 34, und zwei Mal 144]. Bislang hätte man nicht von einer Biographie, sondern von der Rezeptionsgeschichte gesprochen – diese Vermengung ist ein Schritt in eine neue Richtung: Wer sich wie die französischen Mediävisten schon lange nicht mehr mit einer Person Karl d. Gr., sondern nur mit ihrer Rezeptionsgeschichte beziehungsweise mit der Geschichte seines Mythos beschäftigt, der könnte sich auch mit der „Biographie“ der Legende Karl beschäftigen. So erfährt die Legende, also das manchmal Wundersame rings um einen häufig fiktiven Kern, ihre Aufnahme in die eigentliche Historik. Es steht also den Wissenschaftlern nichts mehr im Weg, sich mit Erfundenem und Erfundenen zu befassen. (Wir lassen beiseite, dass dies bereits auf dem Historikertag zu Aachen anno 2000 zentrales, allseits begrüßtes Thema war [vgl. Illig 2000], also nichts Neues ist).

Zur im Buch ausgebreiteten „Biographie“ der Legende lässt sich sagen: Die Päpstin ist abwechselnd um 850, um 900 und um 1100 angesetzt worden [K/H, 84], wobei die älteste Ansetzung auch als der älteste Hinweis zu gelten hat; Marianus Scotus († 1082) hat ihn in seiner Universalchronik für 854 gegeben [K/H, 126]. Doch die Legendenbildung verlief dann reziprok:

  • Jean de Mailly sah sie in seiner Metzer Universalchronik (1250) zwischen 1099 und 1101 [K/H, 63].
  • Ein anonymer Erfurter Franziskaner platzierte sie in seiner Chronica minor (1261/65), also nur wenige Jahre später, in die Zeit um 900 [K/H, 67].
  • Wiederum nur wenige Jahre später, 1277, setzte der schlesische Dominikaner Martin von Troppau die Päpstin direkt nach Leo IV. an (855), folgte also Marianus Scotus; Martin hat „als der »Erfinder« der konkretisierten Johanna-Legende zu gelten“ [K/H, 70]. Bis um 1300 ist die frühe Ausbildung der Legende abgeschlossen, es beginnt „die »recéption de la fable«“ [K/H, 85], die uns hier nicht weiter zu interessieren hat.

Im Detail bringt das Buch manch’ Verwunderliches. So heißt es zum Beispiel von Ignaz von Döllinger, dem Verfasser der Papst-Fabeln des Mittelalters [1863], dass er das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma von 1870 solange bekämpfte, bis er exkommuniziert wurde: „Danach gab Döllinger alle kirchlichen Aufgaben auf“ [K/H, 21]. Man hätte hier durchaus erwähnen können, dass es auch außerhalb der Catholica Heil gibt, legte doch v. Döllinger zusammen mit Johann Friedrich v. Schulte, Franz Heinrich Reusch und dem späteren Bischof Joseph Hubert Reinkens den Grundstein für die Altkatholische Kirche in Deutschland, also für eine Kirche ohne Papst.

Quellenangaben lassen sich, ein weiteres Beispiel für Verwunderliches, beliebig verkomplizieren. Zunächst fällt auf, dass es Faksimiles der Jahrbücher von Fulda gibt, die ins 9. Jh. datiert werden [K/H, 40]. Gezeigt wird allerdings die MHG-Ausgabe von 1891 mit einem Druckbild, das sich kaum von dem einer Schreibmaschine unterscheidet und dementsprechend allenfalls schlichte Setztechnik, keine mittelalterliche Schreiberhand illustriert. Wer nun die deutsche Übersetzung goutieren möchte, wird auf Anmerkung 2 verwiesen, die sich dann auf S. 39 f. findet und zur S. 147 führt. Dort erfahren wir, dass die MHG-Edition von Rau stammt; dazu gibt es auf S. 161 unter Rau den Verweis zum nächsten Stichwort, zu den Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Also alles unmittelbar zugänglich.

Für die Verfechter des erfundenen Mittelalters haben Kerner und Herbers erfreuliches Material bereit gestellt.

Neben der Päpstin-Legende bringt die Chronica minor eines unbekannten Erfurter Franziskaners (um 1261/65) den Hinweis auf zwei Pseudopäpste (pseudopapa): der eine – weibliche – während des Pontifikats von Formosus (891–896), der andere, „dessen Name und und Pontifikatsdauer unbekannt seien“, unmittelbar nach Sergius III. (904–911)! Es ist überaus erfreulich, dass ausgerechnet im Jahr 911 ein Pseudopapst gesehen wird [K/H, 67], der den Übergang von fiktiven zu realen Zeiten markiert.

Dazu passt, dass Martin von Troppau in seiner Papst- und Kaiserchronik von 1277

„im Frühmittelalter nur einen Papst [habe] finden können, »der um seiner hervorragenden Wissenschaft willen« zum Papst gewählt worden sei; dies  ist für ihn nicht der gelehrte Gerbert von Aurillac gewesen – weil es der Teufel war, der ihn zum Papst (Silvester II., 999–1003) gemacht hatte und nicht sein eigenes Wissen – sondern Papst Leo IV. (847–855), der ein solcher Mann des Wissens war […] und der sich durch vorbildliche Lebensweise ausgezeichnet hat“ [K/H, 78].

Seltsam: Diesem Leo IV. sind die gleichen Charakteristika zugeordnet worden wie der Päpstin Johanna, die deshalb laut v. Döllinger den Platz unmittelbar nach ihm zugeordnet bekam. Was seine wissenschaftlichen Leistungen gewesen wären, bleibt hier dunkel, ebenso dunkel bleibt, warum der Wissenschaftler Silvester II. des Teufels war. S. 38 bringt ein zeitgenössisches Konterfei von Papst Leo IV., „einer gelehrten Persönlichkeit“ [K/H, 37], über deren Gelehrsamkeit man offensichtlich keine Details kennt, zumindest nicht im Ökumenischen Heiligenlexikon oder bei Wikipedia. Wie es der Zufall will, hat Buchautor Herbers den entsprechenden Eintrag im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon [Bautz 1992] geschrieben. Er berichtet dort über umfangreiche Bautätigkeiten (civitas leoniana rings um St. Peter), bringt aber kein Wort über irgendein wissenschaftliches Interesse bei Leo IV.!

Dafür scheint es nur eine einzige Erklärung zu geben, nachdem es ja nicht an den wissenschaftlichen Bemühungen selbst gelegen haben kann: Man erinnerte sich offensichtlich im 13. Jh. noch daran, dass Silvester II. es gewagt hatte, die Uhr vorzudrehen! Mochte er gedacht haben, Christi Willen auszuführen, sahen spätere darin den Willen Satans.

Das Fresko in der Unterkirche von San Clemente zeigt Leo IV. mit dem (blauen) Quadrat-Nimbus, der nach meinen Recherchen nicht für Zeitgenossen zum Einsatz kam, sondern nur für fiktive Persönlichkeiten während der erfundenen Jahrhunderte [vgl. Illig 1996c]. Nachdem zwischen 1060 und 1130 lebende Persönlichkeiten mit einem goldenen Quadratnimbus ausgezeichnet worden sind, liegt es nahe, die Darstellungen mit einem blauen Quadratnimbus ebenfalls in dieser Zeit anzusetzen. Das gilt auch für die Darstellung in San Clemente [Illig 1996c, 317].

Auf S. 83 wird ein Kunstwerk gezeigt:

„Marmorbüste der Grabanlage Bonifaz’ VIII. (ein Werk des Arnolfo di Cambio, wahrscheinlich aus Anlass des Heiligen Jahres 1300 geschaffen): »das erste plastische Porträt eines noch lebenden Papstes« (A. Paravicini Bagliani).“

Deutlicher lässt sich die Bescheidenheit der Päpste nicht demonstrieren: Sie haben nicht das Beispiel Karls d. Gr. nachgeahmt, der sich eitel in Müstair als lebensgroße Stuckfigur oder in Metz als winziger Reiter abbilden ließ – nein, sie haben sich fast 500 Jahre Zeit für ihre ersten wirklichen Porträts gelassen.

Für Vertreter der Phantomzeitthese ist es selbstverständlich, dass eine Päpstin im 9. Jh. Fiktion sein muss [vgl. Illig 1997b]. Kerner, der einst in der Fiktionalisierung Karls eine Sünde wider den Hl. Geist sah [vgl. Illig 2000, 635], gibt mittlerweile Ratschläge zum Umgang mit Fiktionen.

„Vielleicht sollten wir Fiktionen eher danach befragen, ob sie für nicht verstandene Entwicklungen der Zeit ein Sinnangebot bereit hielten. Wahrscheinlich müssen wir umdenken: Nicht die erzählerisch geschaffene Gestalt einer Päpstin, die auf uns heute vielleicht unglaubwürdig wirkt, war das Unerhörte für mittelalterliche Hörer und Leser, sondern die Wirklichkeiten, die erst nach fiktionaler Ausdeutung verständlich wurden. Somit konnte die Legende über Jahrhunderte hinweg gestaltet werden und lebendig bleiben. Wenn aber Fiktionalität in diesem Sinn ernst genommen wird, dann entfaltet sie Wirksamkeit, weil sei Vorstellungshorizonte und auch Handlungsziele weiter bestimmte, wie dies im Falle der Päpstin geschah“ [K/H, 137 f.]; Hvhg. HI.

Wir verneigen uns vor Paulus Kerner, von dem wir noch viel Positives über die erfundenen Jahrhunderte lesen werden dürfen.

Nachträge

Zum Schluss seines Interviews leistete sich Fried eine unerwartete Volte.

Zeit: So war Benedikt wirklich ein »Gesegneter«.

Fried: Den Namen gibt es übrigens auch in anderen Religionen. Im Judentum heißt Benedictus Baruch, im Islam Mohammed.

Zeit: Dann könnte sich Papst Benedikt ja Mohammed nennen?

Fried: Der Prophet hat auf jeden Fall gelebt.“

Seltsam: Um sich in die aktuelle Diskussion um die einstige Realität Mohammeds einmischen zu können [vgl. Müller 2007, 600; 2009, 155; Weissgerber 2007 Beaufort 2008, 327], setzt Fried abrupt sein Diktum – aber um den Preis, dass es nun klingt, als könne sich Papst Benedikt XVI. deshalb nicht Mohammed nennen, weil der Prophet gelebt hat, der Papst hingegen …

In diesem Heft weise ich darauf hin, wie die Autoren und Administratoren der Wikipedia zunehmend darauf achten, dass keiner meiner Befunde breiter dargestellt und keinesfalls als wahrheitsnah bezeichnet wird (s. S. 492-495). Um so mehr freut es mich, dass meine These vom fiktiven Benedikt von Wikipedia aufgegriffen und registriert worden ist – nur weil sich ein Fried als Urheber ausgibt:

„immer mehr Historiker gehen aufgrund des Fehlens zeitgenössischer Nachrichten sogar davon aus, dass es Benedikt niemals gegeben habe: Er sei wahrscheinlich nur eine »erfundene Idealgestalt« (Johannes Fried)“ [wiki / Benedikt von Nursia].

Für die These vom erfundenen Mittelalter mit seiner ebenso erfundenen Idealgestalt Karl geht es voran…

Max Kerners Auftreten erinnert an ein nahendes Jubiläum, das er Hand in Hand mit Sven Schütte [vgl. Illig 2010] begehen wird. Im Dezember werden es zehn Jahre, dass er mir öffentlich „baldmöglichst ein Exemplar des Kerner-Werks [Karl der Große – Entschleierung eines Mythos; 2000] – mit Widmung“ versprochen hat [vgl. Illig 2000, 635]. Nachdem er nunmehr dem Fiktionalisieren huldigt, wäre es nicht verfrüht, vor seinem 70. Geburtstag am 1. Dezember sein Versprechen einzulösen…

Literatur

bautz = Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon http://www.bautz.de/bbkl/

Beaufort, Jan (2008): Arius und Ali. Über die iranischen Wurzeln des Christentums und die christlichen Wurzeln des Islam; in Zeitensprünge 20 (2) 314-331

Clark, Francis (1987): The Pseudo-Gregorian Dialogues (Studies in the History of Christian Thought 37-38); Leiden

– (2003): The Gregorian Dialogues and the Origin of Benedictine Monasticism (Studies in the History of Christian Thought 108); Leiden

Fried, Johannes (1994): Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands Bd. 1); Berlin

– (1998): The veil of memory. Anthropological problems when considering the past; in The Annual lecture German Historical Institute 1997; London

– (2004): Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik; München

– (2010): Benedikt gab es nicht. Der »Vater des Abendlandes« ist nur eine Kunstfigur des Mittelalters. Das behauptet der Frankfurter Historiker Johannes Fried; in DIE ZEIT, vom 15. 4. [Befragung durch Chr. Staas, s. dort]

Friedell, Egon (1963): Kulturgeschichte des Altertums; München (11936)

– (1989): Kultur ist Reichtum an Problemen. Extrakt eines Lebens gezogen und vorgesetzt von Heribert Illig; Zürich

hist. koll. = http://www.historischeskolleg.de/preis/frame.htm

Illig, Heribert (1993): Das Ende des Hl. Benedikt? Der andere ‘Vater des Abendlandes’ wird auch fiktiv; in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 5 (2) 23-28

– (1994): Doppelter Gregor – fiktiver Benedikt. Pseudo-Papst erfindet Fegefeuer und einen Vater des Abendlandes; in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 6 (2) 20-39

– (1996a): Streit ums zu lange Frühmittelalter. Mediävisten stolpern über hohe Ansprüche und leere Zeiten; in Zeitensprünge 8 (1) 107-120

– (1996b): Das erfundene Mittelalter; Düsseldorf

– (1996c): Roms ‘frühmittelalterliche’ Kirchen und Mosaike. Eine Verschiebung und ihre Begründung; in Zeitensprünge 8 (3) 302-326

– (1996d): Von der Karlslüge. Über die Fortsetzung einer wissenschaftlichen Debatte; in Zeitensprünge 8 (3) 327-336

– (1997a): Von Wenden und schrecklichen Visionen. Die Mittelalterdebatte wird umfassend; in Zeitensprünge 9 (2) 260-285

– (1997b): Päpstin Johanna? Rezension von Elisabeth Gössmanns Buch; in Zeitensprünge 9 (2) 287 f.

– (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden worden sind; München

– (2000): Den Mythos erinnern, Karl vergessen. Ring um den Historikertag zu Aachen; in Zeitensprünge 12 (4) 626-638

– (2004): Siebigs’ Fund und Fried ohne Freud. Aktuelles zur Frühmittelalterdebatte und mehr; in Zeitensprünge 16 (3) 625-652 [u.a. Rezension der Memorik]

– (2010): Zehn Jahre Warten auf Schütte. Eine Würdigung; in Zeitensprünge 22 (1) 198-208

Kerner, Max / Herbers, Klaus (2010): Die Päpstin Johanna. Biographie einer Legende; Köln u. a.

Müller, Zainab-Angelika (2007): Zur Gleichsetzung von Ali und Arius und zur Identität der Arianer; in Zeitensprünge 19 (3) 600-609

– (2009): Über das Verwalten schriftlicher Schätze (Zustände in den Islamwissenschaften II); in Zeitensprünge 21 (1) 139-167

Staas, Christian (2010): Heiliger oder Legende? Benedikt gab es nicht. Der »Vater des Abendlandes« ist nur eine Kunstfigur des Mittelalters. Das behauptet der Frankfurter Historiker Johannes Fried; [ein von Staas geführtes Interview mit Fried] in Zeit online, vom 16. 4. http://www.zeit.de/2010/16/GES-Interview?page=1

Weissgerber, Klaus (2007): Zur Felsendom-Inschrift (Islamica IV); in Zeitensprünge 19 (1) 120-129

wiki = Wikipedia-Eintrag unter dem genannten Stichwort