von Gunnar Heinsohn (aus Zeitensprünge 1/2002)
I. Bisherige Fundlage
Polnische Historiker versuchen erst gar nicht, für Polens Epoche von 623 bis zur Geburt seines ersten Königs Mieszko vom Stamme der Polanen im Jahre 921 Geschichte zu schreiben. Der Beginn des polnischen Staates wird oft mit Mieszkos Thronbesteigung um das 963 gleichgesetzt. Da man eigene Texte aus den drei Jahrhunderten ohnehin nicht hat, begnügt man sich mit Hinweisen auf Einhards Vita Caroli Magni und Fredegar (typisch und leicht zugänglich für Internetnutzer etwa Szczytna [2002]). Beide Texte können mit ihren vielfältigen Details aus dem 11. und 12. Jh. nicht vor 1150 verfasst worden sein und taugen deshalb weder etwas für eine deutsche noch für irgendeine andere frühmittelalterliche Geschichte [Illig 1998; 1999; Heinsohn 2000; Heinsohn/ Sidorczak 2001].
Um überhaupt etwas für diese dreihundert polnischen Jahre herausbekommen zu können, sind die lokalen Gelehrten ganz und gar auf Ausgrabungen angewiesen. Im Weichseldelta waren diese bekanntlich vergeblich geblieben, obwohl dort auf einmalige Weise die Spezialisten von zwei Nationen hintereinander – erst die Deutschen und dann die Polen – mit großem Ehrgeiz über viele Jahrzehnte hinweg den Boden durchsucht haben ist [Heinsohn 2001].
In Polens bzw. Großpolens (Wielkopolska) frühesten Zentralstädten Gnesen (Grab des Heiligen Adalbert) und Posen (die kürzlich entdeckte 970er Kapelle Dobravas, der böhmischen Gattin Mieskos, unter der gotischen Liebfrauenkirche [Oljasz 1999]) liegen deutlich identifizierbare sakrale Bauten nicht vor dem 10. Jh. vor. Die protopolnischen Stämme sollen zwischen Oder und Bug zwar zwischen dem 7. und 10. Jh. eifrig herumgeschweift sein, aber überzeugende Belege dafür ließen sich bisher nicht beibringen. Für Kleinfunde sieht es ebenso düster aus. In Posens archäologischem Museum (Skarby Muzeum Archeologocznego w Poznaniu) wird die schmerzhafte Lücke für den Besucher besonders schnell anschaulich. Man springt dort von gut datierbaren Objekten der Römerzeit mit Münzen bis hin zu Placidus Valentianus Marcus (425-455; Fundliste in Chlodnicki [1996, 39-48]) direkt zu der ältesten mittelalterliche Münze, die erst gut 500 Jahre später angesetzt werden kann. Sie stammt vom Engländer Ethelred (959-975). Von insgesamt 20 Denaren der Zeitspanne 959-1002, die das Museum beherbergt oder zumindest vor dem Krieg einmal im Bestand hatte, stammen allein zehn von bayerischen Fürsten (Fundliste in Chlodnicki [1996, 48 f.]).
II. Die archäologische Pipeline
Neue Hoffnung auf eine mögliche Verifizierung der Existenz des frühen Mittelalters keimte nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa auf, als sich den polnischen Ausgräbern eine in der Geschichte der Archäologie noch nie gebotene Chance eröffnete. Es ging um die 4.000 km lange Yamal-Europe-Gas Pipeline von Sibirien nach Westeuropa, für die im polnischen Abschnitt ein 682 km langer Tiefgraben ausgeworfen werden musste:
„Die Idee einer so enormen Ausgrabung, die das gesamte Land von Ost nach West durchzieht, konnten sich selbst die romantischsten Köpfen unter den Archäologen Polens nicht vorstellen“ [Gassowski 1998, 9].
1993 aber begannen sie mit ihrer Arbeit und fanden dabei nach und nach 724 Fundstätten. Längst sitzen sie an den insgesamt 17 Dokumentationsbänden über ihre imponierende Ausbeute.
An den 142 größten Fundstellen wurde noch vor der Fertigstellung der Trasse professionelle Sicherungsausgrabungen durchgeführt. Weitere 166 wurden vor dem Legen der Rohre im Grabenstich stratigraphisch abgesucht. An den übrigen – durchweg kleineren Plätzen – wurden Überprüfungen beim Öffnen der Trasse vorgenommen. 314 Siedlungen, Lagerplätze und Produktionsstätten hat man lokalisiert. Bei den übrigen 410 Stätten ging es vorrangig um Räuchergruben, Vorratsräume, Kalk- und Keramiköfen, heidnische Heiligtümer sowie 28 Friedhöfe. Insgesamt 450.000 m2 wurden von der anthropologischen Vermessung über die Pollenuntersuchung bis hin zur Radiokarbondatierung einer archäologischen Feinanalyse unterzogen [Adamczyk/Gierlach 1998, 18]. Und dennoch wurde man bei allem berechtigten Stolz nicht wirklich glücklich. Denn die nun schon so lange und mittlerweile beinahe verzweifelt gesuchte frühmittelalterliche Formationsperiode des polnischen Staates zwischen dem 7. und 10. Jh. ist einmal mehr fundlos geblieben. Im Bericht wird das allerdings eher diplomatisch ausgedrückt, wenn es heißt, dass die Fundstücke chronologisch
„alle bedeutenderen archäologischen Kulturen abdecken, die in Polen vorkommen, – von den Jägern und Sammlern der jüngeren Altsteinzeit über die ersten Landwirtschaftskulturen hin zu den Siedlungen der Bronze- und frühen Eisenzeit – zeitgleich mit der berühmten Siedlung in Biskupin – bis hoch zum Beginn des polnischen Staates. […] Besonders spektakulär ist […] ein Komplex von Heiligtümern der Przeworsk Kultur aus den ersten Jahrhunderten AD […] sowie ein reicher Friedhof der Wielbark Kultur aus der Römerzeit und verbunden mit der Anwesenheit von Goten in Kowalewko“ [Adamczyk/Gierlach 1998, 20; Fettkursivdruck G.H.].
Der Schock über das Fehlen der frühmittelalterlichen Periode in der Yamal-Trasse wird dann ausführlich, aber eben doch nur indirekt dadurch ausgedrückt, dass für die Perioden vor dem 6. und nach dem 10. Jh. informationsreiche und wunderschön mit Farbfotos der besten Artefakte bebilderte Artikel abgeliefert werden, für die Jahrhunderte dazwischen jedoch nobles Schweigen bewahrt wird [Chlodnicki/Kryzaniak 1998a, passim].
Was wird da berichtet? Dass die Goten bereits im 3. Jh. ihren Abzug aus dem jetzigen Polen in die Schwarzmeer-Ukraine beginnen und dort ihr ostgotisches Reich errichten, bestätigt sich. Ihr Friedhof in Kowalewko wird lediglich bis „220 AD“ genutzt [Makiewicz 1998, 55]. Spätestens im 6. Jh., in dem Jordanes sie noch für Großpolen erwähnt, haben die Goten das Weichselgebiet verlassen.
Römische Kleinfunde der Pipeline-Ausgrabung reichen sicher bis in das 4. Jh. [Bednarczyk 1998, 84-97]. Mit den jetzt schon in polnischen Museen liegenden Kaisermünzen kommt man noch ein Jahrhundert weiter. Die byzantinischen Münzen (Danzig) schließlich führen in das frühe 7. Jh. Der polnische Staat beginnt aber nun einmal nicht vor 963. Und erst für die Periode nach diesem Zeitpunkt werden die Pipelineausgräber auch wieder fündig. Vor allem der Friedhof von Danilowe Male am Narew, wo man 50 Gräber untersucht hat, brachte Überreste einer Kultur ans Licht, die man – als sogenannte Dregowicz-Siedlungen – schon aus West- bzw. Weißrussland kannte [Krasnodebski 1998]. Die Funde konnten in das 11. Jh. datiert werden. Rätselhafterweise wurden die ihnen entsprechenden weißrussischen Artefakte aber „in das frühe Mittelalter datiert“ [Krasnodebski 1998, 102]. Die Russen hatten von unten nach oben gezählt, mussten also über den Funden der spätantiken Zeit das 7. Jh. beginnen lassen, während die Polen die offenkundigen Verbindungen von Danilowe nach Westen nicht außer Acht lassen konnten und deshalb für die Dregowicz-Artefakte auf das 11. Jh. erkennen mussten. Beide gemeinsam bekommen dann – und nur dann – Recht, wenn mindestens drei Jahrhunderte aus der Chronologie herausgenommen werden.
III. Fazit
Wenn die Ausgräber der Yamal-Pipeline davon sprechen, dass die 724 Fundstätten lediglich alle „bedeutenderen [more important] archäologischen Kulturen, wie sie in Polen vorkommen“, abdecken, dann haben sie durchaus meisterhaft formuliert. Denn die frühmittelalterliche Entstehungszeit des polnischen Staates wird zwar als überaus bedeutend empfunden, aber sie kommt archäologisch in Polen in der Tat nicht vor. Das war schon bisher schwer zu ertragen. Und nun ist nach der extensivsten Ausgrabung der Weltgeschichte einmal quer durch das ganze Land – für die Zeit zwischen Gotenabzug/Spätantike (5.-7. Jh.) und polnischem Königtum (10. Jh.) wieder nichts gefunden worden ist.
Wuchtiger als mit der 682-km-Ausgrabung in Polen ist ein – wenn auch indirekter – Falsifizierungsversuch an der Illigschen These einer frühmittelalterlichen Phantomzeit noch nicht geführt worden. Und er wurde mit der schärfsten Waffe überhaupt, mit der stratigraphischen Grabung also, exekutiert. Die These hat standgehalten. Die gescheiten Köpfe aus der herrschenden Lehre – der Dogmatiker sei hier lediglich mit Barmherzigkeit gedacht – werden also auf etwas Neues verfallen müssen, wenn sie ihr chronologisches Konstrukt retten wollen.
Literatur
Adamczyk, K., Gierlach, M. (1998), „The Archaeology of the Transit Gas Pipeline: Idea – Conception – Practice“, in Chlodnicki/Kryzaniak 1998a, 15-22
Bednarczyk, J. (1998), „Everyday Life in the Roman Period”, in Chlodnicki/ Kryzaniak 1998a, 73-98
Chlodnicki, M. (1996), Die Schätze des Archäologischen Museums zu Poznan, Poznan (polnisch und deutsch)
Chlodnicki, M., Kryzaniak, L., Hg., (1998a), Pipeline of Archaeological Treasures, Poznan
– (1998b), „The Pipeline of Archaeological Treasures”, in Chlodnicki/Kryzaniak 1998a, 23-26
Galezowska, A. et al. (1999), Muzeum Archeologiczne w Poznaniu : Pradzieje Wielkopolski, Poznan
Gassowsli, J. (1998), „The Great Archaeological Dig”, in Chlodnicki/Kryzaniak 1998a, 9-12
Heinsohn, G. (2000), „Kaiserelefanten des deutschen Mittelalters“, in ZS, 12, (2) 228-233
– (2001), „Danzig und die rätselhafte frühmittelalterliche Chronologielücke des Weichseldeltas“, in ZS, 13 (3) 440-462
Heinsohn, G., Sidorczak, J.-M. (2001), „Gibt es Slawen betreffende Schriftquellen aus dem frühen Mittelalter?“, in ZS, 13 (2) 200-212
Illig, H. (51998), Das erfundene Mittelalter (11996; Erstfassung 1992 unter dem Titel Karl der Fiktive, genannt der Große), München · Düsseldorf
– (1999), Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden, München
Krasnodebski, D. (1998), „Medieval Borderland Inhabitants“, in Chlodnicki/ Kryzaniak 1998a, 99-113
Makiewicz, T. (1998), „The Goths in Greater Poland“, in Chlodnicki/Kryzaniak 1998a, 49-72
Oljasz, T. (1999), „Searching for Poland’s Foundations“, in Warsaw Voice, 22. August, S. 7
Szczytna, L. (2002), „Notes on Polish History. Part One (623-1018)”, http://slavic.freeservers.com/Poland1.html
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