Pseudo-Papst erfindet Fegefeuer und einen Vater des Abendlandes

von Heribert Illig (aus Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 2/1994)

Die Überschrift könnte auch lauten: Wie man Lawinen auslöst. Da bringt 1993 ein Regionalteil der Süddeutschen Zeitung einen beiläufigen Artikel aus Anlaß eines alljährlichen kirchlichen Feiertages, der die brisante Frage aufwirft, ob einer der größten Heiligen der Christenheit überhaupt gelebt habe [Reichold]. Da meine Rückfragen nach Literatur buchstäblich auf der Strecke bleiben, verfasse ich eine Kommentierung, in der ich auf noch sehr dünnem Boden den geschichtlichen Tod des zweiten “Vater des Abendlandes” nahelege [Illig 1993].

Mein Leser A.K. Gottwald kennt nun den Autor des ursprünglichen Benediktartikels und schafft Kontakt zwischen uns. Klaus Reichold, der schon vor der Magisterprüfung mehr Zivilcourage zeigt, als andere sich vergeblich durch sie erhoffen, weist mir den Weg zu jenen Benediktinermönchen, die – ob mit oder ohne Freud – Hand an ihren Über-, pardon, Ordensvater legen. Sein wichtigster Hinweis gilt dem Kirchenwissenschaftler Francis Clark, der sich am weitesten vorgearbeitet hat.

Und nun geht es Schlag auf Schlag. Der hl. Gregor verdoppelt sich zu Gregor + Pseudo-Gregor, die Geburt des Fegefeuers erlaubt eine neue Datierung dieses Pseudo-Gregors, die Fiktion des hl. Benedikts verflüchtigt sich, während schemenhaft die eigentliche Geschichte von Papsttum, Kurie und Benediktinerorden erkennbar wird.

Benediktiner mäkeln am Hl. Benedikt

Seit Jahrzehnten hinterfragen Benediktiner-Mönche sehr kritisch die Entstehung des eigenen Ordens und die Vita seines Gründers. Sie brachten so – zusammen mit Nicht-Mönchen – das Konstrukt ihrer eigenen Ordensgelehrten zu Fall. Hatte doch die methodisch orientierte Gruppierung von Saint-Maur, Mauriner genannt, von 1618 bis 1792 die geschichtlichen Hilfswissenschaften kreiert und dabei auch dekretiert, daß es im Europa des späten 6. Jhs. bereits ein Pan-Benediktinertum gegeben habe [zusammengefaßt bei C = Clark 190ff].Dieses und andere Desiderate bildeten ‘bis gestern’ den Fundus der Benediktiner, wie die beiden Brockhaus-Passagen von 1967 zeigen. Ich habe fett-kursiv all jene ‘Fakten’ hervorgehoben, die seitdem ‘amtlicherseits’ ins Zwielicht geraten sind:

Benedikt von Nursia, Ordensgründer, * bei Nursia um 480, +| Monte Cassino 21.3.547 (?). Die Nachrichten über sein Leben gehen hauptsächlich auf die legendar. Schilderungen Papst Gregors I. zurück (Einsiedlerleben in einer Höhle bei Subiaco, Leitung einer Mönchsgemeinschaft, Nachstellungen der Mönche). B. gründete bei Subiaco für die dort lebenden Eremiten 12 kleine Klöster und sammelte um 529 zu Monte Cassino (in Kampanien) eine Mönchsgemeinschaft, die mit der von ihm geschaffenen ‘Regula‘ zur Keimzelle des Benediktiner-Ordens und des abendländ. Mönchstums wurde. Seine Gebeine wurden im 2. Weltkrieg in Monte Cassino nach der Zerstörung der Abtei aufgefunden.

Benediktiner-Orden. G e s c h i c h t e. Der Orden wurde im 6. Jahrh. von BENEDIKT VON NURSIA gegründet; seine Regel war bis in das 12. Jahrh. allein für das abendländ. Mönchtum maßgebend. Gregor d. Große (selbst ein Benediktiner) sandte 596 den Benediktinermönch Augustinus als Missionar nach England. Hier wie im fränkisch-karolingischen Reich (Bonifatius) wurde die Mission vom B. getragen. Nach der Regel wandte er sich auch der Pflege der Kultur zu, seiner Tätigkeit vor allem ist die karolingische Renaissance zu danken. BENEDIKT VON ANIANE und vor allem das 910 gegr. Kloster Cluny belebten den Orden neu. Von Cluny wurde die Reform nach Gorze (bei Metz) getragen und von hier aus nach Sachsen, Bayern und Thüringen.

Schon 1919 hatte R. EHWALD konstatiert, wie dürftig und zugleich spät die Anfänge benediktinischer Mission in England sind. 1947 bestätigte J. WINANDY OSB, daß die Missionare von Kent weder Benediktiner waren noch deren Regel mitbrachten [Winandy 244]. 1949 stellte H. TAUSCH OSB die benediktinischen Ursprünge in Österreich klar, während G. PENCO OSB 1957 zeigte, wie substanzlos die Annahmen über die rasche Verbreitung der Benediktiner-Regel gerade in Italien waren. Und der hl. Benedikt konnte ebensowenig römischer Abt gewesen sein, wie das Lateran-Kloster als Heimstätte der Benediktiner während der Zerstörungszeit von Monte Cassino (581-717) gedient haben konnte [C 225]. Penco deckte auch auf, daß gallische Klöster des 10. Jh. allzugerne ihre Gründung auf direkte Schüler des hl. Benedikts zurückführten, wie Pfarreien und Diözesen gerne von einem Apostel oder Apostelschüler abstammten. Dazu hatten sie in viele Gründungsurkunden Hinweise auf die Regel des hl. Benedikts (= RB) hineingefälscht [Penco 322f].

Im selben Jahr 1957 prüfte G. FERRARI, inwieweit Benediktiner-Klöster in Rom nach 600 vorherrschend waren, und kam zu dem überraschenden Schluß, daß vor dem 10. Jh. weder Orden noch Gründer nachweisbar sind  [Ferrari 379f].

Ebenfalls 1957 meldete Kassius HALLINGER OSB noch massivere Zweifel an. Er entlarvte jene Akten der römischen Synoden von 601 und 610 als Fälschungen, in denen Gregor I. und Bonifaz IV. der Regula Benedikti die päpstliche Anerkennung ausdrückten [Hallinger 235]. Ein weiteres Fälschungsverdikt traf einen äbtlichen Brief, der bislang als Beweis dafür galt, daß sich die RB rasch und vorrangig im Italien des späteren 6. Jhs. verbreitet hätte [Hallinger 236]. Weitere Fälschungen sind die Vita des Benedikt-Schülers St. Placidus, derzufolge Benediktinerklöster im Sizilien des 6. Jhs. gegründet worden wären, und die Vita von St. Maurus samt seiner Missionstätigkeit in Gallien [Hallinger 236]. Aufgeklärt wurde schließlich, daß keineswegs Gregor d. Gr. die RB der Kirche generell vorgeschrieben hat [Hallinger 235].

Darüber hinaus zeigte Hallinger, daß Papst Gregor d. Gr. weder Benediktiner gewesen war noch in seinem oder anderen Klöstern die RB eingeführt hat [Hallinger 271-277; C 195]. Ganz im Gegenteil: Wann immer Gregor von Ordensregeln spricht, ergeben sich Gegenpositionen zum hl. Benedikt und Anklänge an die Gesetzesgebung von Kaiser Justinian.

Last not least wird seit 1930 generell akzeptiert, daß die RB keineswegs die einzige und wegweisende Ordensregel war, sondern auf einer Regula magistri (vor 525) aufbaut. Die bis dahin propagierte umgekehrte Reihenfolge ließ sich nicht mehr halten [C 196].

Hier setzte nun Francis CLARK an, der sich 35 Jahre lang mit den Dialogen des hl. Gregor, also von Papst Gregor I. beschäftigt hat und 1987 auf 780 Seiten nachwies, daß sie keineswegs von diesem Papst stammen, sondern von einem späteren Autor! Die Bezüge zum hl. Benedikt werden sogleich klarwerden.

Clarks Weg von Gregor zu Pseudo-Gregor

Papst Gregor d. Gr. (* um 540; 590-604) ist als Briefe- und Buchschreiber gut belegt. Erhalten sind von ihm folgende Bücher: Moralia, Regula Pastoralis, die Homilien über Hezekiel, die Homilien über die Evangelien, der Kommentar zu 1 Regum und das Registrum Epistulorum. Deschner zieht aus ihnen den Schluß, daß seine Opera “jahrhundertelang das Abendland verblödeten”, während Dannenbauer über Gregors Hiob-Kommentar urteilt:

Grausamer ist wohl in der ganzen Weltliteratur nie ein großes Dichtwerk mißhandelt worden [Deschner 1994, 208].

Seine Dialoge nehmen seit langem eine Sonderstellung ein. Clark nahm die  Kritiken des 16. und 17. Jhs. – die erste stammte von Huldreich COCCIUS aus der Zeit um 1560 – an ihnen wieder auf und vertiefte sie entscheidend [C 30-45, 684]. Er beschäftigte sich dabei mit Stil und Inhalt der Dialoge genauso wie mit ihrer Einbettung in ihre vermeintliche Entstehungszeit und ihre Rezeptionsgeschichte.

Zunächst weist Clark minutiös nach, daß sich die Dialoge deutlich von Gregors sonstigen Werken unterscheiden. Breiten Raum in seiner Beweisführung nimmt die “immense Diskrepanz” im Stil zwischen Gregor und Pseudo-Gregor ein, die sich auf grammatikalische Phänomene, Wortschatz und Sprachmuster erstreckt [C 26f, 684-717]. Dieser Vergleich war noch relativ leicht, weil die Dialoge nur rund 5 % des erhaltenen Gregor-Oeuvres ausmachen und inzwischen der gesamte Wortschatz computermäßig erfaßt und statistisch ausgewertet ist. Wesentlich schwieriger und langwieriger war es, 80 originale Gregor-Passagen herauszufiltern, die in die Dialoge eingefügt worden sind [C 18f; minutiöser Nachweis C 431-579]

Damit gab sich Clark nicht zufrieden. Seine weiteren Prüfungen ergaben, daß Gregor in seinen sonstigen Äußerungen die Existenz ‘seiner’ Dialoge nirgends erwähnt – einzige Ausnahme wäre ein Brief, doch den weist Clark als gefälscht nach [C 12, 65-93, insbes. 81]. Das konnte im Grunde nicht verwundern, weil Gregor aus seiner Vita heraus im Jahr 593 gar keine Zeit für die Abfassung der Dialoge gehabt haben konnte [C 12].

Ebensowenig wie Gregor sein ‘eigenes’ Werk kennt, kennt es die ihm nachfolgende Zeit. Als ältester Hinweis galt eine berühmte Passage aus De viris illustribus von Ildephonsus von Toledo, doch sie stellte sich als mittelalterliche Interpolation, als eingeschmuggelt heraus [C 747]. Auch andere Zeugnisse, wie die Anthologien des Paterius und Tajo oder die Vitas Patrum Emeritensium oder die Vita Fructuosi hielten kritischer Befragung nicht stand, sondern erwiesen sich als gefälscht [C 747].

Damit stammen die frühesten historischen Belege für die Dialoge erst vom Ende des 7. Jhs. [C 15], von Aldhelm von Malmesbury (zwischen 688 und 693) und Julian von Toledo [C 112, 742, 744]. Ein Jahrhundert lang haben Zeitgenossen und Nachfolger ‘sehr beredt’ über die Dialoge geschwiegen [C 49-64]. In dieses Bild paßt, daß die Dialoge aus Quellen schöpfen, die erst aus dem 7. Jh. stammen [C 22] und chronologische Fehler enthalten, die Gregor zu seiner Zeit nicht gemacht haben dürfte [C 24]. Dazu nur zwei Beispiele: Die Gregor unterstellte Haltung gegenüber den seit 568 ins Land drängende Langobarden kann nicht der Realität um 600 entsprochen haben [C 63f]. Weiter sollen 440 Bauern im Jahre 578 den Märtyrertod durch die Langobarden erlitten haben, wie in den angeblich nur 15 Jahre später erschienen Dialogen berichtet wird. Trotzdem gab es noch lange Zeit später kein allgemeines Wissen um diese Märtyrer, keine zu ihrer Ehre geweihte Kirche und kein Wissen um den Ort ihres Todes [C 669]. Überhaupt scheint die angebliche Grausamkeit der Langobarden vorwiegend den Dialogi zu entstammen [C 729]; denn ganz im Gegensatz dazu weiß man, daß in Rom trotz langobardisch-arianischer Eroberung viele Patrozinien überdauerten [C 738].

Diese Diskrepanz zwischen der eigentlichen gregorianischen Zeit, die sich in den päpstlichen Briefen widerspiegelt, und den Dialogen war 1978 schon V. RECCHIA aufgefallen:

Es muß vor allem betont werden, daß sich das Bild einer Agrargesellschaft, wie es die Dialoge zeichnen, stark von dem unterscheidet, das sich in den Verwaltungsbriefen präsentiert [C 668; Recchia 6].

Nachdem aber die Zeit nach 604 die vielleicht dunkelste der Papstgeschichte ist und das 7. Jh. generell als “dark age” bezeichnet werden muß, sind zahllose Geschichtslücken durch Informationen gefüllt worden, die aus den Dialogen gewonnen wurden [C 668].

Pseudo-Gregor

Clark hatte somit einen weiteren Pseudoepigraphen decouvriert: Sein Pseudo-Gregor reiht sich ein bei Pseudo-Ambrosius, der dem hl. Ambrosius u.a. fünf Passionen unterschoben hat [C 742], bei Pseudo-Athanasius, Pseudo-Dionysius, Pseudo-Hieronymus und Pseudo-Macarius [C 753], darf aber als “der talentierteste und erfolgreichste Legendenspinner von allen” bezeichnet werden [C 742]. Clark selbst benennt ihn meist als “dialogist” und fixiert ihn zeitlich wie örtlich. Da er Zugang zu den Gregor-Briefen gehabt haben muß und einen “Notar-Stil” schrieb, dürfte er am Lateran in der römischen Kurie gearbeitet haben [C 731]. Seine Erzählungen hat er teils früheren Autoren nachempfunden, teils frei erfunden [C 607]. Clark kann ihm zahlreiche Vorlagen nachweisen, mit denen er seiner Phantasie weiterhalf [C 585f], aber keineswegs nur ältere, sondern auch solche, die erst aus dem 7. Jh. stammen [C 609]. Trotz solcher Lapsi bemühte er sich als geübter Fälscher darum, seinen Erzählungen historische Konsistenz zu verleihen, indem er auf Namen und Personen zurückgriff, die auch in Gregors Werken genannt werden. Allerdings findet ein kritisches Auge schnell Diskrepanzen [C 659f, 670-683], wie es bei diesem Genre der “phantastischen Hagiographie” [C 750] zu erwarten ist.

Was war die Motivation für diesen Pseudo-Papst? Ihn muß der Wunsch  getrieben haben, anderen großen Wundertätern wie dem Hl. Antonius von Ägypten oder dem Hl. Martin von Gallien ein italienisches Pendant an die Seite zu stellen [C 726]. Dementsprechend wichtig sind ihm möglichst aufsehenerregende Wunder. Hier unterscheiden sich Gregor und Pseudo-Gregor beträchtlich. Hatte Gregor es abgelehnt, Wundererzählungen für die moralische Belehrung und Erziehung einzusetzen, bildeten sie für Pseudo-Gregor den Prüfstein für das Heilige [C 641]. Dabei bevorzugt er bizarre, alberne und “subchristliche” Geschehnisse, wie es Gregor selbst nie getan hat [C 23]. Der hielt sich noch an das Gelasianische Dekret, das vor 550 klarstellte: Märtyrergeschichten werden in der Kirche nicht gelesen, weil ihre Verfasser nicht bekannt sind, vor allem aber, weil dem schlichten Volk dadurch widersinnige und sehr unrealistische Dinge nahegebracht würden [C 601].

Dagegen sind die Vorstellungen Pseudo-Gregors über das Jenseits, wie er sie im vierten Dialogbuch vorträgt, nicht vereinbar mit der christlichen Orthodoxie der Zeit um 600 [C 23]. Durch ihn – doch das wird unten zu prüfen sein – fand das Seelengericht aus alten heidnischen Quellen Eingang in die christliche Lehre [C 645]. Gleichermaßen haben seine Dämonologie und seine Vorstellungen von Buße und vom Fegefeuer die kirchliche Lehrmeinung gegen die Intentionen Gregors stark beeinflußt [C 23]. Waren für Gregor die bösen Geister und der Teufel gefallene Engel, die fortwährend die Spiritualität der Menschen bedrohten, wandelt sich bei Pseudo-Gregor der Teufel zum, man könnte fast sagen, Goethe’schen Mephistopheles: Aus dem Bösen wird die Bosheit, aus dem Bedrohlichen ein Trickster, der mit Weihwasser oder einem Kreuzzeichen verjagbar ist und insofern keine existentielle Gefahr darstellt. Dieselbe Wandlung erfährt die Schar der nunmehr eher boshaften als bösartigen Dämonen [C 651f].

Aus den spektakulären Wundergeschichten Pseudo-Gregors leitet sich der von Adolf von Harnack so genannte “vulgäre Typus des romanischen Katholizismus” mit all den Dämonen und Zauberern ab, den er für den Untergang des wahren Christentums einschätzte [C 42; v. Harnack 333], getreu der mephistophelischen Einsicht: “Das Wunder ist des Glauben liebstes Kind”:

Das Mirakel wurde das Kennzeichen der Religion. Diese lebt unter Engeln, Teufeln, Sakramenten, Opfern, Bußordnungen, Sündenstrafen, Furcht und Hoffnung, aber nicht in dem sicheren Vertrauen auf Gott in Christus und in der Liebe [v. Harnack 333].

So werden die Einbildungen eines ungebildeten Klerus wie des Laienstands in dogmatischen Formeln ausgedrückt; und die aktuellen Vorstellungen von Engeln, Heiligen, Dämonen, Wundern, Buße, Sühne, Fegefeuer, Himmel und Hölle wurden zu Ergänzungen der älteren Theologie [C 43].

Für Th. Mommsen war Gregor der Große deshalb ein “recht kleiner großer Mann” [C 42], für v. Harnack “der Vater des (mittelalterlichen) Aberglaubens” [Deschner 1994, 219]. Während in Zukunft der hl. Gregor, um Pseudo-Gregor bereinigt, auch vor den Historikern bestehen könnte, werden wir aus diesem Vulgärkatholizismus Pseudo-Gregors eigentliche Datierung gewinnen.

Clark hatte also klargestellt, daß Gregor und Pseudo-Gregor zwei separate Geister waren. Wer von beiden mag den größeren Einfluß auf die Christenheit ausgeübt haben? Zwar wurde Gregor heiliggesprochen, als der Große benannt, zum einzigen Kirchenvater auf dem Stuhl Petri erhoben und zusammen mit Leo d. Gr. als einziger Kirchenlehrer in dieser Position erachtet, doch ist er gegen Pseudo-Gregor und sein wundersüchtiges Christentum ins Hintertreffen geraten.

Er hat fast ein halbes Jahrtausend die Dogmengeschichte im Abendland ohne Rivalen beherrscht und beherrscht im Grunde den Katholizismus noch eben [v. Harnack 333].

Was v. Harnack schon 1891 geschrieben hat, gilt auch heute unverändert, da vermehrt Heiligenkalender publiziert werden, in denen penibel – ohne einen Hauch von Aufklärung – bizarre Wunder, widerwärtige Folterungen, sadomasochistische Qualen und satanische Blähungen einer Tausendschaft seltsamer Heiliger wiedergegeben werden [etwa Sellner 1993].

Benedikt, der “kürzlich verschollene Mönch”

Wir können damit zu jenem Heiligen zurückkehren, der – seltsame Vorstellung – ein Geschöpf, ein Homunkulus des Pseudo-Gregors zu sein scheint. Weil seine eigenen Mönche nichts über ihren Abt hinterlassen haben, stammt praktisch unser gesamtes Wissen über den hl. Benedikt von Nursia aus dem zweiten Band der Dialoge, der ihn zweifellos zum Patriarchen der Mönche im Westen gemacht hat [P. Battifol lt. C 186]. Wie steht es um den Gründer des Benediktinerordens, neben Karl dem Großen der zweite oder sogar erste “Vater des Abendlandes”?

Dieser Benedikt schrieb nicht nur die Benediktinerregel samt dem berühmten “ora et labora”, sondern er war auch einer der ganz großen Wundertäter. Wie Moses läßt er für seine Brüder Wasser aus dem Felsen strömen, wie Elias spendet er Öl bei einer Hungersnot, wie Jesus erweckt er Menschen vom Tod und läßt einen Jünger, den hl. Maurus, auf dem Wasser wandeln. Er kann Dämonen austreiben, Gifttränke (seiner Mitbrüder) erkennen und hat die  Gabe des Fernwissens und des Prophezeiens [Deschner 1990, 223].

Die Gründung seines Hauptklosters Monte Cassino fiel in dasselbe Jahr 529, in dem der byzantinische Kaiser die athenische Akademie auflöste; ihr Datum steht also für den geistigen Übergang von der Antike zum Mittelalter. Von da an hat sich der Geist der Benediktiner über Europa ausgebreitet und in verschiedenen Reformen – Cluny, Gorze, Hirsau – das Christentum auf seinem dornenreichen Weg vorangebracht. Solches galt bis dato.

Dem Tod des Heiligen, vorgeblich 547, folgen nicht nur keine Nachrufe und Erinnerungen von Seiten seiner Mönche, sondern überhaupt nur sehr wenige Hinweise auf ihn oder seine Nachfolger, was Le Goff zu einem kryptischen Satz veranlaßt hat:

Für die Italiener schrieb er [Gregor] eine Hagiographie, in der er unter den italienischen Kirchenvätern einen gewissen Benedikt von Monte Cassino, einen kürzlich verschollenen Mönch hervorhob und zu einem großen christlichen Heiligen machte [Le Goff 1981, 111].

Das mochte für die Hagiographie wenig oder auch schon sehr viel bedeuten. Clark, der Le Goffs Arbeit kannte, fügte geduldig weitere Puzzlesteine an, indem er vor allem klarstellte, daß auch der vom verschollenen Mönch zum großen Heiligen mutierte Benedikt keine meßbare Resonanz hervorrief.

Es gibt ebensowenig die Spur einer biographischen Kenntnis des hl. Benedikts oder eines Kults oder einer liturgischen Erinnerung an ihn vor dem Ende des 7. Jhs. Sein Name fehlt in allen aufeinanderfolgenden Ausgaben des Martyrologium Hieronymianum bis zum frühen 8. Jahrhundert. Die Sakramentarien aus dem 7. Jahrhundert zeigen, daß es keinen Kult von ihm in Rom gab [C 16; ausgeführt 252f].

In ganz Europa gibt es bis 700 keinen Festtag, keinen Jahrestag, keine ihm geweihte Kirche, keinen ihm geweihten Altar. Erst im frühen 8. Jh. wird Benedikt erstmals in einem liturgischen Dokument erwähnt [C 16]. Davor fehlt auch jeder Hinweis darauf, daß seine Regel irgendwo beachtet worden wäre (s.u.). Das benediktinische Mönchtum erlebt erst mit Papst Gregor II. und dem hl. Bonifaz im 8. Jh. eine erste Blüte [C 17].

Auf dem Weg zu diesem Ergebnis muß Clark endgültig ein Dokument verabschieden, das seit Jahrhunderten abwechselnd als falsch oder echt eingeschätzt wird: das sogenannte testamentum Sancti Leodegarii, unterzeichnet von 54 Bischöfen auf dem sogenannten Konzil von Autun, dessen Datierung zwischen 663 und 679 schwankt. Auf diesem “Konzil”, dessen Bezeichnung sich von St. Leodegar, dem Bischof von Autun, herleitet, wird die RB als einzige Mönchsregel dekretiert [C 236f]. Dieses Dokument, das ohnehin erst im 13. oder 14. Jh. Erwähnung findet, ist eine schlichte Fälschung, der in der  Realität nichts entsprochen hat, denn die alternative Columbansche Regel blieb in Gallien weiterhin dominierend [C 239].

Als weitere Fälschung stellte sich das Gedicht Mark’s von Monte Cassino heraus. Es schildert Details aus dem Benediktus-Leben, die in den Dialogen nicht erwähnt werden, und schließt die Lücke zwischen 6. und 8. Jh. Der frühere Glaube, daß es Mitte des 6. Jhs. geschrieben worden sei, muß der Einsicht weichen, daß es aus dem 8. Jh. stammt [C 293].

Benedikt – zwibeleibt, einleibig, leiblos?

Und was geschah mit Benedikts sterblichen Überresten? Nach der Zerstörung von Monte Cassino durch die Langobarden (aus den Dialogi auf 581 datiert, während Paulus Diaconus die Katastrophe erst nach 600 ansiedelt [C 739]) wurde das Kloster verlassen und aufgegeben. Gleichwohl wären die sterblichen Überreste von ihm und seiner Schwester, der hl. Scholastika, hundert lange Jahre unbeachtet in den Trümmern verblieben, während europaweit schwungvoller Reliquienhandel getrieben wurde. Gemäß der Überlieferung aus Cluny hätten dann französische Mönche die Reliquien zwischen 653 und 707 an die Loire verbracht [C 266]. Seitdem soll der Leib des hl. Benedikt in dem nach ihm benannten St. Benoît-sur-Loire liegen, der Leib der hl. Scholastika in Juvigny – nach einer Zwischenstation in Le Mans. Aber auch in Monte Cassino wurden beider Leiber nach den Zerstörungen von 1944 just dort entdeckt, wo sie gesucht und erwartet werden mußten: im Schrein unterm Hochaltar [C 262]. Die Montecassiner Tradition fühlte sich durch die Untersuchungen von 1951 bestätigt [C 272]. Clark bleibt da skeptischer:

Der Schluß ist unausweichlich, daß irgendwann im frühen Mittelalter mindestens an einem der beiden Plätze – entweder in Montecassino oder in Frankreich – Überreste eines älteren Mannes und einer älteren Frau, die nicht die Überreste des hl. Benedikts und der hl. Scholastika waren, in einen Schrein gelegt und als die wahrhaftigen Reliquien dieser zwei Heiligen bezeichnet wurden [C 263].

Der Befund braucht nicht zu verwundern, gelten doch 8. und 9. Jh. als die Blütezeit des Reliquienhandels, und kannte schon Gregor I. den Verkauf gefälschter Reliquien [C 273; Deschner 1990, 259]. Clark legt sich nicht fest, ob nur die Reliquien von St. Benoît-sur-Loire oder auch die von Montecassino gefälscht sind – beides wäre möglich, wie Fälschungen des 9. Jhs beweisen [Goffart]. Aber er stellt ganz klar, daß die angebliche Verbringung nach Frankreich einfach zu früh kommt: Benedikt war damals noch gar nicht bekannt [C 274].

Zur Regel des hl. Benedikt

Es läßt sich nun Aufklärendes zur Regula Benedicti sagen. Ihre Vorläuferin, die Regula magistri, stammt aus dem ersten Viertel des 6. Jhs., und die RB sollte ihr aus stilistischen Gründen nicht später als einige Dekaden folgen [C 222]. Aber vor 650 ist die RB weder in Rom noch im übrigen Italien, noch auf Mittelmeerinseln, noch in Spanien noch in England oder sonstwo auf den britischen Inseln anzutreffen – einzige Ausnahme ist eine Erwähnung im merowingischen Gallien um 625 [C 17, 222]. Vor den ersten Dekaden des 8. Jhs. blieb die RB ‘im Halbdunkel’ und ließ nichts von dem meteorhaften Aufstieg erkennen, den sie in diesem Jahrhundert noch nehmen sollte [C 222]. Ebensowenig ist eine Verbindung von RB mit Monte Cassino [C 247] oder mit dem hl. Benedikt zu erkennen.

Doch außerhalb der Seiten der ‘Dialoge’ scheint es, als ob all diese Schüler und Nachfolger des großen Patriarchen der westlichen Mönche niemals existiert hätten – so total ist das Fehlen jeder verifizierbaren Spur von ihnen in der zeitgenössischen historischen Chroniken […] Ist keiner von ihnen seinem [Benedikts] Beispiel gefolgt, ihrerseits Klöster zu gründen? Warum bringt die Hagiographie des sechsten, siebten und achten Jahrhunderts kein Echo ihrer Lebensläufe, ihrer Taten und Worte? Ansätze, diese Lücke zu füllen, beginnen erst im neunten Jahrhundert mit dem gefälschten Leben von St. Maurus, verfaßt von Abt Odo von Glanfeuil oder ‘St-Maur-sur-Loire’ – denn auch der Körper des hl. Maurus soll, wie der seines Meisters, in ein Kloster an der Loire verbracht worden sein [C 248f].

Der Vergleich mit der Hagiographie des hl. Columban, im 7. Jh. von Jonas von Bobbio verfaßt, zeigt, daß diese “fest in der verifizierbaren zeitgenössischen Geschichte verankert ist” [C 249]. So gehört für Clark zwar Columban, nicht aber Benedikt seiner eigenen Zeit an.

Als die RB erstmals historisch berichtet wird, gibt es weder ein Anzeichen historischer Kontinuität noch irgendwo eine lebendige Tradition klösterlicher Observanz. Dies erscheint nicht wie ein religiöser Einfluß, der von einem berühmten Gründer durch seine verehrten Schüler weitergetragen wird, sondern wie ein vervielfältigter Text, der an einen Bischof und an Mönche verschickt worden ist, die bis dahin nichts von seiner Existenz wußten [C 250].

Für Clark ist die RB “in der Praxis ein Jahrhundert und länger [nach Gregor] ignoriert” worden, obwohl sie schon im 6. Jh. weit verbreitet gewesen sein soll [C 221], und sie erlebt erst “nach einem Hiatus von über 150 Jahren historischer Dunkelheit” ihre triumphale Expansion [C 251].

Abschied vom hl. Benedikt

So viele Zweifel aber F. Clark rings um die Person des Benedikt gesät hat, so zurückhaltend ist er mit dessen endgültigen Streichung aus der Geschichte. Er hält die RB weiterhin für ein Produkt des 6. Jhs., datiert aber die Abfassung der gregorianischen Dialoge in die Zeit zwischen 671 und 688 [C 29, 172ff], während der eigentliche Gregor weiterhin 604 stirbt. Wirklich schlecht steht es um die hl. Scholastika, denn sie muß wohl als Fiktion Pseudo-Gregors verstanden werden [C 281; Cusack]. Doch ihren Bruder, von dem Clark nicht weiß, ob dieser Benedikt von Nursia und von Monte Cassino derselbe ist wie der Verfasser der Regula Benedicti, hält er keineswegs für völlig gefälscht:

Aber trotz der Zweifel über die rivalisierenden Ansprüche auf die wahren Knochen und obwohl die Fakten seines Lebens in den legendenhaften Nebeln der Dialoge verborgen sind, steht sein wahres und andauerndes Denkmal wie ein Leuchtturm über den Gezeiten der Zeit. Die Klosterregel, die seinen Namen trägt, hat das Leben zahlloser Christen, Männern wie Frauen, über mehr als ein Jahrtausend hinweg geformt [C 281f].

Er weicht also der ultimativen Antwort aus und rettet sich zu dem Sprichwort ‘Kein Rauch ohne Feuer’. Insofern erwartet er nur einen frischen Ansatz, um die zeitliche Position von Benedikt zu bestimmen [C 751].

Wir wollen hier den nächsten und endgültigen Schritt tun und den laut Reichold drohenden Sturz des Benedikts endgültig vollziehen. Es bleibe unbenommen, daß es ein “kürzlich verschollenes” Mönchlein dieses Namens im 6. Jh. gegeben haben mag, aber der kraftvolle Begründer seines Ordens und seiner Regel war dieser Benedikt mit Sicherheit nicht. Vollends fiktiv sind seine Konfratres, deren Lebensgeschichten sich insgesamt so in Luft auflösen wie die des Wasserwandlers Maurus, die als Fälschung entlarvt worden ist (s.o.).

Pseudo-Gregor und das Fegefeuer

Im Wissen darum, daß die Zeit von 604 bis 715 die dunkelste ist in der Geschichte des Christentums [C 745; le Bras 184], und im Lichte meiner These, daß die Zeit von 614 bis 911 künstlich erzeugt und deshalb streichenswert ist, stellt sich natürlich die Frage, wo Pseudo-Gregor in der realen Geschichte untergebracht werden kann, nachdem das von Clark vorgeschlagene späte 7. Jh. zu den fiktiven Zeiten gehört. Eine Antwort läßt sich ausgerechnet daraus gewinnen, daß das Fegefeuer die Gnade der späten Geburt für sich beanspruchen kann.

Der große Historiker Jacques Le Goff ist diesem katholischen Phänomen  nachgegangen und hat erforscht, wie sich die Fegefeuer-Vorstellung im Laufe der Zeiten entfaltet hat. In unserem Kreis hat bereits Hans-Ulrich Niemitz auf Le Goff und den Umstand verwiesen, daß das Fegefeuer verdächtig lange in Lethargie verharrte:

In den fünf Jahrhunderten zwischen Gregor dem Großen [604] und dem 12. Jahrhundert entwickelten sich die Ansätze zum Purgatorium kaum weiter. […] Die genannten fünf Jahrhunderte sind für uns eine lange Periode, in der das Nachdenken über das Jenseits anscheinend stagnierte [Le Goff 1990, 120; Illig-Niemitz 1991, 40]

Dieser Verdacht wird nunmehr erhärtet und in eine Datierung ausgemünzt.

Das Fegefeuer, 1274 vom zweiten Konzil von Lyon als existent formuliert [Le Goff 287] und 1563 auf dem Trientiner Konzil dogmatisiert, hat vier viel ältere Väter: Die Begründer Clemens von Alexandria (+| 215) und Origenes (+| 254), den “wahren Vater” Augustinus (+| 430) und Gregor d. Gr. (+| 604) [Le Goff 72, 84, 110]. Doch diese Väter sprachen allenfalls vom ignis purgatorius, einem reinigenden Feuer, nicht von einem realen Ort, der wie Himmel und Hölle die Seele im Jenseits erwartet. Diese Wandlung vom ortslos brennenden Feuer zur realen Institution Fegefeuer, zum Purgatorium, erfolgte erst, “als sich zwischen 1150 und 1250 das Fegefeuer im Glauben der abendländischen Christenheit etablierte” [Le Goff 14]. (Im Deutschen werden beide Begriffe gleich übersetzt, ihre Unterschiede also verwischt).

Für mich besteht kein Zweifel daran, daß in diesem Kreis, genauer gesagt in der Schule von Notre-Dame de Paris, das Purgatorium geboren wurde. […] Am Schnittpunkt dieser beiden Kreise [der Schulen von Paris und Cîteaux] entstand zwischen 1170 und 1200, möglicherweise in den zehn Jahren zwischen 1170 und 1180, sicher aber spätestens im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts das Purgatorium [Le Goff 191, 204].

Francis Clark hat kurz nach Le Goff klargestellt, daß der vierte und letzte Fegefeuer-Vater nicht Gregor, sondern Pseudo-Gregor war, der erst um 680 geschrieben hätte. Damit wurde auch klar, warum Le Goff mit Gregor seine Schwierigkeiten hatte. Denn dieser Fegefeuervater

brachte für diesen Glauben jedoch nur in zweiter Linie Interesse auf. Als entscheidend galt ihm, daß es am Tage des Jüngsten Gerichts nur zwei Kategorien von Seelen geben würde: Die Erwählten und die Verdammten [Le Goff 117f].

Hier stört nicht die Schizophrenie eines Gregors, sondern die Diskrepanz zwischen Gregor und Pseudo-Gregor, die Le Goff entgangen war [C 650].

Nach meiner bisherigen These sind die Jahre zwischen 614 und 911 ersatzlos  zu streichen, weshalb Artefakte und Geschehnisse, die sich als real erweisen, in andere Zeiten umzudatieren sind. Pseudo-Gregor kann also nicht um 680, sondern frühestens ab 911 zur Feder gegriffen haben. Läge es nicht nahe, daß er in jenen Zeitraum gehört, in dem das Fegefeuer beginnt ortsgebunden zu brennen?

Dann müßte er der Zeit zwischen 1150 und 1190 angehören, weil er noch nicht den Begriff Purgatorium verwendet. Für diese beunruhigend späte Datierung gibt es ein starkes Indiz.

Im IV. Buch der Dialogi vermittelt Gregor der Große [in Wahrheit also Pseudo-Gregor] anhand von Anekdoten – meist handelt es sich dabei um Visionen – einige Grundlehren des Christentums, wie z.B. die Unsterblichkeit der Seele, das Schicksal nach dem Tode und die Eucharistie. Die Anekdoten nennt er exempla und kündigt damit die exempla des 13. Jahrhunderts an, mit deren Hilfe der Glaube ans Fegefeuer verbreitet wurde. […]
Nach Gregors Geschichten [wurden] die Anekdoten zugeschnitten, mit deren Hilfe die Kirche im 13. Jahrhundert den Glauben an das nunmehr existente und klar definierte Fegefeuer verbreitete [Le Goff 113, 116].

Die Forschung steht also vor einer fast unüberwindbaren Hürde: Der Gregor von 593 hätte eine literarische Gattung geprägt, die so futuristisch war, daß sie erst 600 Jahre später Früchte trug. Und die spätgezeugten exempla des 13. Jhs. dienten der Kirche vor allem dazu, “den Glauben an das nunmehr existente und klar definierte Fegefeuer” zu verbreiten [Le Goff 116], also fast demselben Zweck wie die Vorbilder von einst. Um diese Hürde regelwidrig zu umlaufen, formuliert Le Goff nur wenige Seiten weiter einen verräterischen Satz:

Ich möchte zeigen, daß die geschichtliche Zeit weder immer gleich schnell läuft noch auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist [Le Goff 120].

Er flüchtet sich also, weil er die 600-Jahres-Lücke bei den exempla wie bei der Fegefeuerentwicklung nicht motivieren kann, in eine peinliche Relativistik, die in ihrer Durchsichtigkeit umsomehr empört, als Le Goff sehr wohl geschichtliche Stoßkraft und -richtung herausarbeitet, solange sie ihm zugänglich sind. So hatte er das Problem, daß drei berühmte Christen seiner These im Wege standen. Sowohl Petrus Damiani (+| 1072) als auch Hildebert von Lavardin (+| 1133) wie der hl. Bernhard (+| 1153) sollten bereits – Le Goff zuwider – antizipatorisch vom Purgatorium gesprochen haben. Nun ist seit längerem Hildeberts vermeintlicher Satz dem Petrus Manducator zurückerstattet worden, der erst 1179 starb [Le Goff 444]. Weiter erkannten die Spezialisten O.J. Blum, J. Ryan und F. Dressler die Zuschreibung an Damiani als unhaltbar und wiesen die fragliche Predigt einem Pseudo-Damiani zu [Le  Goff 194f]. Le Goff selbst führte dann den Nachweis, daß beide anachronistisch anmutenden Texte von einer Hand stammen, die einem “gerissenen” und “notorischen Fälscher” [Le Goff 197, 442] zugehörte, der als Sekretär des Heiligen bekanntermaßen Bernhards-Texte produziert hatte:

Ich nehme an, daß Nikolaus von Clairvaux beide Predigten schrieb und mit Fälschergenie aus der einen eine Damiani-Imitation, aus der anderen eine Imitation des heiligen Bernhard machte [Le Goff 197].

Dieser Nikolaus starb nach 1176 [Le Goff 198] und damit für die Purgatoriumsthese spät genug. Le Goffs Relativierungen beginnen also erst dann, wenn er nicht mehr in der Lage ist, störende Zeitdiskrepanzen viel größeren Kalibers auszuräumen und eine “erstarrungsähnliche Reglosigkeit der Theologie und der Glaubenspraxis zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert” akzeptieren muß [Le Goff 24]!

Wir betrachten noch kurz, wie ab 1200 die exempla den Glauben ans Fegefeuer intensivieren. Kurz nach dieser Jahrhundertwende schrieb etwa Konrad von Eberbach Gespenstergeschichten, durfte aber noch fast nichts vom Fegefeuer berichten, weil sein Werk als Geschichte des 12. Jhs. aufgemacht war [Le Goff 358]. Roger von Wendover erzählt in seinen Flores historiarum unter dem Jahr 1206 von einer Reise ins Jenseits, dessen Interieur stark an Pseudo-Gregor gemahnt. Denn das neben oberer und unterer Hölle und dem Paradies existierende Fegefeuer besteht für Roger aus dem Feuer, dem eisigen See und der Brücke [Le Goff 361]. Pseudo-Gregor hatte in zwei seiner Geschichten die Stätte der Buße auf dieser Welt an einem allgemein bekannten Ort angesiedelt: in den römischen Thermen! Die abwechselnde Wärme- und Kältebehandlung erschien ihm besonders charakteristisch für eine postmortale Reinigungsstätte [Le Goff 117]. Roger griff wohl auf dieses Bild zurück. Hervorgehoben muß werden: Daß schon (Pseudo-)Gregor einen realen Ort fürs Fegefeuer gesucht und gefunden hatte, mußte Le Goff ignorieren, während es hier als starkes Indiz für die Verpflanzung der dialogi dienen kann!

Nun setzten die Predigten der Bettelordensmönche ein, die mit ihren ausschmückenden exempla das Massenmedium für die Gläubigen bildeten. Herausragende Vertreter waren der Zisterzienser Cäsarius von Heisterbach (+| 1240) und der Dominikaner Stefan von Bourbon (+| 1261) [Le Goff 364-377], bei dem das Fegefeuer bereits infernalisiert, also höllisch heiß wird. Wir erkennen daran, daß die Dynamik der Fegefeuervorstellung nahtlos von einem Pseudo-Gregor und seinen exempla des 12. Jhs. hinüberführt zu den exempla der Predigermönche des 13. Jhs. So ist indizienmäßig abgesichert,  daß Pseudo-Gregor in der zweiten Hälfte des 12. Jhs, aber nicht später als 1190 geschrieben hat.

Dieser späten Datierung steht nicht entgegen, daß erst im 12. Jh. die Übersetzung der Gregors-Dialoge in einen französischen Dialekt erfolgte [Le Goff 172]. Geprüft werden muß noch, inwieweit andere Quellen, die auf Gregors Dialoge zurückgreifen, ihn de facto erst befruchtet haben [etwa Le Goff 451f]. Dann wird sich auch klären, ob Pseudo-Gregor z.B. noch als der Autor gelten kann, der ein heidnisches Sündengericht trotz der katholischen Orthodoxie einführte, oder ob dies ein nunmehr Früherer tat.Für die drastische Verjüngung spricht auf alle Fälle, daß so mancher Heilige der Spätantike nur zu sehr posthumem Ehren gelangte:

Der künstliche Ruhm, den sie in einer Zeit erwarben, als die Dialoge bekannt wurden, kann nicht einfach über das Fehlen jeden Kultes und jeder Kenntnis in ihren angeblichen Heimatländern hinwegführen. Erst nach vielen Jahrhunderten wurde ihr Kult als ein langverzögertes Erbe der Dialoge eingeführt [C 668].

Nachdem wir die Dialoge nunmehr viel später ansiedeln, bleibt einer ganzen Reihe von Heiligen das Schicksal von Benedikt nicht erspart, als Fiktionen entlarvt zu werden. Kaum zu retten sind Anastasius, der römische Märtyrer Bonifaz, Cerbonius, Equitius, Euthicius, Florentius, Fondi, Fortunatus, Honoratus, Libertinus, Nonnosus, Sabinus, Sanctulus und Suppentoma [C 668, 726]. Da laut G. Lucchesi alle Fiktionen umbrisch-toskanischer und römischer Heiliger aus einer “recognizable school” stammen, zu der Clark auch die Verfasser der Gesta Martyrum (5. bis spätes 7. Jh.) rechnet, kann diese Schule wohl auch ins 12. Jh. verpflanzt werden [C 741].

Wir verlassen damit den Entwicklungsweg des Fegefeuers, den Le Goff in Dantes Göttlicher Komödie seinen strahlenden Höhepunkt von 1319 finden läßt, den er aber deswegen anspricht, “um ein weiteres Mal zu zeigen, wie der Zufall arbeitet” [Le Goff 407]. Natürlich ist es ist nicht zwingend, daß am Ende dieser Entwicklung ein Poet das gesamte Material dichterisch überhöht; doch zwingend ist, daß dieser Dichter nur mit diesem Material sein Werk gestalten konnte. Le Goffs analytischer Nihilismus wird hier nachgerade peinlich.

Benediktiner und Karolinger

Wir wollen nun die Bezüge der Benediktiner zu den Karolingern ausleuchten und skizzieren dazu rasch die enge Verzahnung zwischen beiden gemäß herr schender Lehre. Nach dem Neubau von 717 blühte Montecassino erst unter dem Schutz der Karolinger auf. Karlmann, der älteste Sohn von Karl Martell, und Bonifatius brachten die “austrasische Bewegung” ins Rollen, die 743 im Dekret des Concilium Germanicum kulminierte. Ab diesem Konzil der ostfränkischen Kirche galt die RB als verbindliche Observanz für Mönche wie Nonnen, ein Beschluß, der 744 auch für den Westen gefaßt wurde. Nachdem er Bonifatius mit der Reform der fränkischen Kirche beauftragt hatte, zog sich Karlmann nach Monte Cassino zurück [C 290f].

Die Angelsachsen Bonifaz und Willibald christianisierten ‘Deutschland’ [C 283], und die RB wurde zum Machtinstrument der Karolinger. Unter Karl d. Gr., dem “größten Patron benediktinischer Klösterlichkeit” [C 294] breitete sie sich über die gesame Christenheit aus. Drei Jahre nach seinem Tod wurde die Regel 817 auf dem Konzil zu Aachen durch das Capitulare monasticum zur Reichsregel erhoben [C 294].

Dieser innige Konnex von staatlicher und geistlicher Macht überlebte den Niedergang der Karolinger nicht. So wird Monte Cassino 883 von den Sarazenen erstürmt, zahlreiche nördliche Klöster der RB lösen sich auf. Eine Studie für Bayern zeigt, daß mehr Benediktinerklöster im 10. Jh. aufgelassen werden mußten, als überdauerten: 37 Schließungen stehen 26 überlebenden Gemeinschaften gegenüber. Was war hier geschehen? Eine rasche Antwort liegt parat.

Aber kaum zwei Jahrhunderte waren diesen friedlichen und segensreichen Anfängen beschieden. Die nach Westen vorprellenden Ungarnhorden, aber auch die Habgier weltlicher wie geistlicher Großer, die in den Klöstern wertvolle Wirtschaftsobjekte und -werkzeuge sahen, machten den Frühklöstern ein frühes Ende. Die Jahrtausendwende sah nur mehr wenig von der alten Klosterkultur [Bauerreiß 88].

Klingt das überzeugend? Schon ein halbes Jahrhundert vor diesem Niedergang in Bayern blühten zwei kraftvolle Reformideen unter benediktinischen Klosterdächern. Seit dem hl. Abt Odo (927-942) begann das burgundische Cluny über die romanische Christenheit auszustrahlen, das dann über Hirsau Einfluß auf die deutschen Klöster gewann. Gleichzeitig bildete das lothringische Gorze – seit Adalbero I. und seiner Reform von 933 – den Mittelpunkt einer gleichzeitigen zweiten benediktinischen Reformbewegung, die über Trier noch vor der Jahrtausendwende über den Rhein ausgriff. Gorze erfaßte rasch über 160 Abteien in Deutschland, darunter so prominente wie die Reichenau und St. Gallen, Prüm und Fulda, St. Emmeram zu Regensburg und Niederaltaich. Sie entsprach dem ottonischen Reichskirchensystem und  ermöglichte die weit über die Reichenau hinausgreifende ottonische Mal- und Buchkunst [vgl. Illig 1994, 293f]. “Ein Aufschwung der Kirche mußte daher der gesamten abendländischen Christenheit direkt zugut kommen. Dieser Aufschwung ist seit der Mitte des 10. Jahrhunderts eingetreten und hat bis zum 13. Jahrhundert fortgewirkt, in dem die Herrschaft der Kirche und das System der mittelalterlich-kirchlichen Weltanschauung vollendet ist” [v. Harnack 348].

Wenn die Zeit von 614 bis 911 streichenswert ist, erhalten wir ein ganz anderes Bild. Clark und seine Vorgänger haben klargestellt, daß es bis fast 700 weder Benediktinerklöster noch eine gelebte Regula Benedikti noch Erinnerungen an einen hl. Benedikt noch einen hl. Benedikt gab. Wann also konnte überhaupt ein erstes Benediktinerkloster entstanden sein? Wir werden direkt auf Cluny verwiesen, das 910 gegründet worden sein soll. Im Klostergebiet von Cluny liegt der Ort Fleury, zu dem die angeblichen Reliquien des hl. Benedikts aus Italien verbracht wurden und der seitdem St. Benoît-sur-Loire heißt. So wird in unserem Szenario Cluny zu jener treibenden Kraft, die sich durch einen fingierten italienischen Klostergründer an die Spitze einer damals weiß Gott nicht starken Kirche schiebt. Doch sofort spaltet sich die benediktinische Bewegung politisch auf: Cluny vertritt einen Kurs, der gegen die Bischöfe gerichtet ist und statt dessen auf einen Klosterverband mit Großabt hinsteuert oder, kurz gesagt, von “dem Ruf nach der ‘Freiheit der Kirche'” bestimmt ist [Bauerreiß 89]. Gorze tendiert hingegen zum Reichskirchensystem mit seinem Zusammenspiel von weltlicher und geistlicher Oberhoheit. Monte Cassino ist dagegen 950 von Abt Aligernus aus Capua erstmals gegründet, nicht wiederaufgebaut worden, womit sich das Fehlen karolingischer Reste erklärt. Warum Rom und die päpstliche Macht unerwähnt bleiben, wird uns im Rahmen der Neuschreibung der Kirchengeschichte beschäftigen.

Literatur

Bauerreiß, Roman OSB (1960): “Die Benediktiner in Bayern”; in H. Schnell (Hg): Bayerische Frömmigkeit. 1400 Jahre Christliches Bayern; München
C = Clark, Francis (1987): The Pseudo-gregorian Dialogues; 2 Bände in der Reihe Studies in the History of Christian Thought; Leiden
Cusack, P.A. (1974): “St. Scholastica: Myth or Real Person?”; in Downside Review 92, 145-159Deschner, Karlheinz (1990): Kriminalgeschichte des Christentums. Band 3/ Die alte Kirche. Fälschung, Verdummung, Ausbeutung, Vernichtung; Reinbek
– (1994): Kriminalgeschichte des Christentums. Band 4/ Frühmittelalter; Reinbek
Ehwald, R. (1919): Aldhelmi Opera, Monumenta Germaniae Historica
Ferrari, G. (1957): Early Roman Monasteries. Notes for the History of the Monasteries and Convents at Rome from the V through X Century; Rom
Goffart, W. (1966): The Le Mans Forgeries: a Chapter form the History of Church Property in the Ninth Century; Cambridge Mass.
Hallinger, Kassius (1957): “Papst Gregor der Große und der heilige Benedikt”; in B. Steidle (Hg): Commentationes in Regulam Sancti Benedicti; Rom
Harnack, Adolf von (81991): Dogmengeschichte; Tübingen (11889/91)
Illig, Heribert (1993): “Das Ende des Hl. Benedikts? Der andere ‘Vater des Abendlandes wird auch fiktiv”; in VFG V (2) 23
– (1994): Hat Karl der Große je gelebt?; Gräfelfing
Illig, Heribert / Niemitz, Hans-Ulrich (1991): “Hat das dunkle Mittelalter nie existiert?“; in VFG III (1) 36
Langosch, Karl (1990): Mittellatein und Europa. Führung in die Hauptliteratur des Mittelalters; Darmstadt
Le Bras, G. (1958): “L’Eglise romaine et les grandes églises occidentales après la mort de Grégoire le Grand”; in Caratteri del secolo VII in Occidente; Spoleto
Le Goff, Jacques (1990): Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter; München (franz. erstmals 1981, überarbeitet)
Penco, G. (1957): “La prima diffusione della Regola di S. Benedetto”; in Studia Anselmiana 42, S. 321
Prinz, Friedrich (²1988): Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert); München (11965)
Recchia, V. (1978): Gregorio Magno e la Società Agricola; Roma
Reichold, Klaus (1993): “Ein Mann von zweifelhafter Herkunft. Am Sonntag [21.3.] feiert die Kirche den Todestag des Heiligen Benedikt”; in Neueste Nachrichten. Lokalteil der Süddeutschen Zeitung für den Landkreis München vom 20.3.1993, S. 2
Richards, Jeffrey (1983): Gregor der Große. Sein Leben – seine Zeit; Leipzig
Sellner, Albert Christian (1993): Immerwährender Heiligenkalender; Frankfurt/M.
Tausch, H. (1949): Benediktinisches Mönchtum in Österreich; Wien
Winandy, J. OSB (1947): Mélanges bénédictins; St. Wandrille