Auch auf Korsika gingen im Frühmittelalter die Lichter aus
Bekanntlich ist das Lexikon des Mittelalters für Vertreter der Illig-These eine Fundgrube. Weitgehend entstanden bevor die These eine größere Öffentlichkeit erreichte, ist die Sprache des in jeder Hinsicht brauchbaren Nachschlagewerkes noch nicht den neuen Gegebenheiten angepasst. So ist wiederholt ganz naiv von “dunklen Jahrhunderten” oder “dunkler Zeit” die Rede, wenn es um die Fund- und Quellenarmut des Frühmittelalters geht: eine Bezeichnung, mit der Historiker und Archäologen heute vorsichtiger geworden sind.
Ein schönes Beispiel ist der Eintrag über Korsika. Diesem Artikel ist zu entnehmen, dass hier ähnliche Verhältnisse herrschten wie auf Sizilien, dessen erstaunliche frühmittelalterliche Fundarmut Gunnar Heinsohn so nachdrücklich in Erinnerung gebracht hat (Sizilien und seine frühmittelalterliche Fundlücke). Pausenlos wurde Korsika von den Sarazenen angegriffen, jahrhundertelang gegen sie verteidigt. Allerdings ist die Geschichte der Insel “in dieser dunklen Periode fast ausschließlich durch späte, mit Legenden durchsetzte Chroniken bekannt”, was den einen oder anderen vielleicht doch nachdenklich stimmen könnte:
Eine neue Bedrohung erwuchs der Insel durch die Einfälle der Sarazenen, die seit dem frühen 7. Jh. die Mittelmeerküsten verwüsteten (Razzia). In dieser Zeit kehrten auch die Langobarden zurück, die versuchten, Korsika gegen den Ansturm der Muslime zu verteidigen. Über Jahrhunderte war die Geschichte der Insel von blutigen Kämpfen zwischen den Sarazenen und lokalen Herren (wie dem berühmten Grafen Arrigo Bel Messere, † 1000) bestimmt, wobei sich auf christlicher Seite auch auswärtige Mächte beteiligten, die damit Herrschaftsansprüche auf Korsika (oder Teile der Insel) anmeldeten. Die Geschichte Korsikas in dieser dunklen Periode ist fast ausschließlich durch späte, mit Legenden durchsetzte Quellen (Chronik des Giovanni della Grossa, 1388-1464) bekannt.
Arrigo Bel Messere mag übrigens eine zwar in der Erinnerung verklärte, aber doch historisch reale Gestalt gewesen sein. Beim Volk war er sehr beliebt, seine Ermordung wurde als großes Unglück für Korsika erlebt. Ob della Grossa ihn zeitlich richtig eingeordnet hat, soll hier offen bleiben. Ferdinand Gregorovius erzählt in seinem Corsica (ersch. 1854) über Arrigo:
Poggio di Venaco bewahrt die Erinnerung an Arrigo Colonna, welcher im zehnten Jahrhundert Graf Corsica’s gewesen war. Im Vorüberfahren hascht man manches Bild romantischer Sagen auf, und das ist von Wanderfreuden immer ein gutes Teil. Arrigo war so schön von Gestalt und so holdselig von Wesen, daß er Bel-Messere hieß; mit diesem Namen lebt er noch im Munde des Volks. Schön und edel war auch sein Weib, und seine sieben Kinder waren alle lieblich und jung. Aber seine Feinde wollten ihm die Herrschaft rauben, und ein grimmiger Sarde verschwor sich mit ihnen gegen sein Leben. Eines Tags überfielen ihn die Mörder und erstachen ihn, und die sieben Kinder nahmen sie und warfen sie in den kleinen See »der sieben Näpfe.« Wie nun die böse That geschehen war, erhob sich eine Stimme in den Lüften, die klagte und rief: Bel Messere ist todt! armes Corsica, nun hoffe kein Glück mehr! – Alles Volk hob an zu klagen um Bel Messere. Sein Weib aber nahm Schild und Sper, und mit den Vasallen zog sie vor das Schloß Tralavedo, in welches die Mörder sich geflüchtet hatten; das Schloß brannte sie nieder und schlug alle Mörder zu Tod. Heute sieht man noch auf den grünen Hügeln Venaco’s in mancher Nacht neun Geister herumschweifen, das sind die Geister des Bel Messere, seines Weibes und der sieben armen Kinder.