von Zainab Angelika Müller

Eine Klärung der frühen islamischen Geschichte kommt an den ersten vier Kalifen nach Muhammed nicht vorbei. Die Überlieferung über sie beginnt in der offiziellen Geschichtsschreibung (ebenso wie jene über Muhammad) erst ca. 150 nach ihrem Tod.

Was hat es mit ihnen auf sich, waren sie bedeutungslose kleine Stammesfürsten, an die man sich erst später erinnerte, als „islamische Geschichte“ gebraucht wurde? Lebten diese vier Kalifen tatsächlich? Und wenn ja, in der angegebenen Reihenfolge?

Da es nach den bisherigen Forschungsergebnissen der Chronologiekritik keine islamische Eroberungswelle im 7. Jh. gab, plädiere ich angesichts ungeklärter Ereignisabläufe und chronologischer Lücken dafür, an anderer Stelle (und in anderen historischen Zusammenhängen) nach den Kalifen, bzw. ihren alter egos zu suchen.

Dies findet seine naheliegendste und stärkste Begründung in der absichtlichen Negierung christlicher Zusammenhänge und innerislamischer Konflikte, somit in der Herstellung einer „geglätteten“ gesamtislamischen Geschichte.

Nimmt man den Vorgang einer im Nachhinein vereinheitlichten islamischen Entstehungsgeschichte an, wäre weiterhin nahe liegend, dass später einige (?) Kalifen aus realen Gestalten idealisierend „sunnitisch“ entwickelt wurden und mit ihnen ein „sunnitischer“ Anfang vor den Beginn der Schia gelegt wurde. (Und ebenso vor die Umayyaden, welche von der islamischen Geschichte geschildert werden als die Gegner der unmittelbaren Nachkommen aus der Blutlinie des Propheten, also der Familie Alis).

1. Kalifen und Imame – kurze Übersicht

Die sunnitische islamische Geschichte berichtet, dass nach dem Tode des Propheten (632) vier „rechtgeleitete“ Kalifen (als „Stellvertreter“ des Propheten) die Leitung der Umma übernahmen.

Die Zeit nach den vier Kalifen in der islamischen Geschichtsschreibung ist von einem merkwürdigen Widerspruch gefüllt [vgl. Illig, 141]: einerseits von einer blitzschnellen, ungeheuer aufwendigen islamischen Eroberungswelle, andererseits durch die schiitische Imamkette und eine Vielzahl von Kämpfen zwischen islamischen Gruppierungen, wobei der Schauplatz zwischen Mekka und Syrien / Irak wechselt.

632 – 634 1. Kalif Abu Bakr: Vater von Muhammads junger Frau Aischa
634 – 644 2. Kalif Omar: ein langjähriger Gefährte, Schwiegersohn Muhammads (ermordet)
644 – 656 3. Kalif Uthman: seine Mutter war Anhängerin Muhammads aus dem Hause Umayya. Er wurde in Medina von Aufrührern ermordet; Vorwurf: Protektion von Verwandten in Führungspositionen
Die Umayyaden hatten selbst lange gegen Muhammad gekämpft und angeblich erst ganz zuletzt (aus Opportunismus) den Islam angenommen. Vor der Wahl Alis ging der größte Teil nach Syrien. Von dort fochten sie die Wahl an.
656 – 661 4. Kalif Ali: Schwiegersohn Muhammads; wird in Medina zum Kalif gewählt, später von einem „Bluträcher“ erstochen in seiner Residenz in Kufa.
Mit Alis Tod begann eine lange Kette von Märtyrer-Imamen, die erst 873 (mit dem 12. Imam) zu Ende ging.
661 – 680 Muawija I.: ein Vetter Uthmans, mächtiger Gouverneur der Provinz Syrien, macht Damaskus zur Hauptstadt. Beginn der Dynastie der Umayyaden.
Die Umayyaden halte ich für nicht-adoptianische Judenchristen und insofern für Muslime = abgewendet von der Beigesellung. Die spanischen Umayyaden schließen sich dem religiösen Konzept eines vereinheitlichten Islam an.
Muawija bezichtigte Ali der Komplizenschaft an der Ermordung Uthmans. Seitdem sei es Pflicht gewesen, die Ahl al Bait (die fünf „Leute des Hauses“: Muhammad, Fatimah, Ali, Hassan, Husain) in den Moscheen zu verfluchen und zu schmähen. Darauf soll zurückgehen, dass in der Schia seit Jahrhunderten bei Festen und Zeremonien alle Kalifen außer Ali verflucht und geschmäht – aber offenbar nicht bestritten! – werden. Die Söhne Alis, Hassan und Husain, kehren nach Medina zurück.
Hassan verzichtet 661 vertraglich auf Herrschaftsansprüche, ist angeblich wohlhabend, mit großem Harem und vielen Kindern. Bis zu Hassans Tod 678/680 hielt Husain sich an den Vertrag.
680 – 683 Yazid I., Sohn Muawijas.
683 – 692 Gegenkalifat in Mekka: Abdullah ibn Zubair, ein Vetter des Propheten; er lehnte Ali ab, konkurrierte mit Husain um die Oppositionsführung der Gegner der Umayyaden.
Husain trat mit einem kleinen Heeraufgebot gegen Yazid an, angeblich auf Bitten der Schiiten in Kufa, die ihn aber verrieten, und er wurde vernichtend geschlagen. Er gilt als erster shahid („Blutzeuge“) im Gründungsmythos der Schia.
Husains Sohn Ali überlebte als einziger männlicher Nachkomme und wurde von Yazid nach Damaskus gebracht, später in ehrenvolles Exil nach Medina entlassen. Er hielt sich aus politischen Dingen heraus und starb 713 als 3. Imam Ali Zain al Abidin.
685 – 705 Abdalmalik
705 – 715 Walid I
717 – 720 Omar II.
756 – 788 der Umayyade Abdarrahman I. Emir von Cordoba / alter ego Abdarrahman III. (912-961)

Um 750 wurden die Umayyaden von den Abassiden gestürzt. Die Abbassidenkalifen brachten die folgenden Imame als ehrenvoll behandelte Hofgefangene in ihre neu gegründete Hauptstadt Bagdad. Der 7. Imam wurde angeblich 799 von Harun al Rashid vergiftet, den 8. Imam ließ er 816 nach Mary in Turkmenistan deportieren, wo dieser 818 in Maschad starb und begraben wurde. 836 wird Samara (nördlich von Bagdad) gegründet, wohin die Imame zu folgen hatten.

Der Tod des 11.Imam führte zu einer weiteren und letzten Spaltung der Schiitengemeinde, da strittig war, ob er einen Sohn hatte oder nicht. Dieser Sohn Muhammad al Mahdi wurde angeblich 869 von einer byzantinischen Sklavin geboren. Er sei vom Vater zum Schutz vor der Öffentlichkeit verborgen worden, werde als messianischer Endzeitherrscher u. Erlöser wiederkehren für 7 oder 19 Jahre, dann folge der Tag des jüngsten Gerichts. Von 874 bis 941 soll diser 12. Imam noch in „kleiner Verborgenheit“ geweilt, d.h. eine Verbindung zur Gemeinde gehalten haben, seitdem ist er in der „großen Verborgenheit“.

Es dauerte nach der jetzigen Chronologie ca. 200 Jahre, bis sich dieses Konzept der Zwölfer-Schia (Aliden) weitgehend gegen andere Imamatslehren durchgesetzt und behauptet hatte. Dies geschah durch:

  • Kodifizierung der Imam-Überlieferungen
  • Kanonisierung des schiitischen Rechts im 9./10 Jh.
  • ihre apologetischen Schriften.

Ali und Fatimah erscheinen wie ein Verbindungsglied zwischen alter persischer Königsmacht und den blutrechtlichen Stämmen; insofern könnten zumindest einige Elemente der schiitischen Mythologie älter sein als der sunnitische Islam.

2. Der erste Kalif Abū Bakr al-Ṣiddīq, genannt Abd Allah

Gemäß seiner überlieferten Biographie wurde er 573 n.Chr. in Mekka geboren. Er war Tuchhändler und gehörte zur wohlhabenden Kaufmannschaft, aus deren Mitte stets die islamischen Gelehrten stammten [Richter-Bernburg, 11].

Bereits beim Tode Mohammeds 632 trat der Gegensatz zu Tage zwischen den frühesten Gefährten Mohammeds, den zum Islam konvertierten Medinensern und den erst vor kurzem konvertierten einflussreichen Mekkanern aus dem Stamm der Quraisch. Nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich schließlich mit Unterstützung Omar ibn al-Chattabs auf Abu Bakr als neuen Führer der Muslime.

Er war mit dem Propheten nicht blutsverwandt, sondern dessen Schwiegervater (Vater der Aischa, jüngster Frau Mohammads); außerdem hatte er als einer der ersten Anhänger Muhammads diesen als Leiter des öffentlichen Gebets vertreten. Er wurde „Nachfolger des Gesandten Gottes“ (chalīfatu rasūli-llāh), während amīr al-mu’minīn „Befehlshaber der Gläubigen“ erstmals sein von ihm selbst bestimmter Nachfolger Omar hieß / laut Tabari.

Drei Dinge habe Abu Bakr in seinem Leben bereut / laut Tabari: 1. die Übernahme des Kalifenamtes, 2. den Einbruch bei Fatima und die Konfiszierung ihres Eigentums, 3. das Verbrennen von Selma bei lebendigem Leibe. [nach: Newid, 16]

Seine kurze Herrschaft war bestimmt durch die sogenannten Riddah-Kriege, in denen er die ridda = Empörung all jener aufständischen Stämme der arabischen Halbinsel niederschlug, welche seine Nachfolge für den Propheten nicht akzeptierten und sich erhoben, die Zakat-Zahlungen einstellten und teilweise ihre eigenen Stammesführer wählten. Angeblich ging es dabei um freiheitsliebende Stämme, die noch nicht lange unterworfen waren und die Gefolgschaft nur Mohammed persönlich gegeben haben wollten. Deshalb habe Abu Bakr durch die Unterwerfung der Stämme viel dazu beigetragen, die junge Religion des Islams zu verbreiten.

Nach dem Sieg über die Rebellen, die der Kalif Abu Bakr von Bahrain über Oman bis in den Jemen als Glaubensabtrünnige bekämpfen ließ, folgte die Eroberung von Hira in Mesopotamien (633) und al-Adschnadain in Palästina (634). Die Unterwerfung der Stämme sei „endgültig gesichert“ worden durch die folgenden islamischen Eroberungen des 7.Jhs., zu denen die Stämme ihre Streitmacht beisteuerten [Cahen 21]. Abu Bakr starb 634 n.Chr. und wurde neben dem Propheten Mohammed beerdigt, ebenso wie der zweite Kalif Omar ibn al-Chattab. Ihre Gräber sind heute integriert in die Große Moschee in Medina.

Der Sohn des Kalifen, Muhammed b. Abi Bakr, taucht als von Ali eingesetzter Statthalter von Ägypten auf, wählt dann ebenfalls die militärische Auseinandersetzung, unterliegt dabei, wird von Ali abgelöst und kommt bald darauf um [Newid 19, 26f].

3. Ein anderer Abu Bakr

Wer war Abu Bakr, in welche Zeit gehören die mit ihm verbundenen Ereignisse, sofern sie einen wahren Kern enthalten? Könnte in folgendem Zitat ein guter Anwärter für ihn gefunden sein?

Albrecht Noth erwähnt eine Episode bei DAHABI, Tadkira, Bd.3, 125, deren Kenntnis dieser angeblich einem Schüler des Abu Sa’id namens Al-Hakim verdankt, bei dem es heiße „Von Abu Sa’id tradierte vieles Al-Hakim und er berichtet…“
Noth schildert diese Episode auf Seite 90 folgendermaßen:

„Ebenfalls religiöse Gründe dürften der Anlaß zu dem Kriegszug gewesen sein, den der aus Nisabur gebürtige Theologe und Traditionarier Abu Sa’id Ahmad b.Abi Bakr in den 60er Jahren des 10.Jhs. gegen die Byzantiner ins Leben rief. Abu Sa’id hatte sich in Churasan im Gibal und im Irak mit dem Studium des islamisch religiösen Gesetzes beschäftigt und einen Korankommentar und ein ‚Sahin’ betiteltes, auf der Hadit-Sammlung des Muslim beruhendes Traditionswerk verfaßt. Zu einem nicht genau fixierbaren Zeitpunkt (wahrscheinlich im Jahre 353/ 964-5, allenfalls im Jahre davor, da Abu Sa’id in dem genannten Jahr im Verlauf seiner Expedition fiel) erschien er in Begleitung eines starken Truppenkontingents und ausgerüstet mit Geldmitteln in Bagdad auf dem Wege in byzantinisches Territorium. In der Kalifenstadt vermehrte sich sein Anhang noch um eine große Zahl von Muslims, die ebenfalls gegen die Ungläubigen zu kämpfen gedachten. Genaueres über den Verlauf des Unternehmens erfahren wir nicht. Abu Sa’id und seine Truppen sind offenbar bis ins muslimisch-byzantinische Grenzgebiet in Nordsyrien vorgestoßen und dort mit den Byzantinern zusammengetroffen; das läßt sich jedenfalls aus der Nachricht entnehmen, daß Abu Sa’id in Tarsus den Märtyrertod erlitt.“

Weiter heißt es [ebd.]:

„Daß Abu Sa’id durch Nachrichten von Angriffen der Byzantiner auf die muslimischen Grenzstädte Tarsus, Adana und Massisa zu seinem Unternehmen angeregt wurde, ist möglich, doch nicht sicher. (dazu vgl. IBN MISKAWAIH Tagrib-al-umam, B2, 202f und OSTROGORSKY, Geschichte des byzantinischen Staates, 232f).
Der Angriff fällt in dasselbe Jahr, in dem Abu Sa’id während seines Kriegszuges in Tarsus starb.
Eine weniger ausführliche Biographie des Abu Sa’Id findet sich bei HATIB, Bagdad Bd.5, Nr. 2366, 23.
Das Unternehmen war für Abu Sa’id sicher kein Geschäft, denn er scheint für dessen Kosten selbst aufgekommen zu sein. Über seine Truppen heißt es: „Sie versammelten sich um ihn.“ Eine Anwerbung von Söldnern wäre wohl anders ausgedrückt worden.“

Bietet die traditionell überlieferte Lebensgeschichte des ersten Kalifen hierzu Parallelen? Ich meine, Ja – zumindest, was den kriegerischen Aspekt betrifft. Bei den Schiiten galt Abu Bakr als jemand, der nur auf Macht aus war. Dies könnte eine „frühislamisch“ umgestaltete Reaktion auf den Kampf gegen die „schiitischen“ Glaubensrichtungen im 10.Jh.sein.

Diese Vermutung ist weiter zu prüfen und wird hier zur Diskussion gestellt.

Literatur:

Cahen, Claude (1968): Der Islam I. (Fischer Weltgeschichte), Frankfurt /M.
Illig, Heribert (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden. München
Müller, Zainab Angelika (2002): Yesdegird und Djalali. Zeitensprünge 2, 341-364
– Nachtrag in ZS 3, 481-487
Newid, Mehr Ali (2006): Der schiitische Islam in Bildern. Rituale und Heilige. München
Noth, Albrecht (1966): Heiliger Kampf und heiliger Krieg im Islam und Christentum. Beiträge zur Vorgeschichte und Geschichte der Kreuzzüge. Bonn
Richter-Bernburg, Lutz (1989): Commenda und Kompanien im Handel des Islam. In: Jankuhn, Herbert / Ebel, Else (Hg.): Organisationsformen der Kaufmannsvereinigungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter. (Teil IV der Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa.) Göttingen
Wikipedia : Schlagworte: Abu Bakr, Kalifen