Erfahrungen mit einem Mammutprojekt
von Heribert Illig
(modifizierte und ergänzte Version des Beitrags aus Zeitensprünge 2/2010)
„Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten in allen Sprachen der Welt. Jeder kann mit seinem Wissen beitragen. Seit Mai 2001 sind so 1.077.823 Artikel in deutscher Sprache entstanden.“ [wiki / wikipedia]
Die weltweite Autorengemeinschaft erstellt die Artikel kollektiv und unentgeltlich. Mittlerweile gibt es die Wikipedia in den unterschiedlichsten Sprachen, auch in Kunstsprachen wie Esperanto oder in nicht schriftfixierten Sprachen wie „Boarisch“, wobei die Artikel selten einfach übersetzt, sondern im Prinzip jeweils neu erarbeitet werden. So liegen über zehn Millionen Artikel vor, davon drei Millionen auf Englisch und eine Million auf Deutsch. Mehr als 6.700 Autoren arbeiten regelmäßig bei der deutschsprachigen Ausgabe mit.
Damit wird Denis Diderots Traum wahr. Er wollte das gesamte Wissen der Menschheit sammeln. Sein Ergebnis waren zwischen 1751 und 1772 die 28 Foliobände (davon 17 für Texte) der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonnée des sciences, des arts et des métiers. Der Wunsch nach umfassendem Wissen ist seitdem trotz großer Anstrengungen unbefriedigt geblieben, trotz der 52 Bände des Großen Konversationslexikon, die Joseph Meyer zwischen 1840 und 1855 in Hildburghausen verlegte, trotz der 300.000 Stichworte der aktuellen Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. Von da her ist die quantitative Leistung der Wikipedia gar nicht zu überschätzen. Auch Verfügbarkeit und Aktualität sind schwer zu übertreffen, schon gar nicht von einem Lexikon in Buchform.
Schwieriger zu beurteilen ist die Qualität der Artikel. Sie scheint mir – es ist also die Rede von einer subjektiven Stichprobe – im Allgemeinen gut bis sehr gut. Probleme zum Teil gravierender Art treten immer dann auf, wenn es um die Tendenz eines Artikels geht. Solange Vorpommern oder Schwaben einen Artikel über z.B. Kroatien verfassen, dürfte relativ rasch Einklang zu erzielen sein. Anders sieht es aus, wenn Serben und Kroaten streiten, wer von ihnen diese Länder besser einschätzen kann. Hier geht es also um Meinungen, Vorurteile, Weltanschauungen, politische oder religiöse Ansichten; hier kämpfen Lobbyisten und pressure groups auch in Wikipedia massiv um Meinungshoheit und ‘die’ Wahrheit. Dementsprechend schwer ist ein objektiver Blick zu gewinnen, vermutlich zum jeweils aktuellen Zeitpunkt gar nicht möglich.
Ähnlich ist es in vielen wissenschaftlichen Bereichen. Der Mainstream will seine Ergebnisse geschildert und nicht in Frage gestellt haben. Ein online-Lexikon könnte sich damit zufrieden geben, die herrschende Lehre zur Darstellung zu bringen und jedwede Zweifel auszublenden. So würde viel Streit vermieden. Aber die Wikipedia eröffnet durchaus auch Artikel, bei denen das einzig Gemeinsame das Konträre ist. Wie kann hier Objektivität gewährleistet werden?
Als Beispiel kann die Theorie vom erfundenen Mittelalter dienen, die als artikelgeeignet empfunden worden ist, aber zu den lebhaft umkämpften Artikeln gehört. Hier prallen die widersprüchlichsten Meinungen aufeinander, so dass auch sog. Sichter eingreifen müssen, teils um die Missetaten von ‘Vandalen’ zu beseitigen, teils um aus Sicht der Wikipedia das letzte Wort zu haben. Leider ist nirgends gewährleistet, dass nicht aus Sichtern wirkliche Vandalen werden. Jan Beaufort [2008] hat das zum Teil beängstigende Wirken der Sichter bereits vorgestellt, analysiert und kritisiert. So ist auch die Wikipedia stets davon bedroht, dass die Klügeren nachgeben.
Henriette Fiebig
Während das letzte Heft im Druck war, berichtete Der Spiegel [Rohr] über die Innenwelt der Wikipedia, speziell von Wikimedia Deutschland, dem Verein, der für Wikipedia Spenden sammelt, sie auch sonst unterstützt, aber nicht betreibt. Da geht es um die Hierarchie, um die Dominanz der rund 3.000 Administratoren, um Hausordnung, Gruppenbildung und persönliche Animositäten. Für uns war von Interesse, dass beispielgebend mit Henriette Fiebig eine angestellte „community Assistant“ des Vereins und gleichzeitig eine ehrenamtliche Administratorin der Wikipedia vorgestellt worden ist, die über zweieinhalb Jahre hinweg die Mediävisten vor der Phantomzeitthese verteidigt hat. Sie wird als ausdauernde Kämpferin in Diskussionen geschildert:
„man komme nie zu einem Konsens: »Irgendwann hast du geschnallt: Wir suchen da letztlich die Wahrheit. Die gibt’s aber nicht.« Eigentlich habe sie dieses Rechthabenwollen abgelegt, nachdem sie sich zweieinhalb Jahre mit den »Pappköppen im ‚Erfundenen Mittelalter‘ herumgeschlagen« habe, den Anhängern einer Verschwörungstheorie, die besagt, dass die Jahre 614 bis 911 nie existiert hätten. Sie hat sich damals durchgesetzt“ [Rohr, 154].
Die Verteidigerin der Wahrheit, der wir die Kombination aus karnevalistischen Pappnasen und hanseatischen Fischköppen verdanken, ist laut Spiegel Mediävistik-Abbrecherin und nennt als ihre Lieblingsthemen Donaldismus und Heldenepik; ihr Konterfei im Wikipedia-Outfit mutet an wie das von KGB-Agentinnen in frühen James-Bond-Filmen. Solchermaßen gerüstet hat sie nicht nur die Wissenschaft, sondern die ganze Welt vor einer dieser hässlichen Verschwörungstheorien bewahrt. Es bestätigt sich wieder einmal: Gerade der ambitionierte Laie hält sich für berufen, ‘seine’ Professoren vor dem Denken zu schützen.
Von dem Herumgeraufe um das Erfundene Mittelalter und um meine Person bin ich vor vielleicht fünf Jahren durch einen Wikipedia-Autor informiert worden. Mir war es Anlass, diesen Wikipedia-Artikel zu meiden. Kürzlich hat Jan Beaufort [2008] auf zahlreiche Irrtümer hingewiesen, die dort zu finden sind. Seitdem ist er nicht besser, sondern kürzer geworden.
Chronologiekritik und Kategorie Chronologiekritik
Anzufügen ist, dass es auch einen Artikel Chronologiekritik und dazu Kategorie Chronologiekritik gibt. Letztere zeigt ein Schema von A bis Z mit 19 Eintragungen zu Personen und Arbeiten, die zu entsprechenden Seiten führen. Es muss auffallen, dass gleich drei der genannten Stichpunkte nichts mit Chronologiekritik zu tun haben: Wilhelm Kammeier sah eine Umschreibaktion mittelalterlicher Geschichte zu Gunsten der Päpste, äußerte aber keinen einzigen Satz zu irgendeiner Chronologiekritik. Ihn stufe ich als Deutschnationalen ein. Walther Steller war ein strammer Nazi, der mit seiner Wenden-These aus Slawen Ostgermanen machen wollte. Was das mit Chronologiekritik zu tun hätte, bleibt nicht nur im zugehörigen Artikel völlig dunkel. Schließlich wird der Begriff „Keltogermanen“ aufgeführt, der ein in der Antike niemals berichtetes Volk oder eine Rasse aus Kelten und Germanen beschreibt. Der Begriff „wurde insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Rassekundlern wie zum Beispiel Houston Stewart Chamberlain benutzt“ [wiki / Keltogermanen]. Auch mit diesem Begriff ist keine Chronologiekritik verknüpft, auch wenn ihn ein forscher Chronologiekritiker einmal benutzt haben mag.
So ist festzuhalten, dass Wikipedia dazu tendiert, einen Konnex zwischen Chronologiekritik und braunem Gedankengut zu konstruieren, mit dem sich die ungeliebte Kritik an der Zeitachse in der Schublade für Rechtsextremismus unterbringen lässt. (Das geht um so leichter, als sie alle chronologiekritischen Ansätze pauschal verschwörungstheoretisch behandelt, ohne Qualitätsunterschiede zu beachten, wie etwa: ‘dem Abgleich von Schriftquellen und Archäologie verpflichtet’ oder: ‘frei schwebende Spekulation’.)
Mir sind derartige Bestrebungen nicht neu, fand es doch bereits 1995/96 Prof. Johannes Fried für richtig, für mich die Begriffe Karlslüge und Karlsleugner zu prägen, die nicht zufällig an Auschwitzlüge und Auschwitzleugner erinnern sollten. Richard Herzinger ist es 1997 [vgl. Illig 1997b] in der bis dahin als honorig geltenden Zeit gelungen, meine These vom erfundenen Mittelalter in einem Satz mit den wirklichen Auschwitzleugnern zu bringen.
Fried als Kenner der Mediävistik, der ihr sogar den Weg ins neue Jahrtausend gewiesen hat [1996a], hat damit bestätigt, dass bei fehlenden Argumenten – er konnte nur behaupten, dass sich die Karlsquellen wechselseitig bestätigen würden, was nicht stimmt – eine Verleumdung die besten Dienste leistet, denn ein Kratzer bleibt allemal. Richard Herzinger hat Frieds Kratzer zur richtigen Kerbe vertieft, in die immer wieder einmal geschlagen wird – siehe Sawicki samt Kontext [2001; vgl. Illig 2002] oder Krojer [2003; vgl. Heinsohn]. Nun also wird die Chronologiekritik insgesamt tendenziell als ‘braun’ verleumdet.
Auffällig ist, dass die Namen unter dem Stichwort Chronologiekritik zum Teil andere sind als in Kategorie Chronologiekritik. Bei einem Standardwerk wie dem Brockhaus würde man von Inkonsistenz sprechen, bei Wikipedia bleibt immer die Hoffnung, dass sie demnächst behoben wird.
Heribert Illig
Wikipedia hat mich auch zur Ehre eines eigenen Artikels erhoben, den ich für diesen Aufsatz gelesen habe (was nur ärgert). Er versucht objektiv zu sein, bemüht sich aber nicht um Fakten. Ist es den Autoren bei der Wikipedia verboten, korrekte Daten beim Porträtierten anzufordern? Es wäre nützlich gewesen, weil Zeitungsmitteilungen und dergleichen doch sehr fehleranfällig sind. Nur ein kleines, gerade für die Leser der Zeitensprünge verständliches Beispiel: Diese Zeitschrift erschien zwischen 1989 und 1994 unter dem Titel Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart; doch für diese Zeit wird sie abwertend als „Rundbrief“ bezeichnet. Diese Benennung bekommt einen speziellen Sinn, wenn man den letzten Satz des Wikipedia-Artikels mit seinen irreführenden, nicht gestaffelten Anführungszeichen liest:
»”Illig sei ein Sektenführer, der Unwissende wie eine ”pseudoreligiöse Gemeinde” um sich” schart, äußerte der Berliner Mediävist Michael Borgolte.« [wiki / H. Illig; Hvhg. wiki. Nach Intervention ersetzt, s. Nachtrag]
Bei einer Sekte wirkt ein Rundbrief, vielleicht gar ein Hirtenbrief oder dergleichen natürlich viel stimmiger. Borgolte hat 1999 eine damnatio memoriae über mich verhängen wollen, weil um mich etwas Pseudoreligiöses entstanden sei. Er wollte mich zwar verleumden, aber sich dabei nicht strafbar machen. Deshalb konnte er mich nicht einfach „Sektenführer“ nennen. 1999 habe ich Borgolte gegenüber von „blanker Behauptung“ gesprochen, die er nicht belegen könne, von „Charakterlosigkeit“ und von einem „ebenso unhaltbaren wie bösartigen Vorwurf“ [Illig 1999, 400]. Er hat dem einschlägigen Heft [Illig 1999] den Empfang verweigert und nie irgendeinen Beleg für seine bösartigen Unterstellungen vorgewiesen. Es handelt sich demnach um eine zweckgerichtete Diffamierung.
Wie mag er wirklich darauf gekommen sein? Er hatte im Sommersemester ein Proseminar über das Erfundene Mittelalter angekündigt. Wie mir zwei Besucher jeweils einer Sitzung – Christian Blöss und Wilfried Gärtner – mitteilten, war das Interesse bei der Auftaktsitzung enorm: ein voller Hörsaal mit Studenten auch auf den Fensterbrettern (bei der zweiten Stichprobe immer noch zahlreiche, aber nicht mehr überbordende Hörerschaft). Das muss Borgolte als Vertreter eines Orchideenfaches mit bescheidener Studentenzahl überrascht, ja erschreckt haben. Da er sich selbst als Vortragenden kannte, musste es am Thema liegen: zahlreiche StudentInnen, jederzeit bereit, einen Paradigmenwechsel zu begrüßen? Das durfte er niemals zulassen, dem musste Einhalt geboten werden. Und so könnte sein Erklärungsversuch zur Errettung der Mediävistik gelautet haben: vermutlich eine Art religiöses sit-in, in Rundbriefen organisiert und von einem Sektenführer gesteuert!
Er ist nüchterner einzuschätzen. Als er das lebhafte Interesse erleben musste, überlegte er, wie man Hörer und Thesen-Urheber gleichermaßen diffamiert. Und da bot sich damals nach dem fehlgeschlagenen Rechtsextremistenvorwurf mit den aktuellen scientology-Erfahrungen der Sektenvorwurf an.
Wie aber kommt Wikipedia zu ihrer Textvariante? Sie stammt laut Fußnote von Lucas Wiegelmann, der sich im letzten November als promovierender Mediävist die Freiheit nahm, mich für Die Welt recht seltsam zu porträtieren und dabei der langsam Sektencharakter annehmenden Gemeinde einen ganz konkreten „Sektenführer“ zu imaginieren! So war endlich das ausgesprochen, was Borgolte nicht tun konnte, aber wollte, und diese eindeutige Verleumdung ist von Wikipedia begeistert aufgegriffen worden – laut Versionenangabe wurde am 25.11., also nur neun Tage nach Erscheinen des Wiegelmann-Artikels endlich das letzte Wort, ein verleumderisches Wort in Sachen Illig gesprochen.
Also Glückwunsch an Michael Borgolte für seinen späten Triumph und Respekt für Lucas Wiegelmann, der für die Mediävisten endlich das aussprach, was sie sich seit elf Jahren verkneifen – aber es bleibt blanke Verleumdung, hier noch um einen Spiralgang gesteigert, unterstellt doch Wiegelmann seinem Borgolte eine Verleumdung, die dieser nicht ausgesprochen hat. Also so etwas wie der verleumdete Verleumder.
Wikipedia – parteiisch
Ist die Wikipedia nun generell das ausführende Organ für den Mainstream? Es kann vermutlich gar nicht anders sein, weil abweichende Meinungen immer eine Revolte gegen die herrschende Lehre darstellen, die von ihr niedergeschlagen werden müssen. Erst wenn trotz aller Hemmstricke daraus eine Alternativmeinung und schließlich sogar Mainstream-Meinung wird, kann auch das Lexikon nachziehen. Insofern leistet die als Akademikerin gescheiterte Fiebig einen guten Job als Ausputzerin für ‘ihre’ Professoren. Aber es geht auch anders.
Ich werde zunächst abwarten, wie lange es nach der Ins-Netz-Stellung dieses Artikels dauern wird, bis die Sekten-Verleumdung gegen mich (und auch gegen Borgolte, dem ja eine so nie gemachte Verleumdung in den Mund gelegt wird) aus ‘meinem’ Wikipedia-Artikel gestrichen wird – vielleicht sogar in Verbindung mit einer Entschuldigung (s.u., Nachtrag). Ich laufe natürlich Gefahr, dass ‘mein’ Artikel gleich ganz gestrichen wird, bin ich doch im Wikipedia-Artikel über meiner Geburtsstadt bereits aus der Rubrik „Söhne und Töchter der Stadt“ entfernt worden.
Zum guten Schluss
Es bleibt die Kernfrage, wie vertrauenswürdig und damit zitationswürdig Wikipedia ist. Bekannt ist, dass viele Hochschullehrer ihren Studenten verbieten, dieses Online-Lexikon zu zitieren. Dieses Verdikt muss nicht aus Gründen der Qualität erfolgt sein, das kann genauso gut den Zwang bedeuten, sich nicht ausschließlich mit Tertiärliteratur auseinanderzusetzen, sondern selbst zu recherchieren, selbst zu werten und damit dem ‘studere’ als ‘sich bemühen’, ‘streben’ zu entsprechen.
Wenn ich meine eigenen, hier bereits geschilderten Stichproben fortsetzen darf, so stelle ich fest, dass die Aktualität in vielen Bereichen von Wikipedia unerreicht hoch ist, dass auch die Korrektheit in vielen Belangen gut bis sehr gut ist (etwa neue Ergebnisse im Bereich der Astronomie oder die Darstellung altbekannter Sachverhalte mit Hilfe ungeahnter optischer Hilfsmittel).
Aber natürlich sind Bemühungen von Laien, die durch Laien kontrolliert werden, nicht besser als die Fachbücher, die von anerkannten Mainstream-Fachleuten geschrieben werden, auf die sich die Wikipedianer dann stützen. Überall da, wo es um Wandel geht, wird sich Wikipedia eher gegen die Neuerer als gegen die Bestandsverwalter wenden, das liegt schon an den Lehrbuchschreibern. Warum Wikipedia das jedoch mit verleumderischen Mitteln tut, bleibt völlig unverständlich und unverzeihlich! Es ließe sich freilich sagen, dass Wikipedia auch in dieser Beziehung nur Bestandsverwalter à la Borgolte nachahmt, die gerne einen bösartigen Untergriff ansetzen, um nicht konkret argumentieren und verlieren zu müssen.
So resümiere ich: Die Wikipedia ist ein überaus dankenswertes und nützliches, vom Menschen ersonnenes und laufend erweitertes und verbessertes Hilfsmittel, das man weder mit dem Hort der Wahrheit noch mit charakterlicher Unfehlbarkeit gleichsetzen sollte. Etwas Besseres werden wir nicht bekommen – das können Optimist und Pessimist gleichermaßen sagen.
Aktualisierender Nachtrag
In derselben Zeitensprünge-Ausgabe wird außerdem der Nachweis geführt, dass sich Prof. Johannes Fried eine falschen Priorität beim Fiktionalisieren des hl. Benedikts anmaßt, die Wikipedia weiterträgt. Deshalb gingen nach Erscheinen des Heftes Belegexemplare mit persönlichen Briefen an die Professoren Michael Borgolte und Johannes Fried, dazu an den Doktoranden Lucas Wiegelmann und an die Arbeitsstätte von Henriette Fiebig, die Wikimedia e.V.
Die Reaktionen sind rasch geschildert. Fried hat nicht reagiert. Borgolte versah meinen Originalbrief mit einem Eingangsstempel und schickte ihn samt Belegheft wieder zurück – er meidet wie 1999 jede Kommunikation. Wiegelmann ist nicht mehr in der Redaktion der Welt und holt seine Privatpost nicht am Postamt ab. Beide sind also gewissermaßen abgetaucht. Der Brief an Wikimedia blieb ebenfalls ohne Reaktion. Verhalten sich alle Beteiligte gleich, weil es um Verleumdung geht?
Im Falle der mir ‘gewidmeten’ Wikipedia-Seite lag der Sachverhalt einfach: Der Beitrag schloss mit einem von Wiegelmann erfundenen Zitat, muss also richtig gestellt werden, sonst läge eine justitiable Verleumdung durch Wikipedia vor. Bormia versuchte ab 15.9. das Zitat zu löschen. Was sich seitdem abspielt – gut verfolgbar auf den zugehörigen Diskussionsseiten – ist mehr als erstaunlich.
Es wurde von Seiten Wikipedia (etwa liudger123 oder Seewolf) immerhin eingesehen, dass das Zitat nicht haltbar ist. Aber verschwinden darf es auch nicht, weil der Sektenvorwurf die Abonnenten der Zeitensprünge und meine Person so trefflich desavouiert. Also wollte man auf das Borgolte-Zitat von 1999 zurückgreifen, hatte es aber nicht. So wurde von mmg eine Fassung erfunden, die wiederum nicht der ursprünglichen entspricht. Dabei ist es bis zum 23.9. geblieben, obwohl diese Zitat-Fälschung sofort kritisiert wurde.
Mmg hat seitdem in immer längeren Diskussions-Tiraden klargestellt, dass die Bezeichnung „Sekte“ nicht diffamierend sei, aber mein ganzes kritikwürdiges Treiben am besten beschreibe. Dazu wurde am 21.9. ein anonymer Diskussionsbeitrag am Beginn der Seite zugelassen, der allen Wikipedia-Vorschriften zuwiderläuft. In vier Zeilen bringt er eine ganze Beleidigungskaskade: „aberwitzig / lächerlich / Unsinn / auf einer Stufe mit Erich von Däniken / sich dermaßen blamiert / seine Anhänger, oder sollte man »Jünger« sagen / verzapften Blödsinn“. Geiferer dieser Art werden wegen Verletzung der Netikette bei Wikipedia von der Diskussion ausgeschlossen; wenn es gegen mich geht, ist es offenbar erwünscht, willkommen und verbreitenswert.
Mittlerweile hat mmg das ursprüngliche Zitat gefunden (nicht bei Borgolte, nicht beim Berliner Tagesspiegel, sondern in einem auf lelarge.de nachzulesenden Artikel von mir) und hat es der Seite eingefügt. Somit ist eine Verleumdung von 2009 durch eine Verleumdung von 1999 ersetzt. Verleumdung deshalb, weil Borgoltes einziges Indiz für eine „pseudoreligiöse Gemeinde“ laut seiner eigenen Aussage eine große Beteiligung an seinem Seminar war, die er nicht verstand. Deshalb sein Versuch, hier Sektengefahr heraufzubeschwören. Der Berliner Tagesspiegel ließ sich dafür nicht zum Steigbügelhalter degradieren: Die Redaktion entschärfte Borgoltes Wunschtitel
„Eine pseudoreligiöse Gemeinde. Michael Borgolte sieht Illigs Anhänger in der Nähe einer Sekte“
zu:
„»Pseudoreligiöse Gemeinde«. Michael Borgolte über die ungelösten Rätsel des Mittelalters“ [Bach 1999].
So hat die Zeitung klargestellt, dass sie den Sektenvorwurf nicht aufgreift, auch Borgoltes Benennung als „pseudoreligiöse Gemeinde“ nur wiedergibt, aber nicht mitträgt. Borgolte führt seinen ursprünglichen, ungedruckten Titel in seinem Schriftenverzeichnis für gedruckte Interviews auf (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin). Er täuscht also. Mmg täuscht ein weiteres Mal, indem er sich zwar das Zitat aus meinen Texten holt, aber den falschen Titel angibt! (Wer in drei aufeinanderfolgenden Versuchen falsch zitiert, ist entweder kein Wissenschaftler oder ein Fälscher.)
Weitere Beweise für eine Hinwendung zum Religiösen hatte Borgolte 1999 nicht, andere hat er seitdem nicht vorgebracht. Seine damalige Aussage ist also klar demagogisch, verleumderisch gewesen. Wer sie jetzt wieder als charakterisierendes Merkmal bei Wikipedia einstellt, geht ebenfalls verleumderisch vor. Selbst mmg hatte bereits das Bedürfnis sich zu rechtfertigen:
„Borgholtes [sic; so von mmg stets wiederholt] Aussage ist sicherlich keine Meinungsäusserung, sondern eine Tatsachenbehauptung, noch dazu eine gerechtfertigte, und kann daher m.E. problemlos zur Erklärung der Fakten auch in WP [Wikipedia] herangezogen werden.“ [mmg unter “Diskussion”]
Wer ist dieser mmg, der wie ein schlechter Dialektiker aus einer unbelegten, klar diffamierenden Aussage eine Tatsachenbehauptung fabriziert? Er ist – wie mir Jan Beaufort mitteilte – aus früheren newsgroup-Beiträgen als Matthias Müller-Götz zu dechiffrieren. Als Diplom-Ingenieur und Denkmalpfleger besitzt er architektonisches und architekturhistorisches Wissen, zumal er im Netz auch Seiten zur Romanik pflegt. Im Jahr 2001 hat er sich zur Problematik meiner 24 architektonischen Anachronismen an der Aachener Pfalzkapelle geäußert.
Aachener Anachronismen
Er war sich damals sicher, dass er das Thema wegen der schnellen Bearbeitungszeit „etwas grob“ abhandele, „doch zum gleichen, lediglich detaillierter formulierten Ergebnis kommen“ würde, wenn er sich mehrere Wochen damit beschäftigte. Er war sich also seines Ergebnis sehr sicher und hat es auch nicht mehr nachgebessert. Prüfen wir seine, hier vollständig zitierte Aussage zum ersten der 24 Anachronismen.
„1. Die Zentrale Kuppel
Illig Hauptaussage: Die Kuppel sei Anachronistisch, weil sie voraussetzungslos sei.
Tatsächlich sind grössere Wölbweiten in verschiedenster Weise (echte Kuppeln, Klostergewölbe, Kreuzgratgewölbe, Tonnen) schon zur Römerzeit bekannt. Der Mangel an zeitlich von Aachen wenig entfernten grossen Kuppelbauten lässt sich mit dem damit verbundenen finanziellen Aufwand erklären, nicht mit mangelndem technischen Wissen. Dieses liess und lässt sich an den gebauten Vorgängern (z.B. aus Byzanz und auch aus Römerzeit) studieren.
Kein Anachronismus.“ [Müller-Götz; Kursivsetzung HI]
Obwohl Müller-Götz diese Aussage unschwer als meine Hauptaussage erkannt hat, geht er auffällig rasch über sie hinweg; 13 seiner 24 Entgegnungen sind länger. Hat er ein besonders schlagendes Argument gefunden, mit dem er diese Hauptaussage erledigt?
Sein Text überrascht: Sein erster der hier kursiv gesetzten Sätze ist keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung meiner Gedanken. Der zweite Satz ist Meinung oder Postulat, worauf gleich einzugehen ist. Der dritte und letzte Satz ist falsch, wie zu zeigen ist.
Trotz seiner beruflichen Voraussetzungen ignoriert Müller-Götz das jeweilige Baumaterial und die Bauart völlig. Für ihn war meine Mühe umsonst, die weströmische Bauweise in Gussbeton und die oströmische Bauweise mit Tonhohlkörpern zu erläutern [Illig 1996, 24-35]. Beide Bauweisen kamen in Aachen nicht zum Tragen, denn dort wurde die Kuppel in massivem Haustein gewölbt. „Eine Tonne Gestein hängt über jedem Besucher“ im Oktogon, wurde anlässlich der Kuppelrestaurierung aus Aachen mitgeteilt. Gibt eine Mauer des Oktogons nach, stürzt alles ein. Betongegossene Kuppeln üben viel weniger Schub aus; selbst stark beschädigt halten die Reste noch Form, wie sich etwa in der Hadriansvilla östlich von Rom bestätigt. Die von ihnen ausgehenden Kräfte sind also viel leichter zu beherrschen. Nämliches gilt für Gewölbe aus Leichtelementen.
Ebenso wenig beachtet Müller-Götz die jeweilige Bautradition: Die Franken kommen vom Holzfachwerkbau her und haben keinerlei Erfahrung im Steinbau. Sie selbst könnten keine Kuppel wölben, weshalb ihnen die Forschung auch fast kein oberirdisches Gewölbe zuschreibt (bei Krypten stützt das Erdreich die Gewölbe). Ausnahmen sind die Kapelle von Germigny-des-Prés und das Westwerk von Corvey. In meiner bauevolutiven Sicht werden beide Bauwerke anderen Jahrhunderten zugeordnet.
Für die herrschende Lehre bleibt die Aachener Kuppel in merowingisch-karolingischer Zeit ohne jeden Vorgänger. Dass die Kuppel auch keinen adäquaten karolingischen Nachfolger hat, dass das Wölben nach herrschender Lehre im Abendland ganz ausstirbt und ab ca. 970 noch einmal ganz von vorne gelernt werden muss, wird von Müller-Götz völlig ausgeblendet. Es handelt sich hier jedoch um keine Belanglosigkeit, sondern um einen rätselhaften Bruch.
Aber es gäbe natürlich die Möglichkeit, aus anderen Ländern Baumeister und Bautrupps anzuwerben, die eine überlegene Technik beherrschten. Wo aber hätten sie gelebt? Etwa in Rom? Dort wird die letzte Kuppel für den sog. Tempel der Medica Minerva gebaut: er wird mangels antiker Erwähnungen ins 4. Jh. datiert. Die heute eingestürzte Kuppel bestand aus Beton und Ziegelrippen [wiki / Tempel der Medica Minerva]. Es gab in Rom niemand mehr, der um 790, nach etwa 17 Baumeistergenerationen, die Technik des Kuppelbaus beherrschte hätte. Aber der Aachener Haustein hätte ohnehin verhindert, dass hier ein Bautrupp samt Baumeister angeworben worden wäre.
In Konstantinopel setzt der Höhepunkt der Kuppelbauten 532 ein, als Hagia Sophia und Hagia Irene nach Zerstörung ihrer Vorgänger neu begonnen werden. „Danach finden sich nur noch wenige Beispiele für echte Kuppelbasiliken“ [wiki / Hagia Sophia]. Ravenna läge zumindest räumlich deutlich näher. Hier ist die mit Aachen vergleichbare Kuppel, die von San Vitale, 547 geweiht worden, 250 Jahre vor Aachen und damit 10 Baumeistergenerationen früher entstanden. Cyril Mango [93; vgl. Illig 1997a] bedauert fürs gesamte byzantinische Reich: „Die Zahl der Kirchen, die einigermaßen sicher den zweieinhalb »Dunklen Jahrhunderten« zugewiesen werden dürfen, ist außerordentlich klein“.
Aber Byzanz scheidet ohnehin aus, denn dort ist mit Tonhohlkörpern gearbeitet worden, also mit Tubuli oder Amphoren. Derartige Leichtbauweise ist in Aachen nicht nachzuweisen. Grimme erläutert die verhinderte Anlehnung an Ravenna: „Daß es nicht zur Architekturkopie kam, ist in der vor- und frühkarolingischen Baupraxis begründet, der es unmöglich war, ein Bauwerk, aus ferner Zeit und in nicht vertrauter Technik errichtet, einfach zu reproduzieren“ [Grimme, 20].
Und wie steht es mit den schriftlichen Quellen, die der Mediävist höher als alles andere hält? Steht in ihnen für Aachen etwas von einem byzantinischen Baumeister oder von einem byzantinischen Bautrupp? Nichts dergleichen. Als Bauherr wird Karl der Große bezeichnet, der für manche auch als Baumeister gilt. Überlieferter Baumeister ist der Franke Odo von Metz.
Ein Odo von Metz kann aber nicht aus dem Stand heraus, ohne Vorläuferbau, ohne einschlägig tradierte Baumeistertradition die Aachener Kuppel bauen. Eventueller Geldmangel mag diese Unmöglichkeit noch unmöglicher gemacht haben.
Und damit zum dritten Satz von Müller-Götz, den bereits Grimme (s.o.) wiederlegt hat: Niemand kann von außen sehen, ob z.B. das Pantheon als größte antike Kuppelwölbung in Beton gegossen, in Ziegel gewölbt oder aus Tonhohlkörpern errichtet worden ist, zumal wenn die innere Hülle noch dekoriert und die äußere durch Bronzeplatten abgedeckt war. All das lässt sich mit heutigen Methoden studieren, nicht aber im frühen Mittelalter. Zum Vergleich: Als die Dresdner Frauenkirche neu errichtet werden sollte, galt es die Statik eines ‘nur’ 250 Jahre alten Barockbauwerks zu verstehen, was auch im Zeitalter von Computer, Gesteinsradar, alten Plänen, Fotografien und Zeitzeugen, die die Kirche vor ihrer Zerstörung (1945) gesehen hatten, eine große Herausforderung war.
Und wie hätten die frühen Franken wissen sollen, wie und warum man einen hölzernen Rundanker und die sechs entdeckten Eisenanker einbaut? Erst die gründliche Renovierung nach 1900 und die Behebung von Kriegsschäden nach 1945 zeigten die Eisenanker der Pfalzkapelle. Wer aber hätte gewusst, dass römische Druckwasserleitungen mit Eisenankern versehen waren, dass die Caracalla-Thermen Eisenarmierung enthielten, wenn er die Bauten nicht als Archäologe aufgedeckt hätte? Irgendeine aus einer Ruine ragende Eisenstange ist für einen Handwerker, dem so etwas unbekannt ist, nicht ohne weiteres als konstruktives Element begreifbar.
So darf ein Fazit gezogen werden: Nachdem Müller-Götz dank seiner beruflichen Erfahrungen all das viel besser weiß als ich, hat er sein ganzes Wissen zurückgenommen und statt dessen den finanzielle Aufwand vorgeschoben, als geradezu peinliche Begründung, um die dramatischen Schwierigkeiten der herrschenden Lehre mit diesem Bauwerk notdürftig zu verdecken. Selbstverständlich bleibt die Kuppel ein Anachronismus, für ein Karolingerreich ein völlig unerklärbares Gebilde. Aber auch das übrige Bauwerk ist ein Anachronismus, wie sich unter Punkt 2 erweist. Zunächst wieder die Ausführungen von Müller-Götz:
„2. Wabenförmige Kreuzgratgewölbe
Illig meint, ein kompliziertes Gewölbe, gar ein »Wabenförmiges«, sei zur Karlszeit nicht möglich, da es keine Vorgänger hat.
Tatsächlich gibt es in Aachen gar kein »Wabenförmiges Kreuzgratgewölbe«. Es gibt eine »wabenförmige« Projektion der Kreuzgrate in den Grundriss. Tatsächlich handelt es sich aber um einfache Tonnen, die in Achteckform miteinander verschnitten sind und die in ihrer Mitte jeweils rechtwinklig gekreuzt werden. Die Grate sind alle gerade ausgebildet! Baumeister denken nicht allein in Grundrissen, sondern räumlich. Bei der bekannten Verwendung von Tonnen kann dieses Gewölbe weder vom Entwurf noch von der Bautechnik als besonders kompliziert angesehen werden. Die Gewölbe sind auch nicht überhöht, wie in der Romanik ab Speyer üblich.
Kein Anachronismus.“
Indem sich Müller-Götz über die Wabenform erregt, spricht er lieber von in Achteckform miteinander verschnittenen Tonnen, um nur ja keine Verbindung zu den tatsächlich sechseckigen Wabenstrukturen herzustellen. Natürlich waren keine im strengen Wortsinn bienenwabenförmigen Gewölbe gemeint; solche sind nirgends gebaut worden. Wie Waben gerade Seitenwände haben, so sind auch hier die Grate geradlinig. Architekturhistoriker wissen: Weil die Grate derartig kompliziert verschnittener Tonnen, die hier von einem inneren Achteck zu einem äußeren Sechzehneck vermitteln müssen, nur mit größter Mühe sauber hergestellt werden können (Beispiele das ungefüge Krypta-Gewölbe vom angeblich zeitgleichen Münster zu Konstanz oder das unbeholfene Gewölbe von St-Bénigne in Dijon, angeblich 200 Jahre später), ist man später dazu übergegangen, die allzu oft ‘holprigen’ und ‘windschiefen’ Grate mit Gurten oder Rippen zu verdecken, zumal diesen auch noch die Traglast aufgebürdet werden konnte. Die Ausführung der Aachener Umgangskonstruktion „mit Kreuzgratgewölben ohne Gurtbogen grenzt an Vollkommenheit“, so lobte Jean Hubert die dort erreichte Perfektion in seinem Buch über die karolingische Baukunst [vgl. Illig 1996, 226]. Es handelt sich also keineswegs um Lehrlingsarbeiten, während Müller-Götz hier die Leistungen ‘seiner’ Karolinger drastisch ‘einebnet’, soll es sich doch um ein ganz durchschnittliches Kreuzgratgewölbe handeln – eine prägnante Fehleinschätzung durch einen Architekturkenner, der um nicht vorhandene Kontinuität kämpft.
Die Überhöhung aller Gewölbe ab Speyer für die gesamte Romanik nachzuweisen, wird für Müller-Götz eine schwierige Aufgabe werden; schon im Wormser Dom kontrastieren stark überhöhte Rippengewölbe im Mittelschiff mit ‘normal-hohen’ Gratgewölben in den Seitenschiffen [Winterfeld, 181].Auch bei diesem Punkt ignoriert Müller-Götz, dass es weder einen Vorgänger noch einen halbwegs direkten Nachfolger dieses Bauwerks gibt. Erst diese doppelt isolierte Stellung führte zu meinem Befund: ein Anachronismus, den Müller-Götz nicht erschüttern kann. Damit ist für Acht- wie für Sechzehneck geklärt, dass es sich um erratische Gebilde, um Findlinge innerhalb der Architekturgeschichte handelt, die eine andere Datierung benötigen.
Insofern überspringe ich die weiteren, nachrangigen Punkte, bei denen Müller-Götz ganz anders als bei der Hauptaussage ausführlicher wird, und verweise auf seinen Abschlusssatz: „Doch der Aachener Bau wirkt karolingisch und passt schlüssig in die Zeit der Karolinger.“
„Schlüssig“ passt nur, wenn man das Vorläufer-Nachfolger-Problem samt fehlender fränkischer Bautradition und anschließendem völligen Erliegen abendländischer Baukunst negiert. Und was mag heißen: „wirkt karolingisch“? Die kleine Gruppe der sog. karolingischen Bauten ist nicht nur bunt gemischt, sondern völlig disparat. Solitäre sind Aachener Pfalzkapelle und Lorscher Torhalle. Das Corveyer Westwerk steht ganz allein; die wenigen Kirchen sind von ottonischen schwer zu unterscheiden. Die als Karolingerbau neu gewonnene Schlosskapelle von Sulzbach [vgl. Illig/Anwander, 354-357] ist wiederum ein eigenes Rätsel. Dieses Sammelsurium existiert nur deshalb, weil Schriftquellen zu ihnen in Bezug gesetzt werden können oder C14-Datierungen wie bei Sulzbach in die Irre führen. Doch solches erbringt keine stringente Baugeschichte, was Müller-Götz vergeblich zu kaschieren versucht, indem er sein eigenes Wissen leugnet. Immerhin wird bereits verständlich, warum mmg wie entfesselt gegen mich bei Wikipedia vorgeht: Sein Sachverstand reicht nicht aus, um die Aachener Pfalzkapelle, die seit meinem Beweisgang abwechselnd Stiftskirche oder Marienkapelle benannt wird, vor einer Umdatierung zu bewahren.
Die historische Methode
Warum aber das unbeirrbare Bedürfnis von Müller-Götz, seinen Sektenvorwurf anzubringen? Ist er sein einziger Hebel? Vermutlich. Aber es lässt sich eine theoretische Überlegung anfügen. Dreh- und Angelpunkt aller gewollten wie tatsächlichen Missverständnisse ist die historische oder die historisch-kritische Methode, die etwa Amalie Fößel [1999, 21] gegen mich in Stellung gebracht hat: „Geht man dagegen methodisch korrekt vor, dann stellt sich die eingangs zitierte Frage [nach dem fiktiven Karl d. Gr.] nicht.“ Michael Borgolte [1997, 486] sah das durchaus anders:
„Ob Karl der Große gelebt und ob es das (frühe) Mittelalter gegeben hat, das sind Fragen, die sich nur mit ja oder nein beantworten lassen. Wer sich auf den Boden der historischen Methode stellt, hat Aussicht auf eindeutige Auskunft.“
Also lässt sich die Frage nach Karl und dem erfundenen Mittelalter durch diese Methode beantworten, obwohl sich bei ihrer Benutzung die Frage gar nicht stellen dürfte. Wie auch immer: Für die Wikipedia stellt sich das historische Rüstzeug so dar:
„Historisch-kritische Methode ist die Bezeichnung für einen in der Neuzeit entwickelten Methodenapparat zur Untersuchung von historischen Texten. Bekannt ist sie vor allem als Bibelkritik, eine Methode der Biblischen Exegese. Tatsächlich werden historisch-kritische Methoden aber überall dort angewandt, wo schriftlich überlieferte Traditionen in mehreren, voneinander abweichenden Varianten vorliegen oder wo ein Prozess der Verschriftlichung von paralleler mündlicher Überlieferung begleitet wird.“ [wiki / Historisch-kritische Methode]
Damit ist durch Wikipedia klargestellt, dass es sich zumindest ursprünglich um eine textkritische Methode handelt, die nur Texte erfasst. Frank Möller von der Universität Greifswald erläutert für seine Vorlesung 2010:
„Die Historische Methode ist das fachspezifische Verfahren der historischen Forschung, um zu triftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. Es geht dabei darum, wie Historiker aus den Überbleibseln menschlicher Vergangenheit, den sogenannten Quellen, zu gesichertem historischem Wissen gelangen. Dieses Wissen liegt als historische Erzählung, als Narration, vor und prägt unser Geschichtsbewusstsein, unser Verständnis für die geschichtliche Dimension unseres Lebens und unserer Identität. Die so erarbeitete Geschichte bleibt immer vom erkennenden Subjekt, dem Historiker, geprägt, eine strenge Objektivität im erkenntnistheoretischen Sinne gibt es für die Geschichte daher nicht.“ [greifswald]
Sein Lehrangebot will Quelleninterpretation, Narrativitätsproblem sowie die Frage von historischer Erkenntnis, Perspektivität und Objektivität behandeln. Es ist ihm sicher darin recht zu geben, dass ohne Erzähltes (Narration) kein Geschichtsverlauf wiederzugeben ist, allenfalls kulturelle Zustände und Veränderungen. Doch enthält seine Formulierung einen Blockierstein. Einmal will er aus den sog. Quellen zu historischem Wissen gelangen. Doch dieses Wissen liegt seines Erachtens bereits als Erzähltes (Narration) vor. Archäologische oder architekturhistorische Befunde wären unter Quellen einzuordnen, doch können sie in dieser Formulierung nichts Wesentliches zur erarbeiteten Geschichte beitragen. Alle im Lehrangebot angesprochenen Lerninhalte beziehen sich auf schriftliche Quellen. Baureste oder archäologische Funde werden offenbar nicht behandelt. Selbst Johannes Fried hat sich 1996 bei seiner kühnen, viele Kollegen düpierenden Vorschau auf das 21. Jahrhundert in geschätzt 95 % der Fälle nicht von den Schriftquellen lösen können. Hier ist der Punkt, an dem ich unbeirrbar opponiere, gleich, wer daraufhin ins Schäumen gerät: Wenn die Schriftenkenner wegen ihrer Methodik den archäologischen Befund nicht hinreichend wahrnehmen, dann muss diese Methodik verbessert werden! Niemand sollte das besser verstehen als ein Diplom-Ingenieur und Denkmalpfleger.
Doch Müller-Götz sieht dies ganz anders, weshalb er mit indiskutablen Mitteln gegen mich und andere vorgeht (s. Diskussion). Dabei weist er dort extra einen Diskutanten auf die Verleumdung hin, wie sie Wikipedia definiert:
„Als Diffamierung (v. lat.: diffamare = Gerüchte verbreiten) bezeichnet man heute allgemein die gezielte Verleumdung Dritter. Dies kann durch die Anwendung von Schimpfwörtern oder durch diverse Unterstellungen geschehen. […]
Die dabei angewendeten Methoden können sowohl physischer als auch psychischer Natur sein und haben stets den Zweck, den Betroffenen gesellschaftspolitisch auszuschalten, mundtot zu machen oder zu ruinieren. […]“
Nach dieser Definition ist mmg genauso wie der auf der Diskussionsseite eingangs zitierte indiskutable Teilnehmer eindeutig ein Diffamierer. Für Borgolte und Wiegelmann gilt dieselbe Einschätzung.
Literatur
Beaufort, Jan (2008): de.wikipedia.org: Phantomzeit. Sind die „Sichter“ selbst „Vandalen“? in Zeitensprünge 20 (2) 447-450
Borgolte, Michael (1997): Vom Staunen über die Geschichte; in Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur Jg. 8 (1997) Heft 4, 481-520. Stellungnahme nach Anfrage: Heribert Illig: Enthält das frühe Mittelalter erfundene Zeit? 486 f.
chrono-Kategorie = http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Chronologiekritik
chrono-kritik = http://de.wikipedia.org/wiki/Chronologiekritik
“Diskussion” = Auf der Wikipedia-Seite Heribert Illig links oben der Button Diskussion. Dort als erstes der unsägliche Beitrag von „212.144.126.122“, ansonsten die jüngsten Beiträge ganz unten.
Fößel, Amalie (1999): ‘Karl der Fiktive?’ in Damals Heft 8/99, 20-21
Fried, Johannes (1996a): Vom Zerfall der Geschichte zur Wiedervereinigung. Der Wandel der Interpretationsmuster; in Otto G. Oexle (Hg., 1996): Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts; Göttingen (Reihe: Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 2)
– (1996b): Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte; in Historische Zeitschrift, Bd, 263, 291-316; München
greifswald = [http://wulv.uni-greifswald.de/2007_ah_GSMAWm/?n=5_0]
Grimme, Ernst Günther (1994): Der Dom zu Aachen. Architektur und Ausstattung; Aachen
Heinsohn, Gunnar (2003): Krojer und die Auschwitzleugnung (Das Scheitern der Archäoastronomie III); in Zeitensprünge 15 (3) 516 f.
Herzinger, Richard (1997): Das Millennium wird verrückt. Wir schreiben das Jahr 1699 – Überlegungen zum neuen Bedürfnis nach Umschreibung der Geschichte; in Die Zeit vom 26. 9., S. 64
Illig, Heribert (1996): Das erfundene Mittelalter; Düsseldorf
– (1997a): Zur Abgrenzung der Phantomzeit. Eine Architekturübersicht von Istanbul bis Wieselburg; in Zeitensprünge 9 (1) 132-143
– (1997b): Frieds Saat geht auf; in Zeitensprünge 9 (3) 359
– (1999): Sperrfeuer vor Paderborn. Methodische Korrektheit und emotionale Begleiterscheinungen; in Zeitensprünge 11 (3) 389-402 [zu Borgolte]
– (2002): Hinterweltler aller Art. Eine zuweilen widerwärtige Mittelalter-Diskussion; in Zeitensprünge 14 (1) 150-172
Illig, Heribert / Anwander, Gerhard (2002): Bayern und die Phantomzeit; Gräfelfing
Krojer, Franz (2003): Die Präzision der Präzession. Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht; München
Mango, Cyril (1986): Byzanz; Stuttgart
Müller-Götz, Matthias (2001): Illigs 24 Anachronismen der Aachener Pfalzkapelle – eine kritische Zurückweisung; ursprünglich aus Newsgroups: de.sci.geschichte (http://www.mamg.de/illig.htm)
Rohr, Mathieu von (2010): Im Innern des Weltwissens; in Der Spiegel, Nr. 18 vom 19. 4., 152-156
Sawicki, Diethard (2001): Lügenkaiser Karl der Große? Ein kritischer Blick auf Heribert Illigs These vom erfundenen Mittelalter; in Tillmann Bendikowski/ Arnd Hoffmann/ Diethard Sawicki (2001): Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der Vergangenheit; Münster [Eine Untersuchung zu Geschichtslügen im 20. Jh., vorzugsweise im Hinblick auf das Dritte Reich]
Wiegelmann, Lucas (2009): Der Mann, der Karl den Großen aus der Geschichte tilgt; in Die Welt, 16.11.2009 [erwähnt in Zeitensprünge 21 (3) 770]
wiki / Wikipedia-Beiträge unter den genannten Titeln
Winterfeld, Dethard von (1993): Die Kaiserdome Speyer, Mainz, Worms und ihr romanisches Umland; Würzburg
[…] Illig, H.: WikipediA und die Wahrheit. Erfahrungen mit einem Mammutprojekt […]
Passend hierzu an diesem Wochenende: Konferenz: Wikipedia: Ein kritischer Standpunkt
[…] dass keiner meiner Befunde breiter dargestellt und keinesfalls als wahrheitsnah bezeichnet wird (s. S. 492-495). Um so mehr freut es mich, dass meine These vom fiktiven Benedikt von Wikipedia aufgegriffen und […]
[…] [Ergänzung am 18.10.10: Ein Kommentar von Heribert Illig zum merkwürdig voreingenommenen Umgang der Wikipedia mit Kritik an der geltenden Chronologie findet sich hier.] […]
Das ist ein allgemeines Problem mit (der deutschen) Wikipedia. Es wird auf Wikipedia einfach das abgebildet was im Internet mainstream mäßig bereits so vorhanden ist – egal ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Manchmal wenn es um viel diskutierte politische oder religiöse Themen geht, oder wenn es um (unbeliebte) Prominente geht, wird auch gezielt verleumdet.
Ich habe das Problem auf meinem eigenen Wiki genauer angesprochen: http://www.simplepedia.de/doku.php?id=konzept_des_wikis und ich versuche mit diesem Wiki auch ein paar der “kontroversen” Themen anzusprechen mit denen sich Wikipedia schwer tut.