von Heribert Illig und Hans-Ulrich Niemitz

[Redaktionelle Notiz: Es handelt sich hierbei um den zweiten Beitrag zur mittelalterlichen Phantomzeit aus Zeitensprünge 1/1991. Gemeinsam mit zwei weiteren Beiträgen aus dem gleichen Heft markiert er den Beginn der Beschäftigung mit dem Mittelalter aus chronologischer Sicht in den Zeitensprüngen.]

Das Mittelalter gilt nicht deshalb als dunkel, weil es eine finstere, unmenschliche, grausame Zeit gewesen wäre, sondern weil die Quellen es so schlecht erhellen. Das gilt insbesondere für das frühe Mittelalter, in viel geringerem Ausmaß für das späte Mittelalter.

Die beiden Autoren näherten sich dem Problem von verschiedenen Seiten. Dementsprechend können sie auch auf ganz verschiedene Quellen verweisen, die für jahrhundertelange Leerstellen im Mittelalter sprechen. Nachdem der komplexen Thematik nicht auf Anhieb Rechnung getragen werden kann, werden in einem ersten Anlauf nur knapp die ersten Befunde aufgelistet.

Architektur (il)

In der neuen römischen Hauptstadt Ravenna werden noch im 5. Jh. fünf Kirchen, ein Baptisterium und ein Grabmal errichtet. Diese rege Bautätigkeit erlischt zur Mitte des 6. Jh.:

500 S. Apollinare Nuovo (ca.-Datum)
500 Baptisterium der Arianer (ca.-Datum)
500 S. Andrea (zw. 494 und 519)
500 Spirito Santo (Arianischer Dom; ca.-Datum)
520 Grab des Theoderichs
526 S. Vitale (bis 546)
535 S. Apollinare in Classe (bis 549)

In Venedig, das zu dieser Zeit in der Lagune gegründet wird, finden sich die ältesten Bauten sehr viel später. Die Kirche von Torcello wird, nach ihrer Gründung im Jahre 639, ab 1008 noch ganz in der Form einer frühchristlichen Basilika erbaut, die Kirche San Marco wird 1063 (oder 976?) nach einem 500 Jahre alten Vorbild begonnen, der Apostelkirche in Konstantinopel und/oder der Hagia Eirene, deren Baugeschichte schlecht datierbar ist (Wachmeier 1977, 107). Dieselbe Lücke zeigt sich bei Mosaiken (s.u.) noch deutlicher.

Konstantinopel, das mit Bauten Ravennas und Venedig in direktem Kontakt steht, zeigt die Lücke, die zwischen Ravenna und Venedig klafft, innerhalb derselben Stadt (Daten stehen für den Baubeginn, wenn nicht anders angegeben):

527 Sergios- und Bakchoskirche
532 Hagia Sophia (bis 537)
537 Saray-Zisterne
550 Hag. Eirene: Atrium u. Narthex
550 Apostelkirche (ca.)
558 Neue Kuppel der Hagia Sophia
908 Konst.-Lips-Kloster, Weihe
922 Myrelaionkirche
922 Palast von Romanos I.
1000 Marmorturm (ca.)
1085 Pammakaristos-Kirche (ca)
1090 Pantepoptes-Kirche
1130 Pantokrator-Kirche (ca.)
1180 Kyriotissakirche (ca.)

Zwischen 6. und 10. Jh. wird nur der Weiterbau der Hagia Eirene angesetzt, allerdings ganz vage mit “nach 740”.

Die Lücke wird bei Kreuzkuppelkirchen noch spürbarer: In Konstantinopel ab dem 10. Jh. gebaut, gehen sie auf armenische Vorbilder ab 500 zurück! (Brentjes u.a. 1982, 70ff.) Die Verwandtschaft der armenischen Architektur mit karolingischen und romanischen Bauten verdient vor allem deshalb mehr Aufmerksamkeit, weil seit 550 in Frankreich syrische und byzantinische Einflüsse gegenüber iranogotischen überwiegen (Pirenne 1963, 110).

San Vitale in Ravenna wurde 526 bis 546 erbaut. “Erster byzantinischer Zentralkuppelbau des Abendlandes, sechs Jahre vor der Hagia Sophia in Konstantinopel begonnen; Vorbild für die Palastkapelle Karls des Großen in Aachen” (Langewiesche 1964, 118). Weitere Vorbilder für Aachen waren St. Sergios und Bakchos in Konstantinopel (527) und das Oktogon in Hierapolis, heute Pamukkale (Zilkens 1983, 91). Der Rohbau des Aachener Oktogons war vermutlich 798 fertig, ein Teil des Baumaterials kam aus Ravenna (Weisweiler 1981, 28) – der zeitliche Abstand beträgt 250 Jahre. In der Mosaikkunst wird sich die direkte Aufeinanderfolge von ravennatischer und karolingischer Kunst bestätigen.

Unter Karl d.Gr. waren auch zwei Kirchen in Bau, die sich an der Peterskirche in Rom orientierten: Die Königsabtei in St. Denis (754-775) und die Fuldaer Klosterkirche (791-819). “Zum erstenmal im Mittelalter kopierte ein Bauwerk vom Range einer Königsabtei ein älteres Monument um seiner Bedeutung willen” (Zilkens 1983, 86). Die alte Peterskirche war 324 begonnen worden, stand aber bis ins 15. Jh.

Architekturglieder (ni)

Die im 10. Jh. gegründete Klosterkirche von Cluny war lange die größte in Europa. Ihre Ausschmückung war beispielgebend: Der “Fußboden war – wie alte römische Böden – mit figürlichem Mosaik geschmückt” (Clark 1961, 50). Die Steinskulpturen waren farbig gefaßt: “Wenn wir bedenken, daß sie in leuchtenden Farben angemalt waren, <…> dann stellen wir fest, daß sie ursprünglich sogar noch wilder <…> ausgesehen haben müssen” (Clark 1961; 51).

In Clunys Nachfolge waren Fassaden und Fassadenskulpturen der gotischen Kathedralen Frankreichs farbig gefaßt – genauso wie die antiken Tempel und Statuen.

Chiliasmus (il)

Im Christentum flammte immer wieder der Glaube an die Zahl 1000 auf: Ihmzufolge sollte Christus unmittelbar vor dem Ende dieser Weltzeit mit den auferweckten Gerechten ein Tausendjähriges Reich des Friedens errichten, vor dem aber der Teufel noch einmal herrsche. Augustinus und andere verkürzten dieses Bild zu der Annahme, daß von der Auferstehung Christi bis zum Ende der Welt 1000 Jahre vergehen würden. Wir finden sie bei frühen Kirchenvätern, judenchristlichen Sekten, aber auch bei apokalyptischen Sekten des Spätmittelalters.

Vor der Jahrtausendewende soll dieser Glaube ebenfalls grassiert haben. Neuere Forschungen ergaben, daß diese angsterfüllte Bewegung überschätzt worden ist. So muß das Jahr 1000 noch gar nicht durch die christliche Zeitrechnung hervorgehoben gewesen sein.

Geisteshaltung des Mittelalters (ni)

“Gewiß sind die ersten Jahrhunderte des Mittelalters vorwiegend rezeptiv; die antike wie die christliche Kultur sind diesen Völkern nur verständlich, wenn sie in ihren einfachsten Formen und schlichtweg als Autoritäten gegeben werden. Aber vom 11. Jahrhundert an beginnt sich ein schöpferischer Geist zu regen, der ein Eindringen in die Überlieferungen und ein selbständiges Weiterführen zeigt” (Propyläen 1932, XXVI).

Für die fragliche Zeit vor 1000 hat Le Goff einen fast psychopathologischen Charakterzug aufgedeckt: Der damalige Mensch habe krampfhaft etwas bewahrt, das er überhaupt nicht verstand:

“Die Überlieferungen waren eher ein erstarrter Schatz <…> Frühmittelalterliche Menschen verstanden die kulturellen Überlieferungen der Vergangenheit nicht jeweils als Einheit, deren inneren Widersprüche wenn schon nicht aufgelöst, so doch wenigstens erklärt werden mußten; für sie waren diese Überlieferungen eine Reihe von Texten ohne Kontext” (Le Goff 1984, 59f.; kursiv durch ni).

Weil dem “fortschrittsfeindlichen, verständnislos bewahrenden” Mensch des Mittelalters sicherlich auch unser Wissenschaftsverständnis fehlte, das immer die nächstfolgende Gelehrtengeneration unterstellt, könnte seine “retrospektive” Haltung von etwas ganz anderem herrühren: von künstlich geschaffenen Jahrhunderten oder gefälschten Quellen. Oder stimmt es doch, daß “die Menschen des Frühmittelalters – und besonders die ‘Intellektuellen’, die wir durch zeitgenössische Werke kennen – von dem Drang besessen waren, sich auf auctoritates der Vergangenheit zu stützen und sich in allen Gebieten damit abplagten, zu retten und zu erhalten, nicht etwa zu entwickeln oder neu zu schöpfen” (Le Goff 1984, 58)?

Die Wertvorstellungen Arbeit und Arbeiter (hauptsächlich Handwerker) fehlten noch im Mittelalter; dementsprechend wurden sie übergangen: “Wenn die Mentalitätsgeschichte stammelt, ist die Geschichte des Schweigens, der Vergessens und des historischen Dunkels, welche entscheidend für die Geschichte von morgen sein wird, noch stumm” (Le Goff 1984, 56f). “Es ist also legitim zu versuchen, sie <die Einstellungen und Werurteile> über Quellen, die wir besitzen, aufzuspüren und gewaltsam ans Licht zu ziehen” (Le Goff 1984, 57).

Bei einem derartigen Gewaltakt können richtige Quellen vergewaltigt, falsche aber als richtige gewertet werden. So plagt Le Goff bei seinem Vorgehen das schlechte Gewissen: “Dazu kommt noch, daß in dieser Periode die figürliche Kunst fast ganz verschwunden ist, desgleichen die Inschriften, so daß eine Interpretation des archäologischen Materials und besonders der Grabbeigaben für die Mentalitätsgeschichte nicht ganz unproblematisch ist” (Le Goff 1984, 65).

Da erleichtert es, wenn plötzlich Ähnlichkeiten mit Vertrautem sichtbar werden, wenn etwa das Kapitular von 806 für die missi in Nimwegen “bestimmte Einstellungen aus dem 13. Jahrhundert (Guillaume de Saint-Amour, Jean de Meung), vor allem aber aus dem Spätmittelalter und der Reformation ankündigt” (Le Goff 1984, 71). Hier wird aus dem Nachzügler plötzlich ein Vorläufer mit 400 Jahren Vorsprung.

Glaubenslehre (ni)

So unerbittlich die ersten Jahrhunderte über die Ausformung der Trinität und die Natur(en) Jesu innerhalb der Kirche gestritten worden ist, so still bleibt es das nächste halbe Jahrtausend:

“In den fünf Jahrhunderten zwischen Gregor dem Großen <604> und dem 12. Jahrhundert entwickelten sich die Ansätze zum Purgatorium kaum weiter. <…> Die genannten fünf Jahrhunderte sind für uns eine lange Periode, in der das Nachdenken über das Jenseits anscheinend stagnierte” (Le Goff 1990, 120).

Karl der Kahle hatte Chartres 876 die Tunika der Jungfrau Maria geschenkt. “Von Beginn an hatte diese Reliquie Wunder gewirkt, aber erst im 12. Jahrhundert drang der Kult der Jungfrau in die Vorstellungswelt des Volkes ein. Ich vermute, daß in früheren Jahrhunderten das Leben einfach zu unempfindlich dafür gewesen war. Jedenfalls spielte die Jungfrau <…> eine sehr geringe Rolle im Geist der Menschen des ganzen 9. und 10. Jahrhunderts” (Clark 1961, 72).

Aber auch im zweiten Jahrtausend geschah manch Unverstandenes: “Trotz seiner öffentlichen Ämter an der Hofschule unter Karl dem Kahlen war der Ire Johannes Scotus Eriguena <810-877> ein den mittelalterlichen Theologen fast gänzlich unbekannter Einzelgänger, und dies auch, bevor seine Lehre zwei Jahrhunderte nach seinem Tode im Jahr 1210 auf dem Konzil von Paris verurteilt wurde” (Le Goff 1990, 131). Er hat die hochmittelalterlichen Mystiker beeinflußt, weswegen ihn die Kirche genaugenommen 340 Jahre später verurteilte. Wann hat er wirklich gelebt?

Ikonoklasmus (il)

In der Ostkirche tobte von 725 bis 843 der Streit über die Zulässigkeit figürlicher Darstellung. “Schuf man Neues, so wählte man abstraktere Formen, stellte nicht Christus dar, sondern begnügte sich mit dem Kreuzeszeichen, wofür der Mosaikschmuck in der Apsis der Hagia Sophia ein charakteristisches Beispiel ist” (Wachmeier 1977, 13). Aber die Mosaikkunst von Ravenna dokumentiert diese Entwicklung bereits vor 550: S. Apollinare in Classe (535-549) ist die späteste der dortigen Kirchen. Ihr Mosaikschmuck ist drastisch reduziert, Prozessionsdarstellungen im Langhaus wie noch in S. Apollinare Nuovo fehlen ganz. Im alleinigen Apsismosaik werden die 12 Apostel gleich zweimal durch 12 Schafe symbolisiert, die Christusfigur ist durch ein großes Kreuz ersetzt, mit dem Haupt Christi im Zentrum. Erfolgte der Bildersturm (und damit verbunden die Ausbreitung des Islams) bereits im 6. Jh.?

Karolinger und Sachsenkaiser (ni)

“So gut die Historiker über Lage und geschichtliche Bedeutung der karolingischen Pfalzen informiert sind, so wenig wissen sie jedoch über ihr Aussehen, ihr bauliches Bild, ihre Struktur” (Pörtner 1964, 297). Sind etwa die karolingischen Pfalzen identisch mit den ottonischen und deshalb nicht erkennbar?

“J.M.J. von Olfers <…> suchte <…> im August 1843 <…> nach dem verschollenen Grabe Karls des Großen – ohne Erfolg übrigens” (Pörtner 1964, 298) – und das gilt bis heute. Aber der Sachsenkaiser Otto III. (983 – 1002) soll das Grab gefunden haben. Ist diese Auffindung oder einer der beiden Kaiser nur Legende?

Karolinger und Sachsen entsprechen sich auch in der Rechtsprechung auf seltsame Weise:

“Die große Woge der Kapitulariengesetzgebung bei den Karolingern und die Quellenarmut der ottonischen Periode dürfen nicht über die inneren Gemeinsamkeiten beider Epochen hinwegtäuschen” (Kroeschell 1972, 72).

“Erst Kaiser wie Otto I. und Otto II. <…> haben sich der Form der Kapitularien noch einmal bedient” (Kroeschell 1972, 75).

Der “Rechtspfleger” Karl aber wird sehr zwiespältig gesehen: “Man darf <…> die Leistung Karl des Großen auf dem Gebiet des Stammesrechtes nicht allzu hoch bewerten: Über eine sprachlich gereinigte Neufassung älterer Texte ist er kaum hinausgekommen” (Kroeschell 1972, 74).

Andererseits sind es die Kapitularien, “denen Karl der Große bei den modernen Historikern <…> seinen Ruhm als Gesetzgeber verdankt. Die große Woge der Anordnungen, die unter Karl rasch emporschwillt und unter seinen Enkeln schon wieder verebbt, ist eine eigenartige Erscheinung und hat der Forschung von jeher viele Rätsel aufgegeben. Ihren Namen tragen die Kapitularien nach ihrer Einteilung in Kapitel, und dies ist zugleich das einzige, was man über sie sagen kann, ohne auf Widerspruch zu stoßen” (Kroeschell 1972, 74).

Kirchengeschichtsschreibung (il)

Dem frühen Interesse der Christen an der Geschichte verdanken wir über Eusebius und seine Abschrift des Manetho sogar die Pharaonenfolge der Ägypter. Aber dieser frühe Impuls erlischt Ende des 6. Jh. (lt. Brockhaus):

325 Eusebius von Caesarea
417 Orosius
5./6. Jh. Fortsetzungen in Ost und West durch Rufinus, Skrates, Sozomenos, Theodoret, Philostorgios, Cassiodorus Sen., Euagrios, Johannes von Ephesos
————–
1559 M. Flacius
1588 L. Baronius

Krankheiten (ni)

Die Pestepidemien in Europa sparen eine markante zeitliche Lücke aus: 164, 283, 535, 542 (erstmals nachgewiesenerweise Beulenpest, bis ca. 600), 1348-50, 1356 (im Rheinland bis 1667), 1449, 1562, 1576, 1598, 1611, 1631, 1633, 1665, 1713, 1721 (Stein 1987).

McNeill schreibt dazu: “Das leuchtet ein <der Autor bezieht sich auf eine Argumentation zum Entstehungsort der Pest in Asien>, wenn man die Geschichte der Pest nach ihrem ersten verheerenden Auftritt in Europa zur Zeit Justinians <mit dem> vergleicht, was nach 1346 beim Erscheinen des Schwarzen Todes passierte. Im ersten Fall verschwand die Pest schließlich vollständig aus dem christlichen Europa. Die letzte Erwähnung der Krankheit in christlichen Quellen stammt aus dem Jahr 767. Arabische Autoren erwähnten die Pest in den letzten 150 Jahren vor 1340 ebenfalls nirgends <…> Im Gegensatz dazu ist seit 1346 die Pest in Europa und im mittleren Osten bis in die Gegenwart hinein chronisch geblieben <…> Der Gegensatz zwischen den wiederholten Auftritten der Pest in Europa nach 1346 und der offensichtlichen Abwesenheit der Krankheit von europäischem Boden während mehr als fünfeinhalb Jahrhunderten vor 1346 deutet darauf hin, daß etwas Einschneidendes geschehen war, das die Anfälligkeit Europas für die Infektion erhöht hatte” (McNeill 1983, 202f.).

Vielleicht verdanken wir die “offensichtliche”, vorübergehende Immunisierung eines Erdteils einer künstlich geschaffenen oder gestreckten Ära, in der statt der Pest die aus der Bibel bekannte Lepra (=Aussatz, modern: Hansen’sche Krankheit) gewütet haben soll. “Die Hansen’sche Krankheit scheint sich in Europa und den Küstenländern des Mittelmeeres im 6. Jahrhundert verbreitet zu haben. Danach blieb sie zusammen mit anderen als leprös eingestuften Krankheiten bis zum 14. Jahrhundert von großer Bedeutung. Leprosenhäuser wurden außerhalb tausender von mittelalterlichen Städten eingerichtet. Eine Schätzung der Gesamtzahl solcher Häuser in der christlichen Welt des 13. Jahrhunderts beläuft sich auf nicht weniger als 19000” (McNeill 1983, 221).

Doch gemäß anderen Quellen wurde die Lepra erst 1230 mit den Kreuzzügen nach Europa eingeschleppt (Stein 1987) – eine signifikante Unsicherheit. Wo gibt es Überreste dieser zahllosen Häuser, deren Verschwinden keineswegs durch die Angst vor Ansteckung motiviert ist. Denn erst mußten die Kranken verschwunden sein, danach erst konnten die Krankenhäuser abgerissen werden.

Landwirtschaft (ni)

“Die Dreifelderform des Fruchtwechsels ist der größte Fortschritt der westeuropäischen Landwirtschaft im Mittelalter genannt worden. Sie steht gegen Ende des 8. Jahrhunderts mit einem Mal vor uns. Ihr erstes gesichertes Auftreten stammt aus dem Jahre 763, das nächste aus dem Jahre 783, das dritte aus dem Jahre 800. Danach sind die Belege so zahlreich, daß diejenigen Geschichtsforscher, die durchaus an dem Dogma festhalten wollen, im ländlichen Leben könne es nie einen schnellen Wandel geben, zu der Annahme genötigt sind, die Dreifelderwirtschaft sei eine ältere Erfindung, die es fertig gebracht habe, jeder urkundlichen Erwähnung zu entwischen” (White 1968, 63).

“Die Frage nach der Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft von ihrem Ursprungsgebiet im Fränkischen Reich zwischen Seine und Rhein ist noch nicht planmäßig untersucht worden. <…> Selbst in Deutschland, wo auf diesem Gebiet mehr getan worden ist als sonst irgendwo, kann bisher niemand mehr aussagen, als daß die Ausbreitung seit ihrem Beginn, kurz vor 800, mehrere Jahrhunderte in Anspruch genommen hat. Ungarn ist rätselhaft: Eine Abtei scheint im Jahre 1086 auf ihren Gütern Dreifelderwirtschaft betrieben zu haben. Dann ist von Dreifelderwirtschaft keine Rede mehr, bis zum Jahre 1355″ (White 1968, 66f.).

“Bis zum Ende des Mittelalters hat sich eine klare und feste Verbindung zwischen der Dreifelderwirtschaft und dem Gebrauch des Pferdes in der Landwirtschaft herausgebildet. Vielleicht kann der dreihundertjährige Verzug vom Auftreten der neuen Anschirrung bis zum umfassenden Einsatz des Pferdes für nichtkriegerische Zwecke mit den Schwierigkeiten erklärt werden, die bei der Umstellung eines Dorfes vom zweijährigen auf den dreijährigen Umlauf sicher zu überwinden gewesen sind” (White 1968, 66). Die Kursivsetzungen durch den Verfasser (ni) sprechen für sich, das Anschirren taucht noch einmal unter Technikgeschichte auf.

Mönchsorden (il)

Nachdem Basilius den Mönchsgedanken von Ägypten nach Europa gebracht hatte, wurden bis 600 nicht nur zahlreiche Klöster gegründet, sondern auch erste übergreifende Ordensregeln erlassen. Nach 600 stockt diese Entwicklung bis ins 11. Jh., um dann einen ungeheuren Aufschwung zu nehmen (Stein 1987 und Christoph 1960, 372):

379 Basilius’ Tod; er entwickelte Mönchswesen in Griechenland
380 Klosterartige Einrichtungen in Rom und Mailand
400 Augustiner-Eremiten (Ca.-Datum)
493 Brigida gründet erste Frauenklöster in Irland
529 Benedikt erläßt seine Ordensregel und gründet Monte Cassino
609 Columbanus gründet Kloster in den Vogesen mit strenger Regel
————–
1072 Reform von Cluny des Benediktinerordens
1084 Kartäuser (1176 päpstlich bestätigt)
1098 Trappisten
1120 Zisterzienser trennen sich von den Benediktinern
1120 Prämonstratenser
1155 Karmeliten (1226 päpstlich bestätigt)
13.Jh. Franziskaner (1209, 1221), Klarissinnen (Franziskanerinnen 1212), Dominikaner (1215), Tertiarier des Hl. Franz (1221), Serviten (1233), Cölestiner (ca. 1250), Augustiner (1256).

Mosaikkunst (il)

In Ravenna, dieser Stadt der Völkerwanderungszeit ist nach einem Jahrhundert der Blüte (440 bis 550) das letzte frühchristliche Mosaik Italiens an eine Kirchenwand geheftet worden (S. Apollinare Nuovo). Diese Blüte hatte im spätantiken Rom begonnen und sich in Ravenna, Thessaloniki und Konstantinopel fortgesetzt:

313 S. Giovanni in Laterano, (Rom)
320 S. Costanza, (Rom)
390 S. Pudenziana (bis 398); (Rom)
400 Ajios Georgios (Thessaloniki)
435 S. Maria Maggiore (Rom; erstmals Goldgrund)
480 Ajia Paraskevi (Thessaloniki; ca.-Datierung)
520 Ajios Dimitrios-Kirche (Thessaloniki; ca.-Datierung)
530 Ajia Sophia (Thessaloniki)
535 Basilica Eufrasiana; Porec (Istrien; bis 543)
537 Hagia Sophia (Istanbul; bis 570)
565 Katharinenkloster, Sinai (vor Justinians Tod, 565)

Nach Ravennas musivischem Ende um 550 geht es im 120 km entfernten Venedig erst nach der Jahrtausendwende weiter: Die frühesten Mosaike der Markuskirche und von Torcello, gut mit ravennatischen zu vergleichen, stammen aus dem späten 11. Jh. – eine Lücke von rund 500 Jahren, die auch im mosaikreichen Konstantinopel nur durch sehr wenige Datierungen unterbrochen wird (eigentlich nur durch im 9. Jh. angesiedelte neue Mosaike in der Hagia Sophia).

Die Kuppelmosaiken der Vorhalle von San Marco haben eine verwundernde Entstehungsgeschichte. Denn die erste Kuppel (Genesis) wurde bis 1220 nach einer Handschrift des 5. oder 6. Jh. gearbeitet, nach dem sogenannten Cotton-Kodex. Während die Künstler hier exakt dem Stil der rund 650 Jahre alten Vorlage folgten, kommen in den weiteren Kuppeln, die ebenfalls aus dem 13. Jh. stammen, “die Stiltendenzen der eigenen, der gotischen Zeit wesentlich stärker zum Ausdruck” (Hellenkemper 1986, 5).

Generell setzt die die musivische Kunst nach 1000 wieder auf breiter Front ein und blüht bis 1300:

1018 Torcello, Venedig
1025 Hosios Lukas, Griechenland (Bau ab 1000)
1071 S. Marco, Venedig
11.Jh. Vatopedi (Athos; Bau ab 980)
1100 Daphni bei Athen (Bau ab 1080)
1100 S. Ambrogio, Mailand (um 1100 – um 1128)

Im 12. Jh. dann Sizilien (Palermo: Dom, Palastkapelle, La Martorana; Cefalù; Monreale), Florenz (Baptisterium, S. Miniato), Lucca (S. Frediano), Pisa (Dom), Rom (S. Maria in Trastevere).

Aber zwischen 6. und 11. Jh. können nur wenige römische und karolingische Mosaiken vermitteln, die wie Lückenbüßer zwischen den Zeiten stehen:

805 Pfalzkapelle Aachen (zerstört)
817 S. Maria in Domnica, Rom (bis 824)
817 S. Marco, Rom (bis 844)
818 Germigny-des-Prés, Loire
820 S. Prassede, Rom (bis 840).

Musikgeschichte (ni)

Papst Gregor der Große (540 – 604) gründete nicht nur um 575 ein Kloster (vgl. oben), sondern reformierte die Meßzeremonien und (vielleicht) den kirchlichen Gesang. “Viele Jahrhunderte lang blieb das große Buch, das sein Lebenswerk darstellte, mit einer Kette am Sankt Petrus Altar befestigt” (Pahlen o.J., 36). Ausgerechnet in den nachfolgenden Jahrhunderten der Wirren und Plünderungen Roms hätte sich eine derartige Aufbewahrungsart bewährt?

Der Gregoranische Gesang “ist die einzige sichtbare Musikform Europas während tausend Jahren” (Pahlen o.J., 40).

Philosophiegeschichte (il)

Wenn wir einem groben Schema von O. Neeracher (1967, 5) folgen, dann klafft in der Philosophiegeschichte eine beträchtliche Lücke:

1. – 4. Jh. Augustinus; Neuplatonismus
9. – 12. Jh. Frühscholastik
12. – 13. Jh. Hochscholastik
14. – 15. Jh. Spätscholastik.

Sagen und Geschichte (il)

Wesentliches abendländisches Sagengut ist erst Jahrhunderte nach den jeweiligen Ereignissen niedergeschrieben worden. Das gilt vor allem für die Artus-Sage. Das früheste Buch darüber “wurde im England des frühen 12. Jh. geschrieben, 600 Jahre nach den beschriebenen Ereignissen” (Wood 1982, 54). “Der Name <Camelot> ist die Erfindung eines französischen Autors, der im 12. Jh. schrieb, und deshalb für den Historiker wertlos ist, ausgenommen als Symbol” (ebd., 51). Damit ist wohl Chrétien de Troyes gemeint, der als erster Parzival und den Gral mit König Artus’ Tafelrunde in Verbindung brachte. Er starb um 1190.

Erzählungen über Alfred den Großen, König der Engländer bis 899, erschienen erstmals im frühen 12. Jh. (ebd., 109).

Das Rolandslied, dessen älteste überlieferte Form das altfranzösische Chanson de Roland ist, wurde gegen 1100 in Nordfrankreich aufgeschrieben, über 300 Jahre nach dem historischen Ereignis (778) (lt. Brockhaus). Diese Beispiele sprechen durchaus nicht für eine Beibehaltung der vollen Länge des Mittelalters.

Technikgeschichte (ni)

Für das frühe Mittelalter werden nur wenige Erfindungen gemeldet, die zum Teil in China viel früher gemacht worden sind (die Datierungen sind wohl anhand von Urkunden vorgenommen worden):

9./10. Jh.: Kummet (in China 5. Jh.), Steigbügel, Hufeisen (Klemm 1961, 11)

11./12. Jh.: Heckruder (in China schon im 8. Jh.; Klemm 1961, 13), Gewölbebau: “Die romanische Zeit des 11. Jahrhunderts nahm die antike Wölbetechnik wieder auf und übertrug sie ins Große des Kirchenbaus. Speyer ist hier leuchtendes Beispiel” (ebd., 15). Allerdings wurde nur noch das römische Haustein-, nicht mehr das Gußgewölbe beherrscht.

Das Mittelalter hat uns über viele Alltäglichkeiten im Dunklen gelassen: “Die Kunst liefert uns weder im byzantinischen Osten noch im römischen Westen bedeutsame Beiträge zur Frage der Verbreitung des Steigbügels. Durch das ganze Mittelalter haben die Künstler der gesamten Christenheit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Darstellung der sichtbaren Gegenstände ihrer Umwelt wenig Aufmerksamkeit zugewandt. Für Naturalismus ist in ihrem Bewußtsein wenig Platz gewesen. Sie sind ganz der Darstellung überlieferter, oft vererbt-klassischer Vorbilder von sinnbildlichem Wert ergeben gewesen. Im Ergebnis blieb die bildliche Darstellung immer hinter der Wirklichkeit zurück, und Neues wurde selten in der Kunst wiedergegeben, ehe sein Neuwert sich abgetragen und das Neue sich eingelaufen hatte” (White 1968, 29).

Könnte sich dieser “abgetragene Neuwert” durch die zeitliche Dehnung erklären, könnten die fehlenden Details auf Wissenslücken späterer Fälscher verweisen?

Die dark ages Großbritanniens werden durch eine waffentechnische Beobachtung in Frage gestellt. 1066 griffen die Normannen England an. “Es war ein Zusammenstoß zwischen den Kampfformen des 7. mit denen des 11. Jahrhunderts” (White 1968, 38). Dies muß mehr als verwundern, denn beide Länder trennt nur der Kanal, der bis dahin von immer neuen Einwanderern überwunden worden ist. Unwillkürlich denkt man an die Ilias mit ihren gleichzeitig genannten Waffentechniken, die dennoch nach alter Chronologie 700 Jahre auseinanderliegen.

Wissenschaften (ni)

“Wahrscheinlich hat der Gebrauch von Astrolabien sich im lateinischen Westen durch das ganze Mittelalter hindurch erhalten. Das ergibt sich aus der Unterscheidung der Astrolabien in zwei Familien, eine östlich-mohammedanische und eine westliche, zu der auch die Arbeiten der spanischen Moslim gehören. Die westliche Form ist auf den Tierkreiszeichen aufgebaut und nach dem Julianischen Kalender eingeteilt, der mit den Mondmonaten des Islam nicht zusammenstimmt. Außerdem zeigt die Stundenteilung der “Alidaden” spanischer Moslim entweder Herkunft oder Einflüsse aus dem Christentum. Unzweifelhaft haben die Sarazenen bei der Eroberung des westgotischen Spanien im 8. Jahrhundert westliche Astrolabien vorgefunden und haben später versäumt, sie dem islamischen Mondkalender anzupassen” (White 1968, 99).

Jene Araber, die uns die antike Astronomie in wesentlich verbesserter Form überliefert haben, haben hier also jahrhundertelang ein “Versäumnis” begangen.

Zeitrechnung (il)

Die Einführung der christlichen Zeitrechnung verläuft ausgesprochen merkwürdig. Nach ihrer Definition durch Dionysius Exiguus im Jahre 525 wird sie bereits im 6. Jh. auch von anderen gebraucht; sie soll dann (noch einmal) von Beda Venerabilis (672-735) eingeführt worden sein (Stein 1987), um dann bis ins 10. Jh. zu ruhen. Die Päpste selbst machten ersten Gebrauch von ihr um 970, doch regelmäßigen erst ab 1431.


Wenn nun die Frage gestellt wird, wie es denn wirklich gewesen sei, dann ließe sich als erste Arbeitshypothese mutmaßen:

Die herkömmlichen Jahreszahlen 550 und 1050 scheinen im byzantinischen Reich dicht beisammen zu liegen. Wegen der westlichen Entwicklung ist zu fragen, ob dazwischen noch ein Jahrhundert für die Karolinger ausgespart bleiben muß, oder ob die Karolinger unter anderen Namen ein zweites Mal geführt werden (und damit nach 1050 rangieren)?

Bibliographie:

Brentjes, Burchard / Mnazakanjan, Stepan / Stepanjan, Nona (1982): Kunst des Mittelalters in Armenien; Wien

Christoph, Alfred (1960): Ich sag Dir alles; Gütersloh

Clark, Kenneth (1970): Zivilisation; Reinbek

Hellenkemper Salies, Gisela (1986): Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Mosaiken in der Vorhalle des Markusdoms in Venedig; Freiburg

Klemm, Friedrich (1961): Der Beitrag des Mittelalters zur Entwicklung der abendländischen Technik, Wiesbaden

Kroeschell, Karl (1972): Deutsche Rechtsgeschichte bis 1250; Hamburg

Langewiesche, Marianne (1964): Ravenna – Stadt der Völkerwanderung; Reinbek

Le Goff, Jacques (1984): Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts; Wien

Le Goff, Jacques (1990): Die Geburt des Fegefeuer; München

McNeill, H. Williams (1983): Die großen Epidemien; Bergisch Gladbach

Neeracher, Otto (1967): Florenz; Basel

Pahlen, Kurt (o.J.; ca. 1960): Musikgeschichte; Zürich

Pirenne, Henri (1963): Mahomet und Karl der Große; Frankfurt

Pörtner, Rudolf (1964): Die Erben Roms. Städte und Stätten des deutschen Früh-Mittelalters, Düsseldorf

Propyläen Weltgeschichte (1932): 3. Band: Das Mittelalter bis zum Ausgang der Staufer 400 – 1250; Berlin

Stein, Werner (1987): Der große Kulturfahrplan; München – Berlin

Wachmeier, Günter (1977): Istanbul; Zürich

Weisweiler, Hermann (1981): Das Geheimnis Karls des Großen. Astronomie in Stein: Der Aachener Dom; München

White jr., Lynn (1968): Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft; München

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Zilkens, Iris (1983): Karolingische Kunst; in Aachen und die Eifel. HB-Kunstführer, Hamburg